Wolf Kampmann (Hg)
Reclams Jazz Lexikon
668 S, 82 Abb, Euro 29.90
"two for the price of one" - wir alle kennen solche Angebote aus Amerika oder aus England. Aber auch hierzulande sind Sonderangebote nicht unbekannt nach dem Motto: nimm´ zwei und bezahle eines.
"two for the price of one", seltsamerweise wollte sich bei mirsogleich diese Assoziation einstellen, als ich hörte, eine Neufassung von Reclams Jazzlexikon stünde bevor und als ich diese dann auch in Händen hielt.
Denn "der neue Reclam" verteilt sich auf zwei Autorenschaften, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten:
von "A" wie "Aarset, Eivind" bis "Z" wie 2Zwingenberger, Torsten" besteht der Band aus einem Personenlexikon, herausgegeben von Wolf Kampmann, dann folgt das Sachlexikon von Ekkehard Jost.
Wer die beiden Charaktere an hand ihrer bisherigen Arbeiten vergleicht: hier Kampmann und seine Mitarbeiter aus dem Kreis der deutschen Jazz-Magazine; dort Ekkehard Jost, der Jazz-Professor an der Universität Giessen...
der muss sich fragen: kann denn das gutgehen?
Zumal wenn Herausgeber Kampmann in seinem Vorwort folgende Leitlinie androht:
Wir wollen uns mit diesem Buch an Spekulationen darüber, was Jazz ist oder was definitiv nicht mehr zum Jazz gehört, nicht beteiligen. Jazz soll hier nicht aus einem wie auch immer gearteten Selbstverständnis heraus reflektiert werden, sondern aus seiner Wahrnehmung.
Wem sich hier die Nackenhaare sträuben, wer diese Zeilen als Plädoyer für schrankenlosen Subjektivismus versteht - der liegt genau richtig. Und wenn der Herausgeber an anderer Stelle von der "Wirkungsgeschichte" des einzelnen Musiker raunt, dann meint er keinesfalls das gleichnamige, wissenschaftliche Verfahren, sondern ganz schlicht: wie wirkt ein Musiker auf mich?
Dass diese Haltung zur Erstellung eines Lexikons berechtigt, ist neu. Und sie führt massenhaft zu Sätzen wie diesem hier:
Unter dem Einfluss von Edgar Varese fusionierte er alle Idiome, deren er habhaft werden könnte.
In diesem Satz über Frank Zappa geht Sprach-Schluderei einher mit Gedanken-Schluderei. Und die ist symptomatisch für mehrere Autoren des Personen-Teils.
Obwohl er nicht zur allerersten Garde der Jazzdrummer gehörte, war der stilistisch ungewöhnlich offene Bob Moses doch stets in der vordersten Reihe der Neuerer zu finden.
Die Verwendung der Vergangenheitsform legt nahe, besorgt zu fragen, "ja, ist denn Bob Moses schon gestorben?".Die zweite Frage gilt dem Umstand, wie es einem Musiker gelingen kann, zwar stets in "vorderster Reihe" zu finden zu sein, andererseits aber doch nicht zur "allerersten Garde" zu gehören?
Beide Aussagen liessen sich bestens miteinander vereinbaren,wenn der Autor sich entschlösse zu sagen, dass sich hier um einen "handwerklich" nicht erstklassigen Musiker handelt, der gleichwohl häufig unter den Neuerern zu finden ist. Man muss gleichsam erahnen, was der Autor meint.
Ähnlich im Absatz über Peter Brötzmann. Dort ist als einziges, was einer Beschreibung von Brötzmanns nun wirklich individuellem Saxophon-Stil nahekommt, zu lesen:
Seinen Ruf als Saxophon-Berserker verdankt er der Power-Rock-Band Last Exit....
Auch das ist eine extrem ergänzungsbedürftige Aussage. Zu jenem Zeitpunkt nämlich war Brötzmann mindestens schon 20 Jahre in einem Stile unterwegs, der sich keineswegs gewandelt hatte.
Das freilich sind Fragwürdigkeiten, Fehler und Stilblüten innerhalb des Personenteiles, also auf den vorderen 573 Seiten. Nicht lange braucht´s - und man entdeckt Widersprüche zwischen vorderem und hinterem Teil des Buches.
Eine typische Spielweise von John Coltrane - die sogenannten "sheets of sound" werden vorne auf die späten 50er, frühen 60er Jahre datiert. Hinten wird der Begriff für diese Periode als
völlig unangemessen
bezeichnet und für den späten Coltrane reserviert.
"Peanuts" werden manche sagen. Aber dieser Befund charakterisiert ein grundlegendes Problem des neuen Reclam: vorne herrscht nicht nur ein anderer Ton als hinten, ein anderer Sprachstil, sondern auch eine gänzlich andere Auffassung von "Jazz".
Während vorne die unmittelbare Jazz-Gegenwart lebhaft begrüsst wird, und z.B. reihenweise DJs in eigenen Artikel aufgeführt werden - fehlt hinten jeglicher Bezug zu Begriffen wie "DJ, Elektronik, Rap" oder auch "HipHop".
Der Sachteil von Ekkehard Jost erstrahlt geradezu in Gediegenheit, Ausführlichkeit und Differenziertheit; dazu in einer sachlichen, unaufgeregten Sprache. Die Eintragungen beispielsweise zur Harmonik und Rhythmik des Jazz können als mustergültig gelten.
Auch der Professor denkt über den Tag hinaus und an seinen Nachruhm, und also dreht er ein paar mal an der Differenzierungsschraube, sodass auch sein Name - der sowieso nicht in Zweifel steht - noch unterkommt. Mehrmals also finden wir Eintragungen wie:
Euro-Time. Ein von dem Jazzforscher Ekkehard Jost geprägter Begriff zur Bezeichnung eines im europäischen Free Jazz der späten 60er Jahre besonders häufig praktizierten, pulsierenden Spiels in einem Tempo von 300-360 Schlägen pro Minute.
Dort, wo er dem Jazz soziologisch näherrückt, verrät Jost Auslassungen und Ungenauigkeiten.
Aber wohlgemerkt, das sind Lappalien, lässliche Sünden. Um es mal so zu sagen: die Fehler, und d.h. in erster Linie Auslassungen, im Sachteil des neuen Reclam kann man nur mit der Lupe finden, im Personenteil springen sie einem schmerzlich ins Auge.
Der Reclam Verlag hat hier einen Ruf zu verlieren, und man muss ihn fragen, welches Lektorat offenkundig verpeilt hat, die beiden Buchteile aufeinander abzustimmen.
"two for the price of one?"
Wer zwei kauft und eines bezahlt, der geht davon aus, dass beide Einheiten gleichwertig sind. Davon kann bei Reclams Jazzlexikon nicht die Rede sein:
29.90 Euro für 112 Seiten Ekkehard Jost - das ist zu teuer, wenn man 560 Seiten Kampmann & Co mitbezahlen muss.
© Michael Rüsenberg, 2003, Alle Rechte vorbehalten