Rüdiger Ritter
Waffe oder Brücke?
Willis Conover und der Jazz im Kalten Krieg
906 S., 3 Tab.
113,95 € (hardcover/e-pdf,e-pub)
Verlag Peter Lang, 2023
ISBN 978-3-631-88975-6
Jazz im Kalten Krieg.
Damit sind die Jahre 1947/48 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 gemeint.
Und wir sehen förmlich vor uns, wie die Assoziationen dazu ins Kraut schiessen. Zu diesem Thema haben viele wenig gelesen, aber alle eine Meinung.
Prominenter Bestandteil vieler dürfte ein Bösewicht namens CIA sein (am besten mit stimmlosen Vokal im Artikel gesprochen, a la Konrad Adenauer; also etwa „d´r CIA“)
Wer das Buch nach dieser Buchstabenkombination durchsucht, findet sie auf 143 Seiten. Vorsicht, die erdrückende Mehrheit davon sind Fehlmeldungen, weil „cia“ auch „socialism“ oder „musicians“ Bedeutung verleiht - aber eben nicht die gewünschte bzw. befürchtete.
In der Sache selbst findet sich eine trockene Antwort auf Seite 124:
„…der CIA beschäftigte sich nicht mit Jazzförderung.“
Es ist dies eine, eine kleine Ernüchterung oder Desillusionisierung von zahlreichen, die diesen Band zu einer Fundgrube machen, ähnlich wie - bei ganz anderem Sujet - Maximilian Hendlers „Prehistory of Jazz“
Da wir an dieser Stelle das Spoilern einfach nicht lassen können, rasch noch ein Nebensatz, nämlich
„dass der Kalte Krieg der Jazzentwicklung in den Ostblockstaaten nicht schadete, sondern sie im Gegenteil beförderte.“ (58)
Ja, Was für ein Buch! Bevor der Autor in Kapitel 3 (von 10) sein Sujet („Conovers Radiosendungen“) endlich ausfaltet, hat er es auf 237 Seiten historisch, politisch, ästhetisch dermaßen angeteasert, dass der atemlose Leser schon an dieser Stelle von einem „Buch im Buche“ sprechen möchte.
Rüdiger Ritter ist eine Wühlmaus. Er spricht Polnisch und Russisch, hat sich also in Warschauer und Moskauer Archiven umtun können. Er praktiziert das „Multiarchivarische“ („immer auch das Archivmaterial der anderen Seite zu Rate ziehen“); er hat zudem den noch unerschlossenen Nachlass seines Titelhelden in Texas durchforstet.
Ritter, 58, arbeitet als Privatdozent an der TU Chemnitz, in der Abteilung für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas. Dies ist seine Habilitationsschrift, fünf Jahre hat die Drucklegung in Anspruch genommen. Sie ist wirklich gut lesbar.
„Waffe oder Brücke?“ versteht er ausdrücklich nicht als Biographie von Willis Conover (1920-1996): dank seiner Sendung „Music USA - The Jazz Hour“ (1955-1996, auf Kurzwelle) und damit verbundener Aktivitäten der wohl einflussreichste Radiomoderator in der Geschichte des Jazz.
Bei Reisen im europäischen Ostblock soll er „mit geradezu religiöser Verehrung als ´Godfather of Jazz´ empfangen“ worden sein.
Leo Feijgin, heute 86 Jahre alt, Chef von Leo Records in London, geboren in der Sowjetunion, über dessen ersten Besuch in Moskau, 1967:
Er war unser Gott, und wir erwarteten von ihm irgendwelche bedeutungsvollen Äußerungen, besondere Weisheit, hörten stattdessen aber nur einfache menschliche Worte. Dennoch waren wir alle von seiner Persönlichkeit so verzaubert, dass sogar Banalitäten uns wie Eröffnungen erschienen.
„Jazz Hour“ war der zweite Teil einer zweistündigen Sendestrecke. In der ersten Hälfte, „Music USA“, auch von Conover moderiert, jazz-verwandte Standards und Evergreens.
Insgesamt also zwei Stunden täglich, lange Zeit 6 Tage die Woche, über 40 Jahre; nicht eingerechnet etliche andere Programme, produziert für Osteuropa und Indien - ein unglaubliches Pensum.
Conovers Wirken und Rezeption bilden das thematische Konstrukt für dieses kultur-wissenschaftliche Wurzelwerk, für ein ungemein materialreiches Kompendium, das weit über die Person hinausgreift.
Man kann ihm auf der Größe einer Briefmarke, sprich dieser Rezension, kaum gerecht werden.
Entangled History
„Die Musik des Jazz steht für die Freiheit, die wir in Amerika haben. Etwas, das nicht jedes Land hat.“
In dieser Moderation, mitunter hineingesprochen in die Titelmusik von „Jazz Hour“ (Billy Strayhorns „Take the A-Train“) steckt im Kern die Aufgabe von Willis Conover:
Jazz als Teil der amerikanischen Kultur, als Symbol der Freiheit, gegenüber den Ländern des Ostblocks zu vermitteln.
Ellington, neben Louis Armstrong, waren die zentralen Größen in seiner Jazzwelt; tendenziell konservativ, immer aber auch mit Blick auf die Aktualitäten, sogar auf die Avantgarde, wenn auch nicht mit gleicher Begeisterung.
„Bei Conover ist es mitunter schwer zu sagen, ob seine Jazz-Ästhetik von musik-immanenten, stil-kritischen Faktoren oder von politisch-propagandistischen Erwägungen motiviert war. Für beides lassen sich bei ihm Aussagen finden.“ (317)
Hartgesottene Jazzfans, die in festen historischen Stilblöcken denken, schlimmstenfalls in den Berendt´schen 10-Jahres-Schritten, werden von Ritter einem Rütteltest namens entangled history unterzogen: einem Neben- und Miteinander verflochtener Handlungsstränge; Komplexes und Paradoxes ohne Ende.
So lief zur Stalin-Zeit Cecil Taylor bei Radio Metronome in Moskau eben nicht unter „Jazz“, sondern als „Ėstrada-Musik“.
Der Eiserne Vorhang ist (soweit es den kulturellen Überbau betrifft) eigentlich falsch benannt, er funktionierte viel eher wie eine „halb-durchlässige Membrane“. Der Kalte Krieg, sein begrifflicher Bruder, siehe oben, schadete der Jazzentwicklung im Ostblock keineswegs, im Gegenteil - er beförderte sie.
Die Arbeit von Willis Conover vollzog sich nämlich nicht in einer Einbahn, er sorgte für Gegenverkehr, sprich: er lud ein und protegierte osteuropäische Jazzmusiker. Manche, wie z.B. der bulgarische Pianist Milcho Leview (1937-2019), blieben im Lande.
1981 ließ er sich von ihm in „Jazz Hour“ zu einem Stück Jazz-Ideologie im Quadrat hinreissen:
Es ist nicht so sehr eine Musikgattung, sondern eine Art, Musik zu machen. Eine Art, etwas zu sagen, was man sonst vielleicht mit Worten zu sagen versucht. Es ist das Aussprechen der Wahrheit, der eigenen Gefühle, durch - zufälligerweise - ein Instrument. In diesem Sinne ist es rein, weil man nicht unehrlich sein kann.
Man kann nicht unehrlich sein - und Jazz spielen. Das ist einfach kein Jazz - auch wenn man´s versucht: man wird sofort als Lügner erkannt.
Ehrlichkeit ist das, was man anstrebt. Und hofft, nicht nur in der Musik, sondern auch unter Menschen zu finden. Gelegentlich. (Jazz Hour, 24.04.81)
Jazz > Demokratie > Freiheit
Gleichwohl, Jazz als transkulturelle, als interkontinentale Praxis (inzwischen wieder von der Forderung nach einem Primat des Afro-Amerikanischen in Frage gestellt) hatte in Willis Conover einen frühen Protagonisten (und wurde von dort heftig kritisiert).
Noch bedeutsamer - und das ist absolut faszinierende Jazzhistorie - sind die voneinander abweichenden, sich wandelnden Vorstellungen von Musikern, Fans und Kulturpolitikern zum Großbegriffspaar „Jazz“ und „Demokratie“ oder auch „Politik“, die Ritter in zahllosen Belegen nicht nur aufspürt, sondern auch debattiert.
Dabei spielte Jazz in der amerikanischen Kulturarbeit der ersten Nachkriegsjahre noch keine Rolle, „diese Musik galt als Schandfleck der amerikanischen Kultur, deren Existenz zwar eingeräumt werden musste, der aber kein Wert zugeschrieben wurde“ (118). Ein fundamentaler Wandel im Mutterland des Jazz bewirkte „die Erkenntnis seiner außerordentlich intensiven positiven Wirkung im Ausland“.
Den Anstoß zu „Voice of America - Music USA“ - jetzt wird´s kurios - gab im April 1953 der erste US-Botschafter in Moskau nach Stalins Tod, Charles E. Bohlen.
Er hatte vom Interesse der Moskauer Jugend an Jazz und westlicher Kultur erfahren, beispielsweise der Popularität der „Tarzan“-Filme 1951/52.
Statt die unendlichen Widersprüche und Paradoxien in Jahrzehnten des Kulturkampfes nachzuzeichnen, zieht es diese Rezension vor, in einem geradezu Kohl´schen Sinne darauf zu schauen, „was hinten ´rauskommt“, vulgo auf die differenzierte, aber eindeutige Bilanz von Ritters Recherchen zu zielen.
Sie neigt sich im Titel gebenden Begriffspaar „Waffe oder Brücke?“ eindeutig letzterem zu.
Vor allem die politischen Rückschlüsse en detail dürften heute mancherorts nicht gerade die helle Begeisterung auslösen:
„Es war (…) gerade die offensichtliche herrschaftspolitische Bedeutungslosigkeit des Jazzmilieus, die das Milieu und die Jazzmusik vor weiterer Gängelung durch die Geheimpolizei bewahrte und dadurch seine weitere Entfaltung in den Ostblockländern möglich machte.“ (676)
Ritter erkennt ein „produktives Missverständnis zwischen dem Freiheitsbegriff der US-Strategen einerseits und dem Freiheitsbegriff der Jazz-Rezipienten bzw. der Jazz-Szenen im Ostblock“.
Man darf sich an einen bundesdeutschen Klassiker erinnert fühlen (Dieter Baacke: Beat, die sprachlose Opposition, 1968), wenn man hier liest:
„Gerade die bedeutendsten Jazz-Musiker sprechen von künstlerischer Offenbarung gegenüber dem starken Korsett des klassischen Instrumentalunterrichts. Bei ihnen fehlt jede Komponente einer Gesellschaftskritik. Jazzmusiker erleben die Dynamik des ´Just do it´ und vollführen die Selbstverwirklichung der eigenen Ideen ungeachtet realer, imaginierter oder erwarteter Widerstände." (832)
In keinem einzigen der zahlreichen Aufstände in den Ostblockstaaten findet Ritter Anhänger des Jazz-Milieus, „wenigstens nicht in zentraler Stellung“.
Sein politisches, nicht sein musikalisches Fazit, ist demzufolge negativ:
„Zur großen Enttäuschung der Kulturpolitiker auf beiden Seiten des Atlantiks erwies sich Jazz als Medium der Übermittlung oder Implantierung politischer Orientierungen oder ideologischer Botschaften als denkbar ungeeignet. Nicht nur der Versuch der USA schlug fehl, die politischen Begriffe von Freiheit und Amerikaorientierung per Jazz zu transportieren, sondern auch die Versuche der Gegenseite, aus der US-Rasseproblematik vermittels Jazz politisches Kapital zu schlagen.“ (831)
erstellt: 31.08.24
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