STUART NICHOLSON
Is Jazz dead?
(Or has it moved to a new address)

270 S., Routledge, New York London, 2005
ISBN 00-415-97583-2
ca. 24.90 € im deutschen Buchhandel

Wer das Vorecho dieses Buches vernommen hat, konnte vermuten, dass die Hauptsache nicht sehr lange auf sich warten liesse. Das Vorecho: ein an günstigster Stelle, in der New York Times plazierter Artikel im Juni 2001, in dem den Amerikanern erstmals nahelegt wird, die Zukunft des Jazz (ihr "einzige klassische Musik", wie sie gerne tituliert wird) liege nicht weiter in ihren, sondern in europäischen Händen, namentlich in norwegischen.
Autor seinerzeit wie jetzt: der Journalist
Stuart Nicholson aus Berkshire/England.
Wenig später, 2003 auf der
Europe Jazz Odyssey, wurde mit seinem Pamphlet schon lustig Kulturpolitik gemacht; der Titel erschien bereits (fast) in der Form, in der er jetzt auf einem Buchumschlag zu lesen ist, "Jazz is not dead - it has just moved to Europe."
Es störte die seinerzeit im Kölner Stadtgarten versammelten Jazzfunktionäre nicht, dass Nicholson´s These auf
wachsweichen Belegen fusst, gruppiert um ein Zitat von Bugge Wesseltoft, er, der Onkel Bugge, habe seit 20 Jahren keinen interessanten Jazz mehr aus den USA gehört.
Wesseltoft nun kommt ausführlich - aber nicht mit der damaligen Aussage - im Buch zu Wort, als einer von über 100 Gesprächspartnern, mit denen Nicholson über Jahre hinweg in Kontakt stand. Ohnehin ist der Buchtitel insofern irreführend, als nur knapp die Hälfte der Seiten der neuen Heimat gelten, die der Jazz gefunden haben soll.
Zunächst beschäftigt Nicholson sich mit den Fliessrichtungen des Mainstream, dem "Wynton Marsalis Phänomen" und in einem Extra-Kapitel auch mit "Jazz at Lincoln Center", dann dem neuen Sänger/innen-Boom sowie der "Jazz-Education".
Frank Zappa im übrigen, bei dem er sich mittels paraphrasierter Titelzeile bedient, taucht überhaupt nicht auf. Hauptsächlich geht es Nicholson darum, den Prozess der Globalisierung in seiner jetzigen Form der Glocalisierung auszumalen. Der Begriff setzt sich aus "global" und "local" zusammen, als Analogie dient ihm die Verbreitung der englischen Sprache. "So wie der Gebrauch der englischen Sprache in der ganzen Welt nicht immer den Regeln von Grammatik und Syntax der Briten und Amerikaner folgt - wie z.B. das ´Singlish´ in Singapur - haben sich Stile des Jazz ausserhalb der Vereinigten Staaten entwickelt, die nicht unbedingt den Wegen folgen, wie Jazz in den Vereinigten Staaten gespielt wird."
Wie so viele Analogien leuchtet diese zunächst ein - entfaltet aber peu á peu ihre Tücken. Und wer den Band zugeklappt hat, wird sie als rundheraus
falsch bezeichnen wollen: denn genau so, wie Nicholson in seiner ausführlich herbeigeholten Analogie die Färbungen des Amerikanischen in Amerika übersieht, behandelt er den amerikanischen Jazz als monolithischen Block - die geradezu schreiend notwendige Grob-Differenzierung in eine mehr und in eine weniger afro-amerikanische Ästhetik will ihm nicht einfallen.
So holt er zahlreiche Belege aus Amerika für "Future Jazz" heran (darunter fährt er in einen ausführlichen Kapitel alles um DJs, sampling & programming auf) - aber als Gegengewicht zu den zahlreichen neuen Früchten in Europa fallen sie ihm nicht auf.
Apropos Europa; als Brite kennt Stuart Nicholson in der Heimat sich aus, in Holland auch, dem "nordischen Ton" ist er ein ganzes Kapitel, 28 Seiten lang, verfallen, die Glocalisierung dort wird von ihm regelrecht "gefeiert".
Ein bisschen hat er aus Polen und Ungarn gehört, zu wenig aus Italien und Frankreich, noch weniger aus Deutschland, und Österreich ist ihm eine
terra incognita. Ein so schwach belichtetes Plädoyer für den Europäischen Jazz ist auch aus europäischer Sicht wenig wert; dass amerikanische Stimmen - wie z.B. der Pianist George Colligan - vor Ablehnung geradezu schäumen...verständlich.
Zuviele Künstler fallen durch Nicholson´s Rost. Ein Mann wie
Uri Caine, eine Gruppe wie Oregon, die in Amerika "europäisch" denken und spielen - sie sind mit Nicholson einfach nicht erklärbar.
Dabei ist die Lektüre seines Buches keinswegs nutzlos, zu vielen Themen hat er etliches zusammengetragen. Aber, es bleibt eine Zettelkasten- (oder moderner gesprochen: eine
filemaker)-Arbeit. Nicholson ist kritisch dort, wo der Gratismut wächst (im Hinblick auf Personen wie Wynton Marsalis oder Ken Burns), ansonsten nimmt er Intentionen von Musikern für klingende Münze; der mitunter haarsträubende Unsinn, der mit den neuen Technologien erzeugt wurde, fällt ihm nicht auf; Fragen, wie die gleichmacherische Technik des Sampling mit dem Individualismuskult des Jazz sich verträgt, geht er nicht nach - Stuart Nicholson ist ästhetisches Denken unvertraut, er ist kein Essayist, kein Meisterdenker.
Und einen solchen bräuchte es schon, um den Amerikanern ihre schöne Musik aus der Hand zu schlagen.

erstellt: 01.03.06
© Michael Rüsenberg, 2006, Alle Rechte vorbehalten