Ron Miles, 1963-2022

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Er gehörte nicht zu den Instrumentalkollegen mit der „Feuerwehr-Spritze“, die, wie Eberhard Weber das kennzeichnen würde, die das Blaue vom Himmel spielen.
Sein Ton, oft auf dem Kornett, trocken, verhalten, brüchig. Weit weg von dem, mit dem man ihn der Namensgleichheit wegen verwechseln könnte.
Miles gehörte zu den Melodikern.
"Wenn man einen Ron Miles-Song richtig spielt, muss man im besten Fall weinen", sagt Pianist Jason Moran nun gegenüber National Public Radio (NPR).
"Denn die Songs waren voll. Ich vergleiche es mit der Art, wie John Coltrane 'Lonnie's Lament' gemacht hat. Er wusste, wie man die Freude in einer Melodie findet, und er wusste, wo das Herz in ihr steckt. Selbst in dem Moment, in dem man sie spielt, überkommt es einen einfach. Eine Menge Musik, die wir spielen, hat das nicht, sie hat es einfach nicht“.
Jason Moran gehört zum Personal von Miles´ letztem Album „Rainbow Sign“ (2020), seinem zwölften.
Darauf auch zwei seiner Langzeitpartner, Brian Blade, dr, und Bill Frisell, g.
Letzterem schickte er eine Bewerbungscassette, sein erstes Album mit ihm war „Quartet“, 1997.
Beide haben - wenn auch in zeitlichem Abstand - die gleiche High School in Denver besucht. Miles kam aus Indianapolis im Alter von 11 Jahren dorthin, die Eltern hielten die Luft in Colorado für besser angesichts seiner Asthma-Erkrankung.
Miles versuchte sich zunächst in Elektrotechnik, wechselte dann zur Musik in Boulder/CO, seinen Master machte er an der Manhattan School of Music, kehrte dann aber wieder nach Denver zurück.
Für jemanden aus der (Jazz)Provinz hat er eine erstaunliche Karriere gemacht.
Ronald Glen „Ron“ Miles, geboren am 9. Mai 1963 in Indianapolis ist am 8. März 2022 in Denver verstorben. Die Ursache ist eine seltene Bluterkrankung. Er wurde  58 Jahre alt.

Foto: Elliot Ross
erstellt: 08.03.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Badal Roy, 1939-2022

Lange nichts mehr gehört von Badal Roy.
Sein letzter Eintrag in der JC-CD-Datenbank (die nicht vollständig ist) datiert von 2006: Mitwirkung auf dem Album „Borrowed Time“ von Steve Khan.
Aber jetzt, wo sein Name aus traurigem Anlass wieder auftaucht, erklingt zugleich auch eine ganze Ära. Sofort ist Miles Davis „On the Corner“ (1972)
wieder da.
Oder „My Goal´s beyond“ (1971) von John McLaughlin, sein Einstieg in die professionelle Jazzwelt; ein Hobbymusiker, plötzlich inmitten von Jazzstars.
Seine Jazzinteresse ward 1963 durch ein Konzert von Duke Ellington in Pakistan geweckt. 1968 zog er von Ost-Pakistan nach New York City, nicht der Musik wegen, sondern um Statistik zu studieren.
Seinen Lebensunterhalt finanzierte er sich als Kellner im „Pak India Curry House“ in Greenwich Village, an Wochenenden trat er mit einem Kollegen an der Sitar als Tablaspieler auf, im „Taste of India“.
Ein Stammgast gesellte sich irgendwann dazu. Nach sechs Monaten des gelegentlichen Jammens lud jener ihn im März 1971 ins Studio ein: zu den Aufnahmen von „My Goal´s beyond“.
Im selben Jahr gastiert Miles Davis im „Village Vanguard“. McLaughlin rät den beiden Studenten, sie sollten sich rasch ein Blocks weiter in die Bleecker Street begeben und Miles vorspielen.
Ja, the rest is history, fast eine Tellerwäschergeschichte des Jazz.
Badal RoyAm 1. Juni 1972 sitzt Badal Roy im Columbia Studio B:
"Es gab keine Probe, und als Miles hereinspazierte, wusste keiner von uns, was er tun sollte. Plötzlich sagt Miles zu mir: 'Du fängst an' - keine Musik, kein Nichts, einfach so. Mir wird klar, dass ich den Groove vorgeben muss, und ich beginne einfach einen TaKaNaTaNaKaTin-Rhythmus zu spielen. Herbie (Hancock) nickt mit dem Kopf im Takt und mit einem 'Yeah!' fängt er an zu spielen. Eine Zeit lang sind wir beide allein, dann kommen John (McLaughlin) und Jack (deJohnette) hinzu.
Dann fangen die anderen an, und es ist das reinste Chaos, zumindest für mich. Ich werde in dem Lärm völlig übertönt. Ich spiele weiter, aber in der nächsten halben Stunde höre ich keinen einzigen Beat, den ich spiele“ (Interview im Telegraph, India).
Roy verlässt das Studio noch irritierter als vor ihm Josef Zawinul (der nach den Sessions zu „Bitches Brew“ rätselte, wie daraus Musik werden könne). Und obwohl er 1972 ein Exemplar von „On the Corner“ erhielt - so geht diese schöne Schnurre weiter vom Tellerwäscher, der Koch wurde  - will er es sich erst 1995 (!) angehört haben.
Mit Begeisterung.
Nachdem sein Sohn daheim die frohe Botschaft aus der Uni verkündet habe: „Alle HipHop-Typen bei uns sampeln es“.
Der Frust über „On the Corner“ hielt ihn freilich nicht ab, dem Lärm bei Miles sich noch für „Big Fun“ und „Get up with it“ auszusetzen.
Und dann ging es erst richtig los für den Tablaspieler, der ein Hobby zum Beruf machte, ohne die strengen Ausbildungs-
routinen der klassischen indischen Tradition bestanden zu haben.
Sein Spiel auf den Tablas klingt einfach gut, im Mix wurde es oft prominent herausgestellt. Und Auftraggeber von Dave Liebman bis Ornette Coleman, von Herbie Mann bis Pharoah Sanders, von Yoko Ono bis Andreas Vollenweider dürften gewusst haben, was sie an ihm hatten.
Nach einem indischen Percussion-Abitur haben sie bestimmt nicht gefragt. Und auf die Frage nach seiner „Authentizität“ dürften sich kontinental abweichende Antworten ergeben (wie es der indische Telegraph nahelegt):
„Den Westen hat er zwar für sich gewonnen, aber bei den Indern ist Badal Roy noch wenig bekannt. Für diejenigen, die Tabla mit klassischer Musik gleichsetzen und deren Ohren auf die scharfen Tukras der Hindustani-Klassik eingestellt sind, würde seine Spielweise - ein grooviger, bassiger Sound - fremd klingen“.
Badal Roy, geboren als Amerendra Roy Choudhury, am 16. Oktober 1939 in Kumilla (Britisch Indien, heute Bangladesch), ist am 18. Januar 2022 in Wilmington/Delaware verstorben. Er wurde 82 Jahre alt. Als Todesursache wird Covid-19 genannt.

Foto: discogs.com
erstellt: 29.01.22

©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Emil Mangelsdorff, 1925-2022

Im Zentrum des Hurrikans - wir erinnern uns an das Paradox vage aus dem Erdkundeunterricht - herrscht Stille.
Man ist geneigt, dieses Phänomen in einem - selbstverständlich abwegigen Vergleich - auf Frankfurt am Main zu übertragen, das Zentrum des Wirkens der Gebrüder Mangelsdorff.
Obwohl der Fußabdruck der beiden in der Jazzgeschichte ungleich ist, unterliegen gewisse Instanzen in Mainhattan der Verwechslungsgefahr.
Jüngst spricht die FAZ (online, 21.01.22) in einem Nachruf auf Emil von Aktivitäten „gemeinsam mit seinem älteren Bruder Albert…“.
Und korrigiert einen Tag später. 
Denn es war bekanntlich der ältere, Emil, der in dem später berühmteren, Albert, die Jazzbegeisterung überhaupt erst geweckt hat.
Gravierender und sicher legendär die Verwechslung der beiden durch die seinerzeitige Oberbürgermeisterin Petra Roth bei einem Festkonzert zum 70. Geburtstag von Albert im September 1998 in der Alten Oper.
Albert steht neben der Laudatorin, sein Instrument, die Posaune, spielbereit im Arm, und er erträgt stoisch das wiederholte Scheitern der obersten Repräsen-tantin der Stadt - bei zunehmendem Raunen des vollbesetzten Hauses - an zwei Klippen in ihrem Manuskript: sie spricht ihm, völlig korrekt, große Verdienste zu - aber auf dem falschen Instrument. Zweimal.
Auch Wohlmeinende, die von der echten Wertschätzung der Politikerin für den Künstler berichten, die ihn mehrfach live erlebt habe, sogar in New York, und auch dort nie und nimmer auf dem Altsaxophon, sie sind irritiert.
Der weiteren Karriere der Oberbürgermeisterin, wie auch?, hat dieser Fauxpas nicht geschadet.
Emil MangelsdorffAber, wie es sich lebt, in derselben Gattung neben einem solchen Giganten, die Bürde, der Zwiespalt, sie klingen unvermeidlich jetzt in den Nachrufen mit an. Beispielsweise in diesem FAZ-Satz über Emil:
„Mindestens so bedeutend wie Mangelsdorffs Verdienste als Musiker war seine Zeugenschaft über die NS-Zeit“.
Mutmaßlich weil letztere jenseits der Musik viel leichter nachvollziehbar sind, twittert nun auch der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier:
„Er hat sich nicht nur um die Kultur in Hessen verdient gemacht, sondern als Zeitzeuge der dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte wertvolle Erinnerungsarbeit geleistet“.
Das ist wahr. Emil hat weitaus mehr unter den Nazis gelitten als Albert. Als er 1942/43 am Dr. Hoch´schen Konservatorium Klarinette studierte, geriet er auch als Mitglied der „Swingjugend“ in den Fokus der Gestapo.
Er wurde zum Reichsarbeitsdienst, „dann zur Wehrmacht und schließlich an die Ostfront beordert (…), wo er nach Kriegsende in russische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er erst 1949 wieder freikam“ (Wolfram Knauer, 2019).
„Jazz war für ihn untrennbar verbunden mit der Idee von Freiheit und Gleichheit aller Menschen“, wie es in einem Nachruf der FR heisst; er hat u.a. in Schulen über seine Zeit in der Diktatur berichtet.
1949 stieß er zu den Mitbegründern des Modernen Jazz in Frankfurt; wechselte zum Altsaxopophon, wechselte von Swing zu Bebop und anderen Stilen der neuen Zeit - aber niemals zum FreeJazz.
Hier trennten sich die Auffassungen der Brüder, die zwar im legendären Jazzensemble des HR zusammen spielten, später aber immer weniger:
„Das ist mir lange sehr nahe gegangen. Aber wir haben trotzdem zusammen gespielt, wenn ein Veranstalter einen gemeinsamen Auftritt buchte“ (jazzpages).
Auch er hat, wie sein jüngerer Bruder, mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter den Bundesverdienstorden.
Emil Mangelsdorff, geboren am 11. April 1925 in Frankfurt am Main, ist ebendort am 20. Januar 2022 gestorben. Er wurde 96 Jahre alt.

Foto: Wikipedia, CC
erstellt: 22.01.22

©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

 

Mtume, 1946-2022

James Mtume Ted Talk 1Dass in der New York Times der Pop- und nicht der Jazzkritiker den Nachruf schreibt, ist kein Zufall.
Aus letzteres Zuständigkeitsfeld hatte er sich schon lange verabschiedet, spätestens seit 1983, seit seinem Soul-Hit „Juicy Fruit“. Wer dies jetzt nachhört, weil ihm der Künstler schon vorher aus dem Fokus geraten ist, der muss sich doch sehr wundern, warum dieses blasse Etwas in 100 weitern Songs gesampelt worden sein soll.
Dieses „vorher“, das ist für Jazzohren interessant. Denn es fand auf höchsten Höhen statt: zwischen 1971 und 1975 bei Miles Davis.
Studio-Einstieg für ihn war nicht wie nun vielfach reportiert das Album „On the Corner“. Einstieg für ihn war am 9. März 1972 das Columbia Studio C in New York City für „Red China Blues“, veröffentlicht erst später auf „Get up with it“, 1974.
An den eigentlichen „On the Corner“-Sessions im Juni 1972 ist er nicht beteiligt, erst wieder im September 1972 bei „Rated X“, gleichfalls auf „Get up with it“.
Dort (aufgenommen am 7. Oktober 1974) ist auch ein Namensstück entstanden „Mtume“, ein ungemein drängender Zappelfunk mit viertaktigem swing-Einschub. Wenn man erwähnt, dass dort drei Gitarristen wha-wha schrubben, die offene hi-hat von Al Foster neben Mtumes Percussion-Gebimmel, unter Bodenhaftung von Michael Hendersons Baßgitarre - lässt einen schon die Imagination nicht mehr ruhig sitzen. Ein absolut zeitloser Aufreger.
James Forman, geboren am 3. Januar 1946 in Philadelphia, ist der leibliche Sohn des Saxophonisten Jimmy Heath (1926-2020), seinen bürgerlichen Namen hat er von seinem Ziehvater James „Hen Gates“ Forman, einem Jazzpianisten.
Seinen Namen Mtume („der Botschafter“ in Swaheli) bekam er in einer black nationalist group; er behielt ihn, als er 1969 die Organisation verließ.
Als Miles Davis ab 1975 für mehrere Jahre pausiert, schließt er sich mit dem Davis-Gitarristen Reggie Lucas der Band von Roberta Flack an, ein Stück der beiden wird ein Hit für sie. Es folgt, s.o., eine Karriere abseits des Jazz.
James „Mtume“ Forman ist am 9. Januar 2022 in South Orange/New Jersey an Krebs gestorben, wenige Tage nach seinem 76. Geburtstag.

Foto: Ted Talk, 2019
erstellt: 14.01.22

©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Pat Martino, 1944-2021

pat martinoGleich noch mal „Live at Yoshi´s“ aufgelegt, den Mitschnitt aus dem Club in Oakland/CA aus dem Dezember 2000. Und gleich im Anschluß „Remember“, sein Tribut an Wes Montgomery aus dem August 2006.
Yeah, that´s Jazz!
Musik direkt aus dem Maschinenraum der Gattung. Was auch immer oben, auf den verschiedenen Decks passieren mag, die Energie kommt von hier!
Hier stehen die Aggregate, hier werden sie geölt, sie halten den ganzen Laden am Laufen.
Hier braucht´s weder postmodernes Vokabular, um zu beschreiben, was man hört, keine Anleihen bei exotischen Genres. Was hier geschieht, darauf können sich alle Fraktionen blitzschnell einigen: das ist Jazz!
Sozusagen der Gattungsbegriff in „reiner“ Form zum Klingen gebraucht, ohne jeden ironischen Unterton, ohne Legitimationsfragen. Wer sich hiervon mitreißen lässt, muss nicht um Verständnis bitten.
Blues, Shuffle, uptempo swing, tradin´ fours - die Begriffe drängen sich geradezu auf. Vor allem das Ternäre, die Triole, Kern vieler (nicht aller) Schulen der Jazzphrasierung.
Wer hat je so triolisch durchphrasiert, auch in hohen Tempi, auch in unruhigen Gewässern wie - als nächstes im CD-Player - bei „Joyous Lake“ (1976), seinem kurzen Ausflug in den Jazzrock, u.a. mit Delmar Brown, keyb (1954-2017) und Kenwood Dennard, dr.
Und dann, immer wieder, diese Repetitionen, diese Kreiselbewegungen kurzer Motive; „wie aus der Hüfte geschossen“, möchte man beinahe formulieren, aber dafür laufen sie viel zu rund,  verlieren nie den Halt. Der englische Gitarrist Ant Law hat diese Gestalt als 6-Noten-lick beschrieben sowie die Bedeutung der dicken Saiten für seinen Sound betont (der ihn als einen Vorgänger von Pat Metheny ausweist).
Eben wegen der dicken Saiten, betont der Kölner Gitarrenexperte Lothar Trampert, finde man bei ihm kaum vibrato und bendings (Tonbeugungen), von der Tonhöhenbehandlung her erkennt er eine Ähnlichkeit eher zum Piano.
Auf nicht wenigen Fotos sieht man Pat Martino als gut gekleideten, gut aussehenden Herrn, ein Gentleman, der auch an seinem Instrument nie die Contenance verliert.
Martino (auch sein Vater, gleichfalls Musiker, wählte schon dieses Pseudonym) hat nie eine Akademie von innen gesehen. In Dennis Sandole hatte er denselben Musiklehrer wie John Coltrane, den großen Rest aber hat er autodidaktisch erworben.
Insbesondere anhand eines Modells: Wes Montgomery (1923-1968).
„Als ich dreizehn Jahre alt war, saß ich vor einer Platte, ´Groove Yard ´(1961) auf Riverside Records, die Montgomery Brothers, und hörte sie mir auf dem Plattenspieler meines Vaters an... Ich saß auf dem Boden und versuchte, die Soli zu kopieren, und als Kind hoffte ich, dass ich eines Tages so spielen könnte. Und genau das hatte ich vor, als dieses Projekt in den Vordergrund rückte. Ich wollte das erreichen, was ich mir als Kind vorgenommen hatte, jetzt, wo ich die Fähigkeit dazu habe“ (Martino über „Remember“).
Ein Jahr zuvor - solche Andekdoten lieben wir ja im Jazz - soll kein Geringerer als Les Paul (1915-2009) erwogen haben, bei dem zwölfjährigen Pat Unterricht zu nehmen.
1997 gastiert er bei ihm, neben anderen Instrumental-Kollegen, auf „All Sides now“. In der Folge veröffentlicht er eine Reihe bemerkenswerter Alben für Blue Note.
Martino hat mit allen Helden der Hammond B3, der Schweineorgel, gearbeitet: Jimmy Smith, Jimmy McGriff, Don Patterson, Jack McDuff (sein „Mac Tough“ ist ihm gewidmet), Richard Holmes, zuletzt Joey DeFranceso.
Er hat zwei gravierende Schicksalsschläge überstanden: 1980 ein Gehirn-Aneurysma (dass er danach das Gitarrespielen vollkommen neu erlernen musste, hat er in seiner Autobiographie korrigiert), 1994 einen Gehirntumor.
Der letzte Eintrag in seinem Tourneekalender: 24. November 2018, Mantova, Italien, mit einem Orgeltrio (Pat Bianchi, org, Carmen Intorre, dr), ein paar Wochen zuvor war er auch im domicil, Dortmund.
Ende 2018 verschlechtert sich sein Gesundheitszustand, seine Ersparnisse sind aufgebraucht, über das Internet erfolgt ein Spendenaufruf, der mit 250.000 Dollar weit mehr als die projektierte Summe einbringt.
Im Mai 2021 veröffentlicht sein Manager Jo Donofrio ein Bulletin:
„Patrick C. Azzara, auch bekannt als Pat Martino, befindet sich nach wie vor in demselben Zustand, in dem er aufgrund einer chronischen Atemwegserkrankung, die seine Lungen daran hindert, Sauerstoff aufzunehmen, rund um die Uhr behandelt werden muss“.
Am 1. November 2021 teilt er dessen Tod mit.
Pat Martino, geboren als Patrick Azzara am 25. August 1944 in Philadelphia, starb am 1. November 2021 zu Hause in Philadelphia. Er wurde 77 Jahre alt.

PS: Pat Martino Trio live im Moods, Zürich, 2018

Foto: Mark Sheldon (patmartino.com)
erstellt: 02.11.21

©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten

Ulrich Kurth, 1953-2021

Als er im April 1990 Leiter der WDR-Jazzredaktion wurde, zog eine mehr journalistische Perspektive ein.
Die entsprechende Praxis hatte er 1984 als Musikredakteur im Kabelpilotprojekt Dortmund und ab 1987 im WDR-Landesstudio Bielefeld gelernt.
Zur Arbeitsplatzbeschreibung gehörte dabei nicht nur Berichterstattung, genreübergreifend, sondern auch Widerspruch gegen den Studioleiter, ein Prachtexemplar der damals noch obwaltenden „Landesfürsten“, die die musikalische Topographie ihrer Region durch deren Chöre vollumfänglich repräsentiert sahen.
Das neue Sujet in Köln war Kurth keineswegs neu. Seine theoretische Legitimation dazu hatte er 1981 an der Universität Kiel hinterlegt, in einer Dissertation unter dem Titel „Aus der Neuen Welt: Untersuchungen zur Rezeption afro-amerikanischer Musik in der Europäischen Kunstmusik des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts“.
Der praktische, ja ausgesprochen manuelle Teil der Legitimation, an den Studienorten Bonn, Berlin, Kiel gereift bis zu einem „semi-professionellen“ Level, ging dem vorauf und kam 1979 zum Abschluß: da folgte auf seinen Posten in der Hamburger Band Stintfunk ein 18jähriger Pianist namens Hans Lüdemann.
Ab 1973 pilgerte er zu einer Veranstaltung, die er dann zwischen 1990 und 1998 backstage als Redakteur begleitet hat: das Moers Festival.
Wie sein Vorgänger (Manfred Niehaus) und seine Nachfolger (Markus Heuger, Bernd Hoffmann, Tinka Koch) hat Ulrich Kurth Clubs, Festivals und zahlreiche Künstler gefördert, manche auch mehr.
Mit seinen 10 Jahren als WDR-Jazzredakteur verbindet sich insbesondere die Karriere des Jazzkomponisten Klaus König, dessen Big Band Projekt „The Song of Songs“ 1993 beim Jazzfest Berlin uraufgeführt, und - those were the days, my friend - zuvor im „Spiegel“ umfassend gewürdigt wurde.
Uli Kurth 1

 

 

 

 

 

 

 

im WDR-Studio:
Ulrich Kurth, Tom Rainey, Gianluigi Trovesi, Markus Stockhausen (vlnr)
Foto: WDR/Kaiser


Er hatte Schwerpunkte, ja; aber seine generelle Linie lässt sich am besten mit einem Geri Allen-Titel wiedergeben, „Open on all Sides - in the Middle“.
Oder, in den Worten einer Kondolenz-Mail, die uns aus dem Tal erreicht: „Mit einem stillen Grinsen denke ich daran, wie er von der dogmatischen Stieseligkeit mancher Wuppertaler genervt war. Er gehörte noch zu den Leuten, denen das Sujet ein großes Anliegen war“.
Und dieses Sujet hörte einfach nicht auf, auch in-house als Anliegen verteidigt werden zu müssen. Zum Beispiel 1997 in einem herrlichen Über-die-Bande-Spiel mit der Lokalpresse gegen einen Hörfunkdirektor, dessen Dienstzimmer ihn als Rocker auswies, dem aber für die ältere, weniger populäre Nachbargattung, selbst in den Nachtstunden, das Verständis auszugehen drohte.
Ulrich Kurth war ein umgänglicher, ein beliebter, ein heiterer Mensch, und ich darf sagen: ein höchst angenehmer Chef.
1996 wurde bei ihm „MS“ diagnostiziert. Einschränkungen stellten sich zunächst kaum merklich ein; später betrieb er großen Aufwand, sie zu verbergen - er hing einfach zu sehr an seinem „Sujet“.
Anfang der 2000er Jahre beendete er sein Berufsleben als Teamchef Musik von WDR 3. Später veröffentlichte er eine Monografie über Tony Oxley (Wolke Verlag, 2011).
Die letzten sieben Jahre lebte er in einem Heim. Anfangs gelang ihm noch, im Rollstuhl den Ehrenfeldgürtel zu überqueren, ins Loft, oder zum Singen im Chor.
Dr. Ulrich Kurth, geboren am 28.09.1953 in Kaltenkirchen bei Hamburg, starb am 12. August in Köln-Ehrenfeld, im Kreise seiner Familie, wenige Wochen vor seinem 68. Geburtstag.

erstellt: 16.08.21, ergänzt: 23.08.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten

Wie Peter Brötzmann einmal in die Tonight Show geriet...

Gut, dass Manfred Miller (1943-2021) das nicht mehr erleben musste.
Miller hatte in jener legendären Debatte, live in der ARD an einem Freitagnachmittag (!) des Jahres 1967, die damals noch vergleichsweise neue Kunst des FreeJazz - personifiziert im Studio durch Peter Brötzmann - mit klugen Argumenten verteidigt. Und propagiert.
Und selbst dessen damaliger Kontrahent, Klaus Doldinger, würde heute die billige Brötzmann-Watschn durch den amerikanischen Late Night Talker Jimmy Fallon wohl missbilligen.
In der vergangenen Woche stellte der in einer Ausgabe seiner Tonight Show (NBC) eine „Do not play“-Liste vor:
Stücke von „realen Künstlern“, die man sich niemals anhören sollte.
Nummer zwei nach einer Sängerin namens Gnesa mit einem 9 Jahre alten Song („Wilder“) ist das 52 Jahre alte Album „Nipples“ von Peter Brötzmann.
Jimmy Fallon
Bevor er das Albumcover in Richtung Kamera hält, kann sein sidekick Steve Higgins sich schon bei der Ankündigung „German Jazz“ kaum noch halten.
Die Interpretenangabe The Peter Brötzmann Sextet/Quartet bringt beide an den Rand ihres Vorstellungsvermögens, wieviele Künstler daran beteiligt sein mögen.
Noch mehr als über den kurzen Musikausschnitt („Klingt wie ein deutschen Gitarrenladen an einem geschäftigen Samstagnachmittag“, Fallon) prustet die gesamte Mannschaft über den Titel des Albums - in den US-Medien ein sicherer Garant für einen Balken.
Toll, dass sie das Alltagswort genüßlich aussprechen dürfen, ohne das, was es bezeichnet, zeigen zu müssen: Brustwarzen. Stattdessen - das Bild wird ausgiebig gedeutet - ein Männerkopf mit Kinnbart und selbst-gedrehter Zigarette.
Die „grölende Zustimmung“, die sich für Antiintellektualismus in Amerika finden lässt (Jan-Werner Müller in der FAZ, 15.09.21), bricht sich hier fröhlich Bahn.
Das Magazin Rolling Stone empört sich: „Brötzmann ist ein angesehener Free-Jazz-Musiker mit mehr als 50 Jahren Erfahrung und Lob auf dem Buckel, und Fallon vergleicht ihn mit einer Schar von Teenagern und Versagern, die sich mühsam durch ´All Along the Watchtower´ in einem Vorort-Einkaufszentrum wühlen“.
Dem Künstler in Wuppertal ist die Sendung nicht verborgen geblieben, aufgebrachte Fans haben ihm den Clip geschickt.
"Ich kenne diese amerikanischen Fernsehsendungen nicht, aber ich weiß, dass es sich um einen seriösen Fernsehsender handelt, und so frage ich mich nach ein paar Tagen, während ich hier an meinem Küchentisch sitze, ob etwas dahinter steckt, nicht nur ein verunglückter Witz`, fügt er hinzu.
´Aber, .... wiederum... wen interessiert das schon?“ (Brötzmann gegenüber Rolling Stone)

erstellt: 15.09.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten

Rick Laird, 1941-2021

033 Rick Laird

Was für eine Karriere!
Sie liegt ausschließlich in der ersten Lebenshälfte des Künstlers. Und ihr Zenit beschränkt sich auf ganze drei Jahre!
Alles drumherum interessiert wenig. Alle konzentrieren sich auf diese drei Jahre, auf 1971 bis 1973.
Da gehörte er - als unauffälliger, solider sideman -  einem Meisterensemble an, das den Kurs der Jazzgeschichte entscheidend gewendet hat, in Richtung Jazzrock (oder auch Fusion Music).
Rick Laird war der Bassist im Mahavishnu Orchestra.
1982, also zur Lebensmitte, hat er den Musikerberuf aufgegeben. Aber wegen der glorreichen drei Jahre findet man auch heute noch Interviews mit ihm im Netz. Einer seiner Standardsätze (auf Standardfragen) lautet, es sei „sehr laut“ gewesen, und vorher habe er noch nie in 19/4 gespielt. „Wie zählt man eigentlich 19/4?“ fragt er dann leutselig zurück.
Ja, wie kam denn er in dieses Quintett? Wo doch die Kollegen um ihn herum schon kleine Stars waren (und durch diese Band noch größere Stars wurden)?
Der Brite John McLaughlin, noch relativ neu in New York City, zog einfach einen alten buddy aus gemeinsamen Londoner Tagen in den Mittsechzigern heran, beispielsweise aus der kurzen gemeinsamen Zeit bei Brian Auger.
Laird aber war weder Brite noch Neuseeländer, wie gern angegeben. Er ist in Dublin geboren, zog nach der Scheidung der Eltern im Alter von 16 Jahren mit dem Vater (andere sagen mit der Mutter) nach Neuseeland und wechselte dort, beeindruckt von einer Aufnahme Ray Brown´s mit Oscar Peterson, von der Gitarre zum Kontrabass.
An diesem blieb er standhaft stehen (auch gegen den Willen von Brian Auger), immerhin hatte er damit zwischen 1962 und 1964 als Hausbassist im Ronnie Scott´s Club in London gewirkt. Einen solchen Posten gibt´s heute nicht mehr, aber damals hieß das: alle durchreisenden Amerikaner begleiten.
Einer erwies sich als besonders widerspenstig: der Schlagzeuger Buddy Rich. Eineinhalb Jahre in seinem Orchestra passierte Laird wie durch eine Drehtür, immer mal wieder raus und wieder rein.
1966 ist er auf Sonny Rollin´s Filmmusik zu „Alfie“ zu hören. 1968 wechselt er zur Baßgitarre, kurz vorher hatte er sich u.a für Kontrabaß an der Berklee School of Music in Boston eingeschrieben.
Dann folgt das Mahavishnu Orchestra, das im Dezember 1973 im Streit auseinandergeht. Auf dem letzten Album „The Lost Trident Sessions“ (1999 nachgereicht) kann er ein Stück unterbringen („Steppings Tones“), das 1974 seine Bandkollegen Jan Hammer & Jerry Goodman in einer bezaubernden Variante auf ihrem Album „Like Children“ interpretieren.
1977 veröffentlicht Laird sein einziges eigenes Album „Soft Focus“, u.a. mit Joe Henderson. Er begleitet Stan Getz auf einer Europa-Tournee, ersetzt - gleichfalls on tour - Stanley Clarke bei Chick Corea, soll auch an der Seite von Jeff Beck gehört worden sein.
Er schreibt zwei Baß-Schulen. 1982 gibt er das Baßspielen auf und widmet sich vollständig einer schon lange gehegten Passion: dem Fotografieren.
Als Richard Laird.
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Ende Januar 2021 gibt seine Tochter Sophie Rose ein buchstäblich letztes Lebenszeichen:
ihr Vater ist unheilbar an Lungenkrebs erkrankt, sie bittet darum, ihm seine letzten Tage im Hospiz mit Zeugnissen aus der Vergangenheit aufzuhellen.
Richard Quentin Laird, geboren am 5. Februar 1941 in Dublin, ist am 4. Juli 2021 verstorben.
Er wurde 80 Jahre alt.

PS: Rick Laird im Victor Feldman Trio, 1965 (BBC)

erstellt: 05.07.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten

Manfred Miller, 1943-2021

Eine solche Spannweite wird es in der deutschen Jazzpublizistik nicht noch einmal geben.
Dass jemand Schlüsselalben des FreeJazz produziert und später wie kein zweiter in den Blues sich kniet, insbesondere in dessen Texte.
Konkret: 1967 dirigiert er einen Ü-Wagen, Personal und Bandmaterial in eine Schulaula, um „For Adolphe Sax“ von Peter Brötzmann aufzunehmen. Mit der damals streng verbotenen Konsequenz, dass der Künstler die Bänder an sich nimmt und in Form einer Langspielplatte auf den nach dieser Musik nicht gerade gierenden Markt bringt.
Das war 1967. Da hatte er gerade ein Studium der Philosophie und Musikwissenschaft in Köln abgebrochen und verdingte sich als Hilfsredakteur der Deutschen Welle.
Ein Jahr später, nun bei Radio Bremen als ordentlicher Jazz- & Popredakeur, lässt er erneut Mikrofone auf Peter Brötzmann richten, an einem Maien-Nachmittag in der „Lila Eule“, für das noch legendärere Album „Machine Gun“.
Freejazz Tv Miller 1Aus dem Juni 1967 kursieren Schnipsel durchs Internet, von einer sagenhaften Freitagnachmittag-Debatte im Ersten Deutschen Fernsehen (an Werner Höfers Hufeisen-Tisch - aber ohne Schoppen!), wo er den Advokaten des Teufels gibt und eloquent die Ästhetik des damals neuen FreeJazz gegen die störrischen Mienen von Felix Schmidt (Der Spiegel) und Siggi Loch verteidigt.
Unvergessen eine Überleitung des Moderators Siegfried Schmidt-Joos („Bevor wir Herrn Brötzmann zum Abschuss freigeben“) sowie der Moment, wo Klaus Doldinger kurz den Brötzmann gibt (und wild in den Raum quiekt).
Woraufhin er von Miller (im Bild ganz rechts) auf die Plätze verwiesen wird mit der Bemerkung, dass er damit doch nicht ein Konzert in der neuen Stilistik bestreiten könne.
An einem Mikrofon von Radio Bremen war es auch, wo er 1968 mit einer süffisanten Bemerkung über das Paradepferd der Bundeswehr, den Starfighter den Status einer Berühmtheit im Warhol´schen Sinne erlangte. Gerade war der 99. Starfighter abgestürzt, da gab Miller im „Pop Shop“ die Empfehlung aus:
„Freunde, stellt schon mal den Sekt kalt, der 100. kommt bald!“
Die Leitung des Hauses, man ahnt es, zählte sich nicht zu diesem Freundeskreis. Sie hieß ihn hinfort vorab Manuskripte einzureichen.
1972 wirkte er an der 13teiligen TV-Reihe „Sympathy for the Devil“ mit. 1973 - „mit politisch bedingten Unterbrechungen (zwischen 1975 bis 1984) bis 1986" (wie sein Nachfolger bei Radio Bremen, Peter Schulze anmerkt) folgten 52 Einstunden-Sendungen „Roll over Beethoven - Zur Geschichte der Populären Musik“ für Radio Bremen 2, aber auch NDR und WDR. Aus der Sendereihe ging eine Sammlung hervor, die seit 1991 unter Klaus-Kuhnke-Archiv für Populäre Musik in Bremen ansässig ist.
millerMillers Schwerpunkt hatte sich da schon weg vom FreeJazz und mehr zur Populären Musik (in einem sehr umfassenden Sinne) verlagert, Und vor allem: zum Blues!
1976 arbeitete er im SWF-Landesstudio Mainz, zunächst als freier Mitarbeiter, von 1981 bis 1999 als regionaler Kulturredakteur.
Bis in die 80er hinein jedenfalls wirkte er auf SWF 2 an der legendären 19:30-Uhr-Strecke mit, und zwar mit „Oldtime“ (!) und „Bluestime“.
Oh ja, der Blues! Verblüffend, auf discogs zu finden, wieviele Alben er kompiliert, für wieviele er liner notes geschfrieben hat. Mit dem Blues blieb er bis zuletzt über das von ihm mitbegründete und ihn schwer auszeichnende Bluesfestival in Lahnstein verbunden.
Wir dürfen sagen, wir haben vor allem von ihm gelernt, dass der Blues kein Kind von Traurigkeit ist (jedenfalls nicht durchgängig) und dass er nicht ewig über 12 Takte läuft.
Unvergessen, wie er sich in die Lyrik des Blues vertiefte, sie kongenial übersetzte und uns Frischlingen den erotischen Hintersinn so mancher braver Sprachfloskel entschlüsselte, darunter seine eigene Kategorie des (Sexual)Protzer-Blues.
Die Rentnerjahre verbrachte er wechselweise auf Elba und in Mainz.
Zuletzt machte er sich noch an ein publizistisches Großprojekt, dessen erster Teil unter „Um Blues und Groove – Afroamerikanische Musik im 20. Jahrhundert“ 2017 erschien. Man hätte gerne gehört, was er zur heutigen Duckmäuser-Debatte (hier Euro-Zentrismus, dort Afro-Amerikanismus) gesagt hätte.
Es bleibt allemal schade, dass er seine große Begabung nicht über die gesamte Lebenszeit zur Entfaltung hat bringen können. Er hätte in den Olymp der deutschen Jazzpublizistik gepasst, neben Peter Niklas Wilson, Ekkehard Jost, Alfons Dauer, ja auch Michael Naura.
Manfred Miller, geboren am 11. April 1943 in Reichenberg (ehemals Nordböhmen), ist am 4. Juni 2021 in Mainz einer Krebserkrankung erlegen. Er wurde 78 Jahre alt.

erstellt: 05.06.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten

 Miller Friedhof 1

 

Trauerhalle
Waldfriedhof
Mainz-Mombach
24.06.21

Paul Jackson, 1947-2021

Auf seiner Webseite firmiert er als The Headhunter.
Millionen leuchtet das ein. Er referiert damit zu der erfolgreichsten Produktion, an der er mitgewirkt hat:
an „Headhunters“ von Herbie Hancock, einem epochalen Album des Jazz-Funk, September 1973.
Den opener, „Chameleon“, hat er mitkomponiert. Das weltberühmte Bass-riff mit 12 Tönen über zwei Takten spielt …
nicht er, sondern Bandleader Hancock auf seinem damals gerade eingetroffenen Arp Odyssey Synthesizer.
Paul Jackson zupft auf seiner Baßgitarre in quasi afrikanischer interlocking Technik behende Patterns, die zwischen die Schwerpunkte fallen.
Paul Jackson"Paul Jackson war ein ungewöhnlicher Funk-Bassist, denn er mochte es nie, dieselbe Basslinie zweimal zu spielen, also reagierte er während der improvisierten Soli auf das, was die anderen Jungs spielten", sagt Hancock in seiner Autobiografie "Possibilities". "Ich dachte, ich hätte einen Funk-Bassisten angeheuert, aber wie ich später herausfand, hatte er eigentlich als Kontrabassist angefangen.“
Die Krönung dieser Sechzehntelnotenzappelei folgte ein halbes Jahr später: „Actual Proof“ (auf „Thrust“). Und, man glaubt es kaum, im Sommer 1975 setzen Hancock & Jackson live in Tokio noch eins darauf und enteilen der Band in einer noch waghalsigeren Performance (auf „Flood“).
Das liest sich anders als es klingt. Denn die restlichen vier stehen hellwach in der Form: dass die beiden Solisten so glänzen, hängt schließlich auch mit den stop times zusammen, mit sie den Wahnsinn noch befördern. Das Hancock-Zitat läßt sich umstandslos auf jene gut acht Minuten in Tokio beziehen.
Es markiert den Gipfel in Jacksons Karriere, für Herbie war es einer von mehreren.
Am Schlagzeug damals - wie auch für die folgenden Jahrzehnte an seiner Seite - der weiße Schlagzeuger Mike Clark. Man muß diesen Zusatz wählen, denn Clark gehört zu den ersten Weißen, die in dieser dominant afro-amerikanisch geprägten Zunft reüssierten.
Er kam auf Empfehlung Jacksons zu den Headhunters, nachdem der Studio-Drummer Harvey Mason die vielen Konzerte nicht absolvieren mochte.
Jackson und Clark kannte sich aus Jugendtagen in Oakland; Jackson soll schon mit 14 im Sinfonieorchester seiner Heimatstadt gespielt haben, am Kontrabass selbstverständlich. Ausgebildet wurde er am Konservatorium im benachbarten San Francisco.
Jackson pflegte einen „trockenen“ Stil, wenig slap-Technik, dafür viele melodische Kleinpatterns, oft mit glissando „angeschoben“. Wer das beherrscht, muss - of course - über timing verfügen.
1985 übersiedelte er nach Japan. Er blieb der US-Szene verbunden, die künstlerische Partnerschaft mit Mike Clark dauerte bis an sein Lebensende, auch wenn mehrere Re-Inkarnationen der Headhunters nicht mehr an das Niveau der 70er Jahre anschließen konnten.
Paul Jackson (nicht zu verwechseln mit dem im gleichen Genre tätigen Gitarristen Paul Jackson jr.), geboren am 28. März 1947 in Oakland/CA, ist am 18. März 2021 in einem Krankenhaus in Tokio verstorben, zehn Tage vor seinem 74. Geburtstag.

erstellt :20.03.21
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Jon Hassell, 1937-2021

Dass die Trompete heute manchmal nicht wie eine Trompete klingt, ist ein Echo seines Albums „Vernal Equinox“, 1978.
Was mit heutigem Vokabular als Ethno Jazz durchginge, erklingt dort zum ersten Mal: ein Rhythmusteppich aus brasilianischen, afrikanischen und indischen Mustern (gespielt von Nana Vasconcelos, 1944-2016), aber auch drones.
Die Trompete: mit Restbeständen des Jazz, indischer Tonalität, flirrenden elektro-akustischen Verfremdungen, ein exotisches, schwer beschreibbares Fluidum. 

Wenig später, als er diese Mischung weiter ausformuliert, u.a. mit Brian Eno, nennt er sie Fourth World Music: die Technologie aus der ersten, die meisten musikalischen Elemente aus der Dritten Welt, oder in seinen mitunter poetischen Worten: "ein einheitlicher primitiver/futuristischer Sound, der Merkmale ethnischer Weltstile mit fortgeschrittenen elektronischen Techniken kombiniert“.
Ausweislich seiner Discographie war er damit unter (im weitesten Sinne) Popkünstlern einflussreicher als im Jazz. Wohingegen sein sehr spezifischer Trompetenklang eher in letzterem, etwa bei Arve Henriksen und Nils Petter Molvaer, fortlebt.
Hassell stammt aus Memphis/Tennessee, war aber schon von seiner Ausbildung her ein Kosmopolit, u.a. mit Stationen in Indien und in Köln, bei Karlheinz Stockhausen. Das war Mitte der 60er, in einer Zeit - darauf kann kein Nachruf verzichten - als dort auch Holger Czukay und Irmin Schmidt, später Can, zu dessen Studenten zählten.
Zurück in den USA fand Hassell sich eher im Kreis der Minimalisten wie Terry Riley („In C“) und La Monte Young.
Die Mitwirkung an „My Life in the Bush of Ghosts“ brach er ab, erschien aber gleichwohl kurze Zeit später an der Seite von David Byrne bei den Talking Heads („Remain in Light“, 1980), mehrfach bei Brian Eno („Possible Musics“, 1980, „On Land“, 1982), bei Peter Gabriel, mehrfach bei Ry Cooder und sogar bei Jon Balke („Siwan“, 2009).

