„Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie“.
Der Satz soll auf Ludwig Erhard zurückgehen. Wir wissen nicht, ob und wie oft der zweite Kanzler der Bundesrepublik Deutschland (1963-66) Muße fand, die Zigarre zu löschen und ein Konzert in Fürth, Bonn oder sonstwo aufzusuchen.
Die Jazzpolizei jedenfalls dankt für die gedankliche Vorformatierung und kommt anlässlich der Cologne Jazzweek 2025 zu dem weder neuen noch sonderlich überraschenden Resümee:
„Ein Jazzkonzert ist (wie jedes andere auch) ist zu 50 Prozent Raum“.
Handelt es sich bei einem Konzertraum um eine Kirche, kann der Wert aber auch wesentlich zunehmen. Das trifft auf die Trinitatiskirche in Köln zu, mit ihren 2 Sekunden Nachhall.
Hayden Chisholm, der ex-Kölner Neuseeländer, jetzt in Belgrad beheimatet, hat dort am zweiten Festivaltag ein Doppelprojekt lokalisiert „Checkpoint 50 Cologne“, eine Anspielung u.a. auf sein nun erreichtes Lebensalter.
Da ist einmal ein Quartett mit drei BlechbläserInnen plus Kit Downes (Orgel).
Da ist zum anderen sein neues Quartett Chemical Kinetics mit Achim Kaufmann, p, Petter Eldh, b, Jonas Burgwinkel, dr, plus Chisholm.
Beide Formationen, ursprünglich als getrennte sets geplant, wurden dann doch verschmolzen zu einem 70-minütigen Konzert.
Man findet bei solchen Instrumentalmeistern garantiert Momente des Entzückens, in den geflöteten Altsaxophonpassagen des Leaders, auch wenn er kleine Themen auf einem keyboard doppelt, in Pianoakzenten von Achim Kaufmann oder in sehr reduzierten Grooves von Jonas Burgwinkel.
Von der vollen Entfaltung seiner Kräfte, von „rasendem Tempo“ gar, wie das Programmheft raunt, keine Spur: da ist der Raumklang vor, das Verschwimmen der Stimmen im Kirchenraum. Am besten noch kommen die Bläser damit zurecht, auch die Orgel. Aber was ihnen an Liegeklängen notiert ist, zusammen mit dem oft pausierenden Quartett, es fügte sich nicht zu einem überzeugenden Ganzen, auch nicht zu einer innovativen Note, die man von einem Musiker dieser Güteklasse hätte erwarten dürfen. Es war die falsche Musik für einen schönen Raum.
Ähnlich problematisch, aber aus anderen Gründen, die Aula der Musikhochschule, die alma mater vieler, die heute Jazz-Köln repräsentieren (die Generation der Stadtgarten-Gründer von 1986 ist nicht mehr auf der Cologne Jazzweek präsent).
Da versuchte ein Sextett um den norwegischen Bassisten Ingebrigt Håker Flaten, mit einer aus dem FreeJazz gewonnenen Nonchalance Folk-Themen, binäre riffs und auch swing einzugemeinden. Allein, es mangelte an Präzision, an Ausdruckskraft jenseits lauten Hupens; das Gutgemeinte las sich gut auf Papier, es schepperte im Raum umher.Schnell auf´s Rad und ins Loft, zu drei Feinmechanikern des (improvisierten) Klanges:
Peter Ehwald, ts, gelegentlich auch mit Zirkularatmung, Stefan Schultze am präparierten Flügel und Tom Rainey, dr.
Der Positionseffekt war wohltuend.
Drei Musiker, die einander zuhören, mitunter auch ins Wort fallen wie Rainey, als er mit einer Attacke über die toms das akustische Bühnenbild aufreisst - ohne dass die anderen sofort mitspringen. Eine wunderbare Dynamiküberlagerung.
Die Jazzpolizei konnte nur einen prägenden Eindruck mitnehmen, nicht das ganze Konzert, es rief der nächste Raum. Und es stand zu erwarten, dass er bis auf den letzten Platz gefüllt sein würde: der Stadtgarten Köln für eine erneute Performance von Kneebody.
Seit knapp 25 Jahren existiert die Jazzrock-Band, seit 2019 als Quartett, in dem die Rhythmusgruppe sich in einer Person vereint, in Nate Wood.
2019 waren sie erstmals in dieser Formation im Stadtgarten. Seitdem ist seine Kompetenz in dieser Rolle (die man normalerweise als Zirkusnummer erwarten würde) deutlich gewachsen. Man muss das Paradox sehen, um zu begreifen, wie in einer so forcierten Rock- und Funk-Rhythmik die Funktionen von vier Extremitäten von einer Person exekutiert werden können.
Wood bedient nach wie vor eine Baßgitarre, die - trotz der aufgemalten Zahl „four“ - fünf Saiten hat. Sie sind so gespannt, dass er mit der linken Hand die Saiten drückt (tapping) inklusive Lagewechseln, vibrato und glissandi. Der Sound ist heute mehr als damals von einem Ringmodulator durchmischt.
Mit der rechten spielt er snare, toms und hihat; mitunter verfügt er auch beide Spielhände auf die Saiten.
Shane Endsley, tp, und Ben Wendel, ts, dürften nach den Brecker Brothers die tighteste Bläsersektion des Genres sein. Adam Benjamin, hauptsächlich am Fender Rhodes Electric Piano, hat dort einen Sound, an dessen Bestandteilen auch die Stadtgarten-Technik rätselt, ein Stilist zweifelsfrei.
Das Programm während umjubelter 90 Minuten, weitgehend aus dem neuen Album „Reach“, enthielt nichts prinzipiell Neues. Es zeigte sich eine Band, die alles kann, was sie will, vollständig im Einklang von Absicht & Ausführung.
Ein Fanfaren-Geschoss wie „Drum Battle“ (2014), es erklingt nirgendwo sonst.
24 Stunden zuvor, am selben Ort, ein noch mal leicht erhöhter Begeisterungspegel (zwei standing ovations) für die ganz anderen Grooves des Tyshawn Sorey Trios.
Durchaus auch binär, wie bei Kneebody, viel broken swing, gar kein uptempo swing - was für ein so traditionell Jazz-nahes Trio wie dieses nahe läge.
Das Vorecho dieses Trios vom Vortag bei der Ruhrtriennale in Bochum, überbracht von einem WDR-Kollegen, war kräftig, der Eindruck von den beiden Liederabenden des Komponisten Sorey dortselbst, u.a. mit viel Gotteslob, sehr zwiespältig.
Im Stadtgarten also sitzt der Vielgelobte am drumset. Es ist, wie so oft bei Europa durchquerenden US—Drummern, nicht das eigene, sondern das des Hauses. Inklusive - und das ist ungewöhnlich - des ride cymbals. Sorey hat es sich aus dem Stadtgarten-Fundus ausgesucht; er nutzt es nicht nolens volens, sondern dezidiert (er hätte auch ein anderes wählen können).
Es ist ein Becken mit reichlich crash-Anteilen - eine Klangeigenschaft, die vielleicht zu deutlich von der Vorliebe ihres Benutzers kündet, sehr oft Akzente zu setzen, selbstverständlich offbeat im weitesten Sinne.Sein Gegenüber folgt ihm subito, und liefert seinerseits immer wieder gerne Anlässe zu Akzentsetzungen.
Er ist die eigentliche Augen- und Ohrenweide dieses Trios: der Pianist Aaron Diehl.
In wenigen Tagen wird er vierzig; er hat u.a. die Piano-Etüden von Philip Glass interpretiert.
Nicht dass er davon irgendetwas zitierte, aber er hat ein wortwörtlich ausgereiftes Händchen für rhythm & time, insbesondere für Repetitionen, sprich: vamps.
In der Improvisationstypologie der Weimar Jazz Database wären seine Anteile in der Kategorie „lines“ minimal (Achtung: das ist Deskription und nicht Wertung), hoch aber unter „rhythm“, „licks“ und „melody“.
Aaron Diehl erschien der Jazzpolizei in dieser Hinsicht (mit anderen Resultaten) als ein Verwandter von Jacky Terrasson, auch der ein überbordendes rhythmisches Talent. Noch dazu, und jetzt sind wir wieder bei Diehl, mit einem phänomenalen Bewußtsein für Stuktur. Diehl steigert die Spannung, indem er eine Phrase wiederholt und wiederholt, leicht abwandelt - und plötzlich eine Drehung quasi um 180 Grad: der letzte Ton eines vamp ist der Start für einen neuen. Oder für eine melody.
Die Jazzpolizei würde ihn gerne mit einem Drummer hören, der ihm mit größerem Arsenal folgen & herausfordern würde. Das ist, zugegeben, ein Wunsch auf höchstem Niveau.
You know what I mean.
Fotos: Gerhard Richter (Chisholm, Ehwald, Sorey, Diehl)
erstellt: 01.09.25
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