[re]visiting Moers Festival
Kerstin Eckstein, Kathrin Leneke (Hg)
Ein Buch der Moers Kultur GmbH
232 Seiten, Fotos, 24.00 Euro
Verlag Wolke, Hofheim, 2021
Boah, diese 232 Seiten wiegen schwer!
(Das dürfte gut & gerne ein 150 Gramm plus Papier sein).
Der Lesearm sackt herab wie bei einem repräsentativen Kochbuch. Wer den Band öffnet, muss unwillkürlich an Frank Zappa denken. Und ihn abwandeln: „Moers is not dead, it just smells funny“.
„ [re]visiting Moers Festival“ wiegt nicht nur schwer, er ist auch von eigenwilligem Design. Bibliothekare werden den Band nicht schätzen, sie finden keinen Platz zum Aufkleben der Signatur: statt eines Rückens gibt er den Blick auf die Fadenheftung frei („so sehen bei uns die Bücher aus, wenn sie kaputt sind“, erheitert man sich in einer großen Kölner Bibliothek).
Und, der Band hat einen sehr spezfischen Geruch. Man tut gut daran, nach der Lektüre zu lüften.
Zur olfaktorischen gesellt sich beim schwergängigen Durchblättern eine visuelle Anmutung: vintage!
Der Band erscheint zum 50. Festival. Von 1972 bis 1982 fanden sie draußen statt, die meisten aber drinnen (in der Eissporthalle, 1983-86), in einem Zirkuszelt (1987-2013), in der renovierten Festivalhalle (ab 2014).
Auf dem Cover vier Automobile aus Wolfsburg (drei Käfer, ein Bus), halb versteckt ein R4, vorne - angeschnitten - ein Opel (?). In der oberen Bildhälfte, hinter einem Zaun, eine große Menschenmenge, nicht ganz eindeutig ausgerichtet, es könnte sich um die Aufnahme aus einer Pause handeln. Die Assoziation ist klar: Woodstock. Am Niederrhein. Verdammt lang her.
Schon klar, wenn ein Jazzfestival zum fünfzigsten Male stattfindet (und demzufolge 49 wird, ein Zahlenmodus-
konflikt nicht nur in Moers), dann sollte man nicht erwarten, dass eine Historiker-Kommission sich darüber beugt.
Dann sollte man feiern, dann sollte man es krachen lassen, dann darf auch die alte Nullaussage (der Satz, in dem vorkommt „nicht in den kühnsten Träumen…“) wieder ihr Köpfchen zeigen.
Feiern soll man, weil das Irrwitzige gelungen ist, fünf Jahrzehnte lang eine Veranstaltung gegen große Teile der Stadtgesellschaft zu behaupten. An einem Ort, der sich zwar „Drehscheibe am linken Niederrhein“ nennt, wo aber ein paar Hundert Fremde sogleich auffallen.
An einem Ort, der das neue Jazzmodewort „Diaspora“ redlich verdient hat; wer hatte 1972 allen Ernstes Moers auf der Karte? Wuppertal, ja da hätte man in diesem Zeitraum ein New Jazz Festival, wie es eingangs hieß, am ehesten erwartet; den größten Resonanzraum hatten „sounds like Whoopataal“ denn auch gar nicht im Tal, sondern über lange Jahre in der Grafenstadt gegenüber Duisburg.
Die beiden Wuppertaler Hauptmatadore, Peter Brötzmann, 80, und Peter Kowald (1944-2002), kommen auf je 12 Seiten vor. Die meisten Nennungen hat Festivalgründer Burkhard Hennen (39), der 2006 an Reiner Michalke übergab, er wird auf 7 Seiten genannt. Tim Isfort, der 2017 folgt, bringt es auf 5 Nennungen.
„Nach der 4. oder 5. Ausgabe“, schreibt Peter Brötzmann, „war die Wuppertaler Allianz von Kowald und mir dann draußen vor der Tür. Es ging plötzlich nicht mehr nur darum, Geld zu verteilen, sondern auch Geld zu verdienen.“
Brötzmann´s Text gehört zu einer Sammlung von 54 „visits“, das sind Festival-Erinne-
rungen von Fans, Mitarbeitern, Musikern und Musikerinnen, von einem kurzen Gruß bis zu den klugen Worten von George Lewis:
„Nach Moers war ich nicht mehr ganz derselbe. Es war gewissermaßen der Schauplatz für ein zweites Erwachsen-
werden. Durch meine Begegnung mit dem Festival, der Stadt und den Menschen lernte ich etwas über Deutschland und die deutsche Sprache, über Europa und sogar Amerika. Diese Lektionen hallen schon mein ganzes Leben lang nach. Das ist für ein Musikfestival schon nicht übel!“
1976 taucht der Posaunist zum ersten Male in Moers auf, an der Seite von Anthony Braxton, und er spricht obendrein auch noch Deutsch! 45 Jahre später formuliert er seine Moers-Erinnerungen an einer internationalen Elite-Institution, am Wissenschaftskolleg in Berlin.
In seinem Text klingt - am Rande und in subtiler Form - ein klein wenig auch von dem politisch-moralischen Ton an, der das Buch durchzieht. An manchen Stellen durchaus penetrant.
Zum Beispiel, wenn die beiden Herausgeberinnen behaupten, das Moers Festival habe von Beginn an als „Großes (Sozial)Experiment“ verstanden werden wollen.
Schon in Brötzmann´s kurzer Einlassung findet sich ein Satz, der gar nicht dazu passen will: „Die Musik trat in den Hintergrund, das Festival verkam zum Entertainment“.
Egal, Eckstein & Leneke pflegen das szenetypische Narrativ vom „Sich dem Mainstream Verweigern“. Die Parole ist nicht in der Lage, die Motivationen hinter den vielen, vielen kreativen Leistungen zu erfassen, die wechselnden Stile, Moden und Konzeptionen, die dieses Festival protegiert hat.
„Sich dem Mainstream Veweigern“ ist ein geradezu kurioser Gedanke für Gattungen, die niemals Gefahr laufen werden, in irgendeinem Mainstream aufzugehen.
Gipfelpunkt der vulgär-politischen Überlegungen ist ein Essay, mit dem Berthold Seliger seine flammende Rede vom letzten Festival nun noch einmal schriftlich nachreicht. Er liest sich wie der Versuch, Moers irgendwie noch Anschluß an den Zeitgeist der 68er zu gewähren. Auch hier eine völlige Überschätzung der Musik und der Absichten der Musiker.
Der „Mainstream Verweigern“-Gedanke begegnet uns hier denn auch in seiner originalen Form:
„Ist es uns immer noch und immer wieder wichtig, dass kulturelle Einrichtungen und Ereignisse jenseits des herrschenden Mainstreams (der ja auch der Mainstream der Herrschenden ist) und jenseits der Konsens-Hochkultur existieren?“
Die Herrschenden jedenfalls ließen es sich nicht nehmen, zum Festivaljubiläum zwei Bundes-Ministerinnen mit Grußbotschaften zu delegieren, von den namhaften Zuschüssen, die seit Jahren von Düsseldorf und Berlin an den Niederrhein fließen, ganz zu schweigen.
Statt den „ungebrochene Glaube(n) an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt, nicht zuletzt auch mit ästhetischen Mitteln“ (Seliger) zu propagieren, hätte dem Band ein größeres Maß an Deskription gut getan.
Wie haben sich die musikalischen Stile in bald fünfzig Jahren gewandelt?
Was hat es gebracht, das Etikett New Jazz fallen zu lassen? Wie unterscheiden sich die Konzeptionen der drei Festivalmacher? Gibt es noch etwas Gemeinsames? Muss es das überhaupt geben?
Ja, solchen Überlegungen nachzugehen macht Arbeit. Die beiden Herausgeberinnen würden den Ertrag vermutlich als „Faktenwissen“ brandmarken.
Sie bevorzugen eine launige, zugeben: bisweilen unterhaltsame Chronik.
Sie illustrieren den Zeitstrahl von fünfzig Moers-Festivals mit privaten, aber auch mit Geschehnissen aus der Zeitgeschichte.
So lesen wir beispielsweise:
„Am 30. April 1975 endet der Vietnamkrieg“.
Oder 1974: „Eine Woche vor Eröffnung des dritten Moerser Internationalen New Jazz Festival stirbt Duke Ellington“.
Was hat das mit Moers zu tun? Steckt dahinter wieder der alte Irrglaube, JazzmusikerInnen in ihrer Zeitgenossenschaft nähmen alles in sich auf und gäben es irjenswie wieder?
Absurd ist dieser Eintrag, 1997:
„Am Samstag, den 17. Mai um 20 Uhr steigen vom Feld an der Eissporthalle zehn mit je zwei Musiker:innen bemannte Heißluftballons des Ensembles Farce de Froppe, deren Namen auf die Atomstreitmacht der französischen Streitkräfte Force de frappe anspielt, in den Himmel. In der Luft improvisieren sie zu den Lügengeschichten des griechischen Dichters Lukian. Die gemischten Tonsignale der einzelnen Ballons werden live auf WDR 3 und ins Festivalzelt übertragen“.
In diesem Falle kennt das Moers Festival seine eigene Geschichte nicht.
Die Ballonfahrt hat wegen einer Gewitterwarnung gar nicht stattgefunden; das Projekt wurde auf der Bühne des Festivalzeltes inszeniert. Gibt es niemanden (mehr) in der Moers Kultur GmbH, dem das aufgefallen ist?
„Re:Visiting Moers Festival“; vielleicht noch prägender als die Texte ist die optische Gestaltung: viele Fotos.
Vielfach outdoor - obwohl das Festival die meisten Jahre indoor war - signalisieren sie den kleinsten gemeinsamen Nenner von neugierigen Passanten und Festivalbesuchern: Woodstock am Niederrhein.
erstellt: 02.06.21
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