Matthias Winckelmann, 1941-2022

Eine Zeitlang in den 70ern, aber eben doch nur einen Wimpernschlag in der Geschichte des Jazz, belieferten zwei E-Labels Kopf an Kopf von München aus den Rest unserer kleinen Welt mit Tonträgern aus deutschen Presswerken: ECM, gegründet 1969, Enja, gegründet 1971.
Spätestens Ende November 1975 war das Rennen gelaufen (wenn es denn entgegen dem Anschein je eines gewesen war), als nämlich dem einen in Form des „Köln Concert“ einen Dukatenesel aufzustellen gelungen war.
„My Favourite Songs - The Last Great Concert“ von Chet Baker firmierte zwar Enja-intern scherzhaft als „unser Köln Concert“, konnte aber weder historisch und schon gar nicht kommerziell im Vergleich bestehen. Das war 1988. Da hatten sich die beiden Enja-Gründer, Horst Weber (1934-2012) und Matthias Winckelmann, zwei Jahre zuvor getrennt und die weitere Betreuung der Künstler des inzwischen stattlichen Label-Kataloges per Los untereinander aufgeteilt.
Matthias WinckelmannGestartet hatten sie ihr Unternehmen (neben den damals üblichen 20.000 DM, geborgt von Vater Winckelmann) mit dem szene-typischen Kapital aus Begeisterung und Engagement, als Fans.
Der European New Jazz stand zwar eingangs auf dem Türschild, und es fanden sich auch Namen wie Albert Mangelsdorff, Dusko Goykovich und Alexander von Schlippenbach unter den ersten Veröffentlichungen. Die Premiere des Labels aber fand mit Mal Waldron statt, dem damals in München lebenden US-Pianisten: „Black Glory“ (seltsamerweise über die gesamte A-Seite mit einem Stück namens „Sieg Haile“. Man würde den dezidierten Anti-Faschisten Weber gerne noch einmal darauf befragen.)
Dann kam und blieb für viele Jahre Dollar Brand/Abdullah Ibrahim. Es kamen Elvin Jones, Archie Shepp, Cecil Taylor, Eric Dolphy, Bennie Wallace (was für eine Aufregung 1978), der frühe John Scofield, der frühe Gary Thomas - Enja Records lief rund als schöner Gemischtwarenladen, ohne homogenes Klangbild, ohne optisches Corporate Design wie die lokale „Konkurrenz“.

In den 80ern schaute ein junger Mann namens Stefan Winter vorbei, lernte sein Handwerk bei Enja und zog dann mit besonders aufwändig gestyltem Katalog eigene Bahnen.
Those were the days. Weber zog sich mehr und mehr zurück, seinen Anteil führt seit 2001 Werner Aldinger fort. Später auch den von Winckelmann.
Der bleibt nicht nur als Produzent & Talentscout, sondern auch als Gastgeber in Erinnerung (kolportiert wird, dass letztere Rolle oft die Voraussetzung für erstere schuf).
Gerne auch als gefragter Interview-Partner, als einer, der dem Fragesteller den Eindruck vermittelte, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Unvergessen, wie er unsereins einmal die harte Auslese unter US-Jazzmusikern schilderte (von -Innen konnte noch kaum die Rede sein), gegenüber denen aus der deutschen Mittelschicht, die es ihnen erlaubt, die finale Berufsentscheidung lange hinauszuschieben…
Matthias Winckelmann, geboren am 7. April 1941 in Berlin, aufgewachsen in Frankfurt am Main, starb am 19. Juni 2022 in einer Münchner Klinik an den Folgen einer Operation. Er wurde 81 Jahre alt.

Foto: Ralf Dombrowski/enja
erstellt: 20.06.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Wolfgang Reisinger, 1955-2022

wolfgang reisinger 1Es war in einem Wiener Kaffehaus, heute früh, wo uns die Nachricht durch einen Gast überbracht wird: Wolfgang Reisinger, einer der großen (soviel Pathos ist erlaubt), einer der großen Jazzsöhne der Stadt, ist tot.
Sofort springen intensive, ja elekrisierende Erinnerungen auf: 1984, Moers Festival, noch in der alten Eissporthalle, Airmail mit Wolfgang Puschnig, as, Harry Pepl, g (1945-2205), Mike Richmond, b und Reisinger.
Ein Quartett, die Erinnerung trügt nicht, das kompetenter swingte als die meisten Amerikaner auf dem Festival.
Dann, natürlich, das Vienna Art Orchestra.
Noch impulsiver, eben dort 1987, die Pat Brothers mit Linda Sharrock, voc, Wolfgang Mitterer, keyb, Wolfgang Puschnig und Reisinger, eine der frühen Begegnungen, nein Konfrontationen von Jazz & Elektronik, in manchen Aspekten bis dato unerreicht.
Reisinger kommt von den Wiener Sängerknaben, er hat mit US-Jazzmusikern wie Dave Liebman gespielt.
Man ist geneigt, aus dieser biografische Klammer seine einzigartige Position zu destillieren: amerikanisches Handwerk, amerikanische time, europäisches Formbewußtsein, europäische Vielfalt.
Dave Liebman bringt es auf den Begriff: im Grund sei Reisinger ein Komponist, der zufällig als Schlagzeuger arbeite.
In nuce: er hat die Errungenschaften eines Jack DeJohnette europäisch ausformuliert. Viele Musiker, viele Hörer haben ihn dafür gefeiert.
Wer seine Discografie nimmt, kann an ihrem Zeitstrahl seit den frühen 80ern über mehrere Jahrzehnte Höhepunkte des österreichischen sowie des europäischen Jazz ablesen. Dazu Ausflüge in die ganz moderne Klassik mit Luciano Berio und den Londoner Sinfonikern.
Wolfgang Reisinger, geboren am 16. Juli 1955 in Wien, starb dortselbst am 8. Juni 2022 an den Folgen eines Aneurysma, er wurde 66 Jahre alt.

erstellt: 09.06.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Köln 75 ... und wen spielt Ulrich Tukur?

Ethan Iverson, meinungsfreudiger Ex-Pianist von The Bad Plus, hat die Nachricht wohl nicht richtig gelesen.
Jedenfalls twittert er:
„Jarrett als dramatisches Thema für einen modernen Film? Da fällt mir die Kinnlade runter!“
Ja, Köln 75, soviel ist korrekt, handelt natürlich von den berühmt-berüchtigten Umständen von Keith Jarretts Köln Concert, in der Kölner Oper am 24. Januar 1975.
Mala EmdeTatsächlich aber tritt in diesem Film eine Person von hinter dem Vorhang auf die (Film)Bühne.
Die Meldung bei Variety lautet korrekt:
„Köln 75 erzählt die wahre Geschichte von Vera Brandes, die 1975 im Alter von 17 Jahren das berühmte Köln Concert des Jazzmusikers Keith Jarrett inszenierte, das zum meistverkauften Jazz-Soloalbum aller Zeiten wurde“.
Brandes wird im Film von der deutschen Schauspielerin Mala Emde ("Charité") dargestellt, die Rolle des Keith Jarrett übernimmt der Amerikaner John Magaro.
Die Dreharbeiten beginnen noch in diesem Jahr. Regisseur ist der aus Israel stammende Ido Fluk, produziert wird der 110 Minuten lange Spielfilm von der Berliner Company One Two Films.
Und da einstweilen wenig mehr bekannt ist als die Besetzungsliste, darf man raten, wessen Rolle denn wohl Ulrich Tukur übernehmen wird?
Die des Klavierstimmers?
Die des Produzenten Manfred Eicher?
Wenn letzterer, dann wird man Tukur und Magaro unbedingt in einem Renault R4 sehen müssen.
In diesem Gefährt machten sie sich bekanntlich auf den Weg aus der Schweiz in die Domstadt, um besser an den Reisespesen zu partizipieren.

Foto Martin Kraft, CC BY-SA 4.0
erstellt: 01.06.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

 

 

Adelhard Roidinger, 1941-2022

RoidingerWer ihm begegnet ist, hält seine markanten Gesichtszüge in Erinnerung,
wer ihn gehört hat, seinen muskulösen Bass-Sound.
In den 70er und 80er Jahren fand man ihn an der Speerspitze vieler europäischer Jazzprojekte,
mit Wolfgang Dauner, mit Hans Koller, aber auch mit Außereuropäern in Europa,
mit Anthony Braxton oder Yosuke Yamashita.
Er war, wie es dort heißt, „outspoken“, also um Worte nicht verlegen, ein dankbarer Interviewpartner.
Auch war ihm Angst vor neuen Technologien fremd (wie später ebensowenig Angst vor Mikrotonalität).
1984 entwarf er ein „Computer & Jazz Project I“. Auf dem Cover, ganz im Stile der Zeit,
ward der gesamte Fuhrpark aufgeführt, darunter auch ein Apple IIe.
Das Resultat klang so gänzlich anders nicht, darunter Zappel-ostinati  und keyboard-Flächen,
die Bässe führte er in einer Mischung aus Eberhard Weber und Jaco Pastorius.
Zuletzt bediente er einen siebensaitigen Tenorbass.

In Erinnerung bleibt er nicht nur als als Baß-, sondern auch und Jazz-Pädagoge; die von ihm gegründete Jazzabteilung an der Anton Bruckner-Universität in Linz/A leitete er bis 1994. Weniger bekannt, dass das Studium von Jazz-Bass (1962-65) und Jazz-Komposition (1968-73) in den ersten sieben Jahren begleitet wurde vom einem Studium der Architektur, gleichfalls in Graz. Und so lief denn auch der Hochschultätigkeit in Linz eine solche an der TU Graz voran.
Seine räumlichen Vorstellungen machten dabei auch nicht vor dem Jenseitigen halt. Seine Webseite fächert seine Orientierungen in neun Bereichen auf, darunter solche mit zweifelsfrei esoterischer Perspektive.
Adelhard Roidinger, geboren am 28. November 1941 in Windischgarsten (Oberösterreich) starb, wie erst jetzt bekannt wurde, überraschend am 22. April 2022 in seiner Wohnung in Wien. Er wurde 80 Jahre alt.

erstellt: 02.05.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Deutscher Jazzpreis 2022

Vokal: Fola Dada
Holzblasinstrumente: Gebhard Ullmann
Blechblasinstrumente: Shannon Barnett
Piano / Keyboards: Pablo Held
Gitarre: Ferenc Snétberger
Bass: Robert Landfermann
Schlagzeug / Perkussion: Oliver Steidle
Besondere Instrumente: Aly KeïtaDeutscherJazzpreis logo 480x305Künstler des Jahres: Charlotte Greve
Band des Jahres: Punkt.Vrt.Plastik
Großes Ensemble des Jahres: Trickster Orchestra
Blasinstrumente international: Emile Parisien
Piano / Keyboards international: Sylvie Courvoisier
Saiteninstrumente international: Linda May Han Oh
Schlagzeug / Perkussion international: Marilyn Mazur
Künstler des Jahres international: Michael Mayo
Band des Jahres international: Sons of Kemet
Album Instrumental des Jahres: Nils Wogram – Muse
Album Vokal des Jahres: Efrat Alony – Hollywood Isn´t Calling
Debüt-Album des Jahres: Magro – Trippin
Rundfunkproduktion des Jahres: WDR 3 / States of Play: Sonifikation
Album Instrumental des Jahres international: Charles Lloyd & the Marvels – Tone Poem
Album Vokal des Jahres international: Gretchen Parlato – Flor
Debüt-Album des Jahres international: Tijn Wybenga & AM.OK – Brainteaser
Spielstätte des Jahres: Stadtgarten Köln
Festival des Jahres: XJAZZ! Festival
Komposition des Jahres: Rebecca Trescher – Paris Zyklus | The Spirit of the Streets
Arrangement des Jahres: Tilo Weber – Se la mia morte brami
Journalistische Leistung: Andrian Kreye
Lebenswerk: Ernst-Ludwig Petrowsky
Sonderpreis der Jury: Sebastian Gramss‘ HARD BOILED WONDERLAND – Music Resistance

Wer die Preisverleihung zum Deutschen Jazzpreis 2022 schaut, tut das immer noch mit Genugtuung, dass dadurch die Zeiten des Echo Jazz überwunden sind.
Die Aufgeregtheiten der Premiere im vergangenen Jahr sind reduziert, die Dauer sogar um die Hälfte, ohne dass man sagen könnte, die Feier habe schon eine Form gefunden.
Ein Schwenk in die nicht voll besetzten Metropol-Theater-Ränge in Bremen widerspricht der Beobachtung der Co-Moderatorin Hadnet Tesfai („die deutsche Szene hat sich ´rausgeputzt): Nominierte, Preisträger und Entourage flezen sich im üblichen Räuberzivil, pardon casual look.
Die meisten Ausgezeichneten werden zügig im Videoschnitt durchgeblättert, nur wenige müssen sich dem Risiko stellen, auf der Bühne gaanz plötzlich Dankeschön zu müssen.
Emile Parisien, der wohl eloquenteste Sopransaxophonist des Jazz der Gegenwart, schlittert auf diesem Gebiet einher. In seinem Wortstrudel klingt noch das Drei-Buchstaben-Label an, das ihn vertritt und welches früher auf Auszeichnungen abonniert war.
Der Deutsche Jazzpreis hat mit dieser Echo-Unsitte gebrochen, manchen Entscheidungen von Vor- und Hauptjury ist sogar eine Portion Mut nicht abzusprechen:
Robert Landfermann als Bassis des Jahres, (im Vorjahr war er noch Eva Kruse unterlegen), Punkt.Vrt.Plastik als „Band des Jahres“ - chapeau!
Der Deutsche Jazzpreis betont und belohnt Zeitgenossenschaft (nicht immer überzeugend und nicht immer ohne hippe Momentstimmung, wie könnte es bei Juryentscheidungen anders sein?).
Struktur-konservative Jazzkreise (in die wir hineinhorchen, aus denen wir aber nicht zitieren dürfen) sehen sich dadurch ausgegrenzt. Sie reagieren zum Beispiel verbittert auf die späte Ehrung von „Luten“ Petrowsky, 88 - und übersehen, das ihm der Albert Mangelsdorff Preis bereits 1997 überreicht wurde.
Der Frauen-Anteil (wie man früher zu sagen pflegte) rückt auch hier der dort schon praktizierten „Gleichstellung“ nahe, jedenfalls ist er viel höher als ihr Anteil an den Ausübenden (wie man sich heute ´rausreden kann), nämlich 20 Prozent.
Das kann man als Fortschritt sehen. Der aber auch eine unangemessene Seite hat: Marilyn Mazur in „Schlagzeug/Perkussion international“ vor Nasheet Waits und einem Neuerer wie Chris Dave, das klingt nach einer Neuauflage der Eva Kruse-Groteske vom letzten Jahr.
Lukasheva 2022 1

 Der Kölner Bassist Sebastian Gramss war dreimal nominiert, ausgezeichnet immerhin zweimal: für ein in der Tat avanciertes musikalisches Projekt in der Kategorie „Rundfunkproduktion des Jahres“.
Zudem und vor allem und unter großer Geste auf der Bühne, für eine Ansammlung sozialkritischer Splitter, die fraglos seit dem 24. Februar 2022 in einem anderen Licht erscheint (eindrücklich personifiziert durch die aus Odessa stammende Sängerin Tamara Lukasheva).
Der nunmehr auch spenden-aktivierende Teil des Projektes steht außer Frage, seine Überschrift aber - Music Resistance - signalisiert einmal mehr die Bereitstellung eines ruhigen Gewissens, ohne die eine Veranstaltung so vieler Gutmeinender nun einmal nicht auskommen kann.

erstellt: 28.04.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Charnett Moffett, 1967-2022

Heiri Kaenzig, Schweizer Basslegende, hat jüngst seine Fraktion als „Diplomaten“ bezeichnet. Wie jene wirkten die Bassisten im Hintergrund und vermittelten zwischen Rhythmus- und Melodiegruppe eines Ensembles.
Dieses Bonmot fällt einem bezüglich Charnett Moffett sogleich ein, er war in diesem Sinne - amerikanisch gesprochen - Diplomat „on a grand scale“, von Kenny Garrett bis Tony Williams, von Ornette Coleman bis Branford und Wynton Marsalis, nicht zu vergessen 16 Alben unter eigenem Namen, zuletzt „Round the World“ (2020).
Moffett, Sohn des Schlagzeuger Charles Moffett (1929-1997), war ein Mann für viele Gelegenheiten, seine Diskographie umfasst mehr als 150 Produktionen. Zuletzt sah man ihn vermehrt an der Baßgitarre.
In den letzten Jahren litt an einer Nervenerkrankung.
Charnett Moffett, geboren am 10. Juni 1967 in New York City, erlag am 11. April 2022 in Standford/CA einem Herzinfarkt. Er wurde nur 54 Jahre alt.

erstellt: 14.04.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Ron Miles, 1963-2022

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Er gehörte nicht zu den Instrumentalkollegen mit der „Feuerwehr-Spritze“, die, wie Eberhard Weber das kennzeichnen würde, die das Blaue vom Himmel spielen.
Sein Ton, oft auf dem Kornett, trocken, verhalten, brüchig. Weit weg von dem, mit dem man ihn der Namensgleichheit wegen verwechseln könnte.
Miles gehörte zu den Melodikern.
"Wenn man einen Ron Miles-Song richtig spielt, muss man im besten Fall weinen", sagt Pianist Jason Moran nun gegenüber National Public Radio (NPR).
"Denn die Songs waren voll. Ich vergleiche es mit der Art, wie John Coltrane 'Lonnie's Lament' gemacht hat. Er wusste, wie man die Freude in einer Melodie findet, und er wusste, wo das Herz in ihr steckt. Selbst in dem Moment, in dem man sie spielt, überkommt es einen einfach. Eine Menge Musik, die wir spielen, hat das nicht, sie hat es einfach nicht“.
Jason Moran gehört zum Personal von Miles´ letztem Album „Rainbow Sign“ (2020), seinem zwölften.
Darauf auch zwei seiner Langzeitpartner, Brian Blade, dr, und Bill Frisell, g.
Letzterem schickte er eine Bewerbungscassette, sein erstes Album mit ihm war „Quartet“, 1997.
Beide haben - wenn auch in zeitlichem Abstand - die gleiche High School in Denver besucht. Miles kam aus Indianapolis im Alter von 11 Jahren dorthin, die Eltern hielten die Luft in Colorado für besser angesichts seiner Asthma-Erkrankung.
Miles versuchte sich zunächst in Elektrotechnik, wechselte dann zur Musik in Boulder/CO, seinen Master machte er an der Manhattan School of Music, kehrte dann aber wieder nach Denver zurück.
Für jemanden aus der (Jazz)Provinz hat er eine erstaunliche Karriere gemacht.
Ronald Glen „Ron“ Miles, geboren am 9. Mai 1963 in Indianapolis ist am 8. März 2022 in Denver verstorben. Die Ursache ist eine seltene Bluterkrankung. Er wurde  58 Jahre alt.

Foto: Elliot Ross
erstellt: 08.03.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Badal Roy, 1939-2022

Lange nichts mehr gehört von Badal Roy.
Sein letzter Eintrag in der JC-CD-Datenbank (die nicht vollständig ist) datiert von 2006: Mitwirkung auf dem Album „Borrowed Time“ von Steve Khan.
Aber jetzt, wo sein Name aus traurigem Anlass wieder auftaucht, erklingt zugleich auch eine ganze Ära. Sofort ist Miles Davis „On the Corner“ (1972)
wieder da.
Oder „My Goal´s beyond“ (1971) von John McLaughlin, sein Einstieg in die professionelle Jazzwelt; ein Hobbymusiker, plötzlich inmitten von Jazzstars.
Seine Jazzinteresse ward 1963 durch ein Konzert von Duke Ellington in Pakistan geweckt. 1968 zog er von Ost-Pakistan nach New York City, nicht der Musik wegen, sondern um Statistik zu studieren.
Seinen Lebensunterhalt finanzierte er sich als Kellner im „Pak India Curry House“ in Greenwich Village, an Wochenenden trat er mit einem Kollegen an der Sitar als Tablaspieler auf, im „Taste of India“.
Ein Stammgast gesellte sich irgendwann dazu. Nach sechs Monaten des gelegentlichen Jammens lud jener ihn im März 1971 ins Studio ein: zu den Aufnahmen von „My Goal´s beyond“.
Im selben Jahr gastiert Miles Davis im „Village Vanguard“. McLaughlin rät den beiden Studenten, sie sollten sich rasch ein Blocks weiter in die Bleecker Street begeben und Miles vorspielen.
Ja, the rest is history, fast eine Tellerwäschergeschichte des Jazz.
Badal RoyAm 1. Juni 1972 sitzt Badal Roy im Columbia Studio B:
"Es gab keine Probe, und als Miles hereinspazierte, wusste keiner von uns, was er tun sollte. Plötzlich sagt Miles zu mir: 'Du fängst an' - keine Musik, kein Nichts, einfach so. Mir wird klar, dass ich den Groove vorgeben muss, und ich beginne einfach einen TaKaNaTaNaKaTin-Rhythmus zu spielen. Herbie (Hancock) nickt mit dem Kopf im Takt und mit einem 'Yeah!' fängt er an zu spielen. Eine Zeit lang sind wir beide allein, dann kommen John (McLaughlin) und Jack (deJohnette) hinzu.
Dann fangen die anderen an, und es ist das reinste Chaos, zumindest für mich. Ich werde in dem Lärm völlig übertönt. Ich spiele weiter, aber in der nächsten halben Stunde höre ich keinen einzigen Beat, den ich spiele“ (Interview im Telegraph, India).
Roy verlässt das Studio noch irritierter als vor ihm Josef Zawinul (der nach den Sessions zu „Bitches Brew“ rätselte, wie daraus Musik werden könne). Und obwohl er 1972 ein Exemplar von „On the Corner“ erhielt - so geht diese schöne Schnurre weiter vom Tellerwäscher, der Koch wurde  - will er es sich erst 1995 (!) angehört haben.
Mit Begeisterung.
Nachdem sein Sohn daheim die frohe Botschaft aus der Uni verkündet habe: „Alle HipHop-Typen bei uns sampeln es“.
Der Frust über „On the Corner“ hielt ihn freilich nicht ab, dem Lärm bei Miles sich noch für „Big Fun“ und „Get up with it“ auszusetzen.
Und dann ging es erst richtig los für den Tablaspieler, der ein Hobby zum Beruf machte, ohne die strengen Ausbildungs-
routinen der klassischen indischen Tradition bestanden zu haben.
Sein Spiel auf den Tablas klingt einfach gut, im Mix wurde es oft prominent herausgestellt. Und Auftraggeber von Dave Liebman bis Ornette Coleman, von Herbie Mann bis Pharoah Sanders, von Yoko Ono bis Andreas Vollenweider dürften gewusst haben, was sie an ihm hatten.
Nach einem indischen Percussion-Abitur haben sie bestimmt nicht gefragt. Und auf die Frage nach seiner „Authentizität“ dürften sich kontinental abweