MARCUS O´DAIR
Different every Time
The authorised Biography of Robert Wyatt

460 S, zahlr. Abb, Serpent´s Tail, London, 2014
geb. Ausgabe, ca 26.10 Euro, eBook 22.39 €

Taschenbuch-Ausgabe im September 2014 


Eberhard Weber und Robert Wyatt eint wenig: sie spielen nicht das gleiche Instrument, sie sind nicht im gleichen Stil unterwegs, von beiden wäre Weber noch am ehesten als „der Jazzmusiker“ zu bezeichnen.
Was sie eint: beider Karrieren sind durch ein Vorher/Nachher gekennzeichnet, eine Zäsur durch Schicksalsschlag:
bei Weber ein Schlaganfall im Alter von 67 - das Ende seiner Karriere; bei Wyatt eine Querschnittlähmung in Folge eines Unfalles, schon mit 28 Jahren - und keineswegs das Ende seiner Karriere.
Obgleich sie danach noch Jahrzehnte währt, teilt Marcus O´Dair seine Biographie ziemlich genau in zwei Hälften. Er nennt sie - analog zu einer LP - „Seite 1“ und „Seite 2“, und aus deren Untertitel geht klar hervor, was sie bezeichnen.
Seite 1 heißt „The Drummer biped“ - also der zweifüßige Schlagzeuger. Seite 1 schließt mit Robert Wyatt´s Unfall am 1. Juni 1973, wo er bei einer Party aus einem Fenster im vierten Stock  fällt.
Seltsamerweise verzichtet das Buch vollständig auf die Umstände dieses Dramas, ja nennt nicht einmal das Datum, wohl aber den medizinischen Tatbestand, nämlich einen Bruch des 12. Wirbels: Robert Wyatt ist seitdem von der Hüfte abwärts querschnittgelähmt und an den Rollstuhl gebunden.
Zu diesem Zeitpunkt ist er längst ein anerkannter Künstler: er war bei Soft Machine an der Spitze der Jazzrock-Entwicklung (und leidet noch Jahre später an dem Rausschmiss aus dieser Band), er hat gerade seine eigene Gruppe Matching Mole gegründet - aber innerlich ist er unstet und voller Selbstzweifel:
cover wyatt buch


Ich hatte musikalisch immer ein Problem, das geht zurück bis in die Schultage, in die Zeit der Wild Flowers, nämlich: ich hatte immer mit zwei Arten von Musikern zu tun.

Die einen interessierten sich für Improvisation als Prozess, die anderen gar nicht. Und ich habe beiden gegenüber jeweils den Advokaten des Teufels gegeben. Also, ich rede über Cecil Taylor mit Dave Sinclair und nehme die genau entgegengesetzte Haltung gegenüber Jazzmusikern ein.
(S. 174)
Zu Zweifeln an seiner musikalischen Identität treten solche sozialer Art:
Es gibt zwei Dinge, die ich nicht sehr gut kann. Erstens: in der Band von jemand anders zu spielen, zweitens: eine eigene Band zu leiten.
Ich konnte nicht für jemand anders arbeiten, und ich fühlte mich unwohl, wenn andere für mich arbeiten. Ich war vollständig blockiert.
(S. 177)




„Seite 2“, also die zweite Buchhälfte, beginnt 1974 mit Wyatt´s zweiter Ehe, mit Alfreda Benge, mit der er auch heute noch verheiratet ist, und mit einem Benefiz-Konzert von Pink Floyd, das 10.000 Pfund für ihren behinderten Freund einbringt.
Diesen harten Schicksalsschlag durch Querschnittslähmung akzeptiert Wyatt fortan als Stunde null, er löst - so absurd das klingen mag - einige seiner ästhetischen Probleme:
Plötzlich die große Freiheit mit meinen Stücken, ich muss sie nicht mehr einer Band vorstellen und überlegen: ´Was macht der Bassist damit? Was der Pianist?´Ich konnte es selbst erledigen.
Für mich war dies ein großer Durchbruch nach all den Jahren, die Dinge hinzubiegen - aber immer nur aus der Perspektive des Drummers, ohne Kontrolle der Harmonien, der Melodien, der Soli, alles.
Wie sollte irgend jemand das spielen, was ich im Kopf habe?
Ich musste es selbst machen. (S. 191)
In der Folge forciert Robert Wyatt seinen Gesangsstil (mit dem er den anderen Soft Machineisten auf die Nerven gegangen war), ein brüchiger, hoher Tenor, der ihn unverwechselbar macht, zunächst mit ein paar Oldies („I´m a Believer“, „Yesterday Man“, „At last I am free“), denen er alles Hitparaden-Talmi austreibt.
Er lernt, noch mehr das einzusetzen, was er mit den Händen bedienen kann: Piano, percussion, später auch Kornett - aber auch wiederum „brüchig“ gespielt.
Robert Wyatt ist, wie Marcus O´Dair zutreffend bemerkt, befreit von der Notwendigkeit, Alben zu produzieren, die er auch live umsetzen kann - eine wichtige Voraussetzung für die zahllosen Kooperationen, die den zweiten, den weitaus längeren Teil von Robert Wyatt´s Karriere kennzeichnen.
Von Eno bis Björk, von Michael Mantler bis Gilad Atzmon, von Anja Garbarek bis zum Orchestre National de Jazz. Ganz zu schweigen von Konzerten, u.a. mit David Gilmour von Pink und Floyd sowie Carla Bley und Charlie Haden, 2009 - sein letzter Live-Auftritt.
Kurzum: Robert Wyatt ist dank seines Personalstiles, irjenswie zwischen Pop und Jazz, ein gefragter Partner. Es gibt Big Band-Versionen seiner Musik, Saxophon- und Streichquartette haben sie interpretiert, er ist zweifacher Ehrendoktor.
Sehr schön die Charakterisierung durch Daniel Yvinec (Orchestre National de Jazz), einer von zahlreichen Interviewpartnern: „Mir kam Robert Wyatt´s Musik immer irgendwie unfertig vor. (...) Es scheint, als könne er seine Musik immer auch jemand anders überantworten, der ihr eine ganz andere Richtung gibt“.
Oder in den Worten seines alten Freundes Brian Eno: „Viele Künstler bewundern ihn, weil er eine personale Sicht entwickelt hat, die irgendwie intakt ist. Ihre politischen und sozialen Anteile passen überein mit dem, was musikalisch passsiert. Er ist der beste Vertreter seiner Philosophie, und das ist nicht oft der Fall. Oft sind die Leute die schlechtesten Beispiele ihrer eigenen Philosophie.“
Und doch, seit 2007 hat Robert Wyatt kein eigenes Album mehr veröffentlicht, seit dem Zeitpunkt, da er sich aus einer langen Alkohol-Abhängigkeit befreit hat.
„His muse was booze“, schreibt Marcus O´Dair, „seine Muse war der Alkohol“. Und verschweigt nicht, sondern belegt mit einem Zitat, was Wyatt auf den Weg zu den Anonymen Alkoholikern brachte: ein Ultimatum seiner Ehefrau.
Hier (sowie an vielen anderen Stellen) profitiert der Leser - um ein letztes Mal Eberhard Webers Autobiografie heranzuziehen - von der Distanz durch einen fremden Autor und durch einen toleranten Porträtierten. Dies ist eine „autorisierte Biografie“, besitzt also die Imprimatur von Robert Wyatt, gleichwohl enthält sie allerlei sensible Daten, z.B. Angaben über zwei Selbstmordversuche (1961 und 1971), über periodisch wiederkehrende Depressionen, über ein chaotisches Paarungsverhalten.
Hier kommt das Gegenmodell eines Typs zum Vorschein, dem es immer wieder gelingen will, fein aus dem Schneider zu sein.
„Different every time“ ist ein gut lesbares Künstlerporträt, in Teilen auch eine Beichte, oder besser: eine kritische Selbstreflexion durch einen auch dafür begabten Künstler.
Am 28. Januar 2015 wurde Robert Wyatt 70 Jahre alt.

erstellt: 06.03.15
©Michael Rüsenberg, 2015. Alle Rechte vorbehalten