Hassell coverAuf seinen eigenen knapp 20 Alben verfeinerte er die Tongebung seiner Trompete, sodass auch bei ihm mitunter das Ausgangssignal in einem komplexen Klang verschwand, auf rhythmischer Ebene kam HipHop hinzu. Mit dessen Sample-Techniken hingegen stand er auf Kriegsfuß: "Jetzt sind wir im digitalen La-la-Land, nehmen eine Millisekunde oder ein paar Millisekunden von etwas, das in der digitalen Domäne ist, und machen daraus etwas anderes... es gibt kein Original mehr."
2020 muss ein hartes Jahr für ihn gewesen sein; im Studio ein Beinbruch und unter Pandemiebedingungen kaum Besuch für ein halbes Jahr. Covid 19-Risikogruppe.
Es war erneut Brian Eno (dem er einen 50-seitigen Brief geschrieben hatte), der nun einen Spendenaufruf für ihn organisierte. Das Geld soll nun u.a. dafür verwendet werden, zahlreiche Studioaufnahmen zu sichten.
Jon Hassell, geboren am 22. März 1937, starb am 26. Juni 2021 in seiner langjährigen Wahlheimat Los Angeles, „eines natürlichen Todes“, wie es aus der Familie heißt.
Er wurde 84 Jahre alt und hinterlässt ein stilistisch höchst eigenständiges Werk.
Keine große Überraschung seine Verehrung für „Bitches Brew“, woraus er freilich ganz eigene Konsequenzen gezogen hat.

erstellt: 27.06.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten

Ralph Peterson, 1962-2021

Ralph Peterson

Zu den unschönen Gewohnheiten in unserer kleinen Welt gehört es, bei Gelegenheit die Vergangenheit des Genres für vergangen zu erklären.
Und den Begriff Jazz gleich mit.
Zum Glück setzen aber solche Gegenwartsduseleien das 1. Jazz-Axiom nicht außer Kraft, das da lautet:
Der Jazz ist immer auch sein Gegenteil!
Die traurige Nachricht gibt die Chance, noch einmal Geschichten zu hören, die nicht den Lauf der Jazzhistorie geändert haben, die nicht in den Toplisten des Genres auftauchen, die einfach nur die Tugenden dessen auskosten, was man zutreffenderweise Jazz nennt.
Also, legen wir beispielsweise „V“ auf, den Einstieg von Ralph Peterson mit seinem Quintett bei Blue Note, im April 1988.
Hardbop vom „Fackelträger der Jazz Messengers“ (Jazziz) - obwohl wir den Traditionsbewahrer hier in einer ausgesprochenen Tony Williams-Phase erleben.
Herrschaften, was ist hier los! Wer kann sich einem solchen Sog entziehen?
Der Auftakt „Enemy within“ vertilgt den oben genannten Begriffsdünkel in einem Wirbelsturm.
Der nächste track „Monief“ hantiert u.a. mit einem 17/8 Takt und geht trotzdem ab wie eine Rakete.
„The Short End of the Stick“, ein bright swing im Tempo 220 bpm hat Vijay Iyer jüngst in dem Kongreßband „The Power of Geri Allen“ analysiert, namentlich das Solo von Geri Allen (1957-2017) darin.
Ach wer nie etwas von diesem Album gehört hat, bekommt unter Nennung des weiteren Personals (Terence Blanchard, tp, Steve Wilson, ss, as, Phil Bowler, b) eine Vorstellung von der eminenten Attaktivität dieser Musik.
Das ist jazz as jazz can, ein modernisierter Hardbop, ein unverwüstlicher Kernbestand, der es noch jedem, der sich daran versucht, einen persönlichen Zugriff erlaubt. Handwerk vorausgesetzt!
Allein unter diesem Aspekt ist „V“ ein Meisterstück.
Wie gesagt, es zeigt den Verstorbenen mit einer seiner stilistischen Referenzen (Tony Williams), wenngleich er vieles anders macht als der historische Vorgänger. Sein anderer historischer Bezugspunkt war Art Blakey, bei dem er als zweiter Drummer überhaupt mitwirken konnte.
Es war sein Einstieg in die Jazzwelt und zugleich sein Operationsfeld der letzten Jahre. Die „Fackelträger“-Bezeichnung ist nicht nur drum-stilistisch
(in Teilen) berechtigt, sondern auch in Bezug auf das Repertoire. Für seine letzte Veröffentlichung „Onward & Upward“ (2020) versammelt er erneut, wie schon den Vorjahren, Veteranen der Messenger-Jahre.
Peterson stammt aus einer Familie von Schlagzeugern, insgesamt 16 Jahre hat er in Boston an der Berklee School of Music unterrichtet; in derselben Stadt unterhielt er auch ein Taekwondo-Studio. Ja, er war ein sehr körperlicher Vertreter seiner Zunft, auf Fotos wirkt er häufig wie kurz vor dem Absprung.
Den hohen interaktiven Anteil seines Spiels hat er sich bis zuletzt bewahrt, in einem Trio mit den Curtis Brothers. Mit ihnen als Kern eines Quintetts wird in diesem Frühjahr ein Album erscheinen.
Peterson´s große Jahre waren die 80er und 90er. Später hatte er ein Drogenproblem, das er seinen Berklee-Studenten nicht verschwieg. Mit einigen aus diesem Kreis formierte er eine Big Band, deren Debüt „I remember Bu“, eine Hommage an Art Blakey.
Ralph Peterson jr., geboren am 20. Mai 1962 in Pleasantville/New Jersey, ist am 1. März 2021 an Krebs gestorben. Er wurde nur 58 Jahre alt.

erstellt: 02.03.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten