DANIEL MARTIN FEIGE
Philosophie des Jazz
Berlin 2014, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2096
142 Seiten, 14 Euro
ISBN 978-3-518-29696-7

Dieses Buch ist ein Segen für unsere kleine Welt, jedenfalls ihren deutschsprachigen Teil. Der große anglo-amerikanische Rest debattiert längst über eine Philosophie des Jazz, Feige ist mit deren Verläufen wohlvertraut. Er stellt Anschlüsse her zu Lee B. Brown, Garry Hagberg, Andrew Kania, sowie zu den Großen der analytischen Musikphilosophie (Peter Kivy, Jerrold Levinson).
Über Albrecht Wellmer, Hans-Georg Gadamer und Ludwig Wittgenstein greift er aber auch zurück bis Hegel, denn über weite Strecken erklingt bei ihm eben nicht nur Jazz, sondern auch die abendländische Tradition, notwendigerweise:
„Man kann über den Jazz nicht nachdenken, ohne zugleich kontrastiv über andere Arten von Musik und hier vor allem die Tradition der europäischen Kunstmusik nachzudenken“ (17).
Und im Schlusskapitel schießt er dann noch eine Leuchtrakete in den Himmel der Kunsttheorie schlechthin:
„Jazz macht nicht nur etwas explizit, was in der Tradition europäischer Kunstmusik implizit bleibt, sondern Jazz macht vielmehr etwas explizit, was für Kunst als solche wesentlich ist.“
Alle mal Herhören, also.
Klar, das Imperium schlägt zurück. Der Karl Popper-Spezialist (und offenbar Big Band Fan) Willy Hochkeppel findet die in diesem „gewichtig auftretenden und sperrig geschriebenen Bändchen“ dargebotenen Gedanken „nicht eben originär“ (SZ vom 4.6.2014).
Schon möglich, dass das Land der Dichter und Denker keinen Wimpernschlag für Daniel Martin Feige erübrigt und seine Bemühungen, wie Josef Früchtl in der FAZ oder Hochkeppel, als „philosophisch irrelevant“ abtut. Immerhin tritt der SZ-Kritiker den Band nicht vollständig in die Tonne, sondern vermag darin immerhin einen „ansonsten aber achtenswerten Versuch“ zu erkennen, „dem Wesen des Jazz auf den Grund zu kommen“.
Und eben das ist der Strohalm, den wir dankbar ergreifen sollten.
Denn auf diesem Sektor herrscht hierzulande eklatanter Nachholbedarf. Der deutsche Jazzdiskurs liegt nach dem Ableben von Peter Niklas Wilson (2003) danieder, er wird beherrscht von Grobschnitzerei und die tagesaktuelle Publizistik von einer Kellnermentalität, die den Produktivkräften der Szene jeden Ton und jedes Wort als bare Münze abkauft.
Sicher, Wilson spielte in einer anderen Liga, er verfolgte ästhetisch eine eigene Agenda, wertete, versuchte Trends zu setzen. Dies aber auf einem Niveau, das als umsichtig und intellektuell eindrucksvoll gelten konnte.
Wohingegen Feige keinerlei ästhetische Präferenzen zu erkennen gibt. Sie wären seinem Projekt auch wenig zuträglich, ihm geht es um das große Ganze, um Jazz schlechthin, ohne Abspaltung in divergierende Stile und Spielformen. Dabei sind ihm diese jederzeit präsent. In seinem Falle verfängt nämlich nicht der ewige Vorwurf an die Musikphilosophie, sie betreibe in erster Linie Philosophie und vernachlässige ihren Gegenstand.
Feige benennt Eigenheiten von Django Bates, John Zorn, Peter Brötzmann, selbst Helge Schneider und Hiromi entgehen ihm nicht, Herbie Hancock weist er nach, dass er die Phrase, die er bei 3:34 in seiner Interpretation von Peter Gabriel´s „Mercy Street“ beginnt, abbricht, weil er „sich hier verspielt und den Ton nicht richtig trifft“ (80).
buchcover-feigeDaniel Martin Feige, 38, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 626 („Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“) an der FU Berlin; er habe, schreibt er, vor der akademischen Philosophie ein Leben als professioneller Jazzpianist geführt. Auch wenn er bundesweit damit kaum Aufsehen erregt hat, dürfte der Sachbezug seiner Überlegungen gerade dieser Praxis geschuldet sein.
Seine „Philosophie des Jazz“, betont er, „konkurriert gar nicht mit musikwissenschaftlichen, soziologischen und kulturgeschichtlichen Analysen des Jazz“ (11).
Ihm geht es um Anderes & Mehr, nämlich darum, „welche Aussagen über den Jazz wahr sind“ (12). Und der Tagespublizistik könnte der folgende Satz ins Betriebssystem geschrieben sein: „...der Verweis auf Meinungen von Produzenten oder Rezipienten hat nicht prinzipiell schon eine Autorität, da deren Meinungen auch unbegründet oder einseitig sein könnten oder bloß Ausdruck subjektiver Vorlieben“ (12).
Die Bemerkung zu Herbie Hancock übrigens fällt in einem längeren Abschnitt über Standards (Seite 70 ff) - er zählt zum Besten, was je in deutscher Sprache zu dieser Art der Jazzpraxis gesagt worden ist.
Vieles darin, vieles im gesamten Band ist bekannt, vertraut, hat man so oder ähnlich schon geahnt, ohne es in dieser Prägnanz und Begründungsreife formuliert haben zu können.

Kritische Selbstvergewisserung
Insoweit trifft die Kritik von Hochkeppel („nicht eben originär“) durchaus, wie übrigens auch der Vorwurf „sperrig geschrieben“. Feige argumentiert in der Tat raumgreifend, schließt langatmig aus, was er nicht meint, bevor er zu dem kommt, was er positiv aussagen will: der Band ist - kurz gesagt - arg redundant.
Diese Einwände aber - um Hochkeppel mal umzudrehen - sind ihrerseits „irrelevant“. Der Wert dieses Buches liegt ganz woanders, nämlich in seiner Eigenschaft als deutschsprachige Premiere. Das Buch dient einer kritischen Selbstvergewisserung, seine Erkenntnisse sollten bis in die finstersten Ecken unserer kleinen Welt gleissen, um den Humbug auszutrocknen, der uns tagtäglich die Zeit stiehlt.
Etwa der Quatsch von den musikalischen Persönlichkeiten, die miteinander ein Gespräch führen. Ein Gespräch, ja, sagt Feige unter Bezug auf Gadamer, aber „ein Gespräch führt man nicht so sehr, als dass man von dem Gespräch geführt wird“ (119).

Die zentrale These
Dass Jazz etwas Spezifisches zu bieten hat, etwas, was in anderen Gattungen nicht oder nicht so ausgeprägt vorhanden ist, leugnet der Autor keineswegs. Im Gegenteil, es ist seine zentrale These, die er oftmals wiederholt:
„Im Jazz kommt ein Moment musikalischer Praxis explizit zum Ausdruck, das für die Tradition europäischer Kunstmusik in implizierter Weise ebenfalls bestimmend ist“ (123).
Was meint er damit?
Der Jazz lebt von einer Praxis, stellt sie aus, die in der europäischen Kunstmusik gleichfalls vorhanden, aber eher versteckt wirkt, ihr also implizit ist.
In Feige´s Worten: „Jazz...ist die Vermittlung von Individuellem und Kollektivem in Form eines interaktionistischen Aufgreifens von Traditionen in actu. In der europäischen Kunstmusik geschieht das eher in impliziter Weise“ (123).
In letzterer besteht „das Werk“ eben nicht in der Partitur, die auch noch in „Werktreue“ ausgeführt werden sollte, sondern in einem nie abgeschlossenen Prozess des immer wieder neu Aushandelns, wie es am Instrument umzusetzen sei, in einem nie endenden Strom der Interpretationen (Feige spricht hier freilich immer von „Performances“).
Würde man eine Partitur so umsetzen, wie sie sich in den Noten präsentiert - darauf hat der englische Musikologe Nicolas Cook hingewiesen (der bei Feige nicht vorkommt) - sie klänge nach nichts; Interpretieren sei also auch dort ein Aushandeln in actu, im Moment und beim nächsten Male anders, auch einem Streichquartett sei ein Element des Improvisierens zu eigen - Improvisation und Komposition sind nicht prinzipiell, sondern graduell verschieden.
Selbstverständlich sind die Freiheitsgrade in beiden Lagern unterschiedlich, da die „Performance“ immer an den Notentext sich rückkoppeln muss.

Standards
Wohingegen im Jazz, z.B. Standards „nur scheinbar mit musikalischen Werken vergleichbar“ (70) seien, sodaß Feige wenig später anhand fünf verschiedener Argumente zeigt, dass es sich bei „Leadsheets“ (die den Notentext von Standards darstellen, Anmerkg. Jazzcity) „keineswegs um Partituren handelt“ (71).
Denn: „Nichts an der harmonischen und melodischen Struktur eines Standards ist sakrosankt“ (74), vulgo: alles kann verändert werden.
Und: „Was es demgegenüber heißen würde, einem Standard nicht gerecht zu werden, ist weitaus weniger klar“ (80).
Ein Grund dafür ist die prekäre Wertigkeit einer Improvisation, denn „jede Improvisation handelt auch die Kriterien dessen, was es heißt, eine gelungene Performance zu sein, mit sich selbst aus“ (81).
Wie gesagt, die ausführlichen Überlegungen Feige´s zu diesem Komplex sollten - egal ob sie nun philosophisch Großes Kino sind oder nicht - zur Pflichtlektüre eines jeden werden, der zum Jazz öffentlich das Wort erhebt.
Leider lässt Feige einen Hinweis darauf vermissen, dass die Große Freiheit des Improvisierenden im Falle von Standards materiell ihm gar nichts einträgt: er kann eine Vorlage noch so sehr nach seinem Gutdünken wässern, gegen den Strich bürsten, damit sogar zu historischer Form auflaufen - die Regeln des Urheberrechts schreiben vor, dass nicht er seinen Namen als Bearbeiter einsetzen darf, sondern brav und immer noch Gershwin, Monk, Bacharach oder welcher Autor auch immer der GEMA gemeldet werden muss.
Schade, dass Feige, den swing (den er durchgängig Swing schreibt) meist onkelhaft erklärt als „Gleichzeitigkeit von Anspannung und Entspannung“; dass er Ergebnisse aus der Hirnforschung bezüglich Jazz nicht berücksichtigt (etwa die Studie von Limb & Braun, 2008), obwohl er mit dem Satz, „dass Improvisation eine Fähigkeit meint, die komplexe Formen der Einübung voraussetzt“ (103) schon ganz nahe dran ist und auch ansonsten die Mehrheitsposition der gegenwärtigen Philosophie teilt, das Hören von Musik keineswegs ausschließlich auf der „Stufe biologischer oder neurophysiologischer Forschungen“ beschreibbar zu machen.

Jazzperformance als gelingende Lebensführung
Der größte Schrecken freilich, den uns Willy Hochkeppel mit einem Zitat einjagt:
„Gelingende Jazzperformances sind ästhetische Miniaturen einer gelingenden Lebensführung überhaupt“ (120), womit Daniel Martin Feige im mulmigen Lager der deutschen Wiederspiegelungstheoretiker zu finden wäre (ganz nahe bei den Grobschnitzern) - dieser Schrecken verflüchtigt sich doch bei Lektüre des gesamten Kontext über Performance als „Gespräch“.
Hier folgt Feige ausdrücklich Überlegungen seines Lehrers Martin Seel („Versuch über die Form des Glücks“, 1995) und verlässt den Rahmen analytischer Ausführungen.
Das tut er selten, das sollte man ihm nachsehen und ihn nicht in einer falschen Ecke wähnen.
Denn Daniel Martin Feige hat dem Jazz in Deutschland endlich das intellektuelle Forum bereitet, das viele Außenstehende immer schon dort vermuteten. Tatsächlich war dort Wüste - jetzt immerhin erkennen wir eine Oase.

erstellt: 18.07.14
©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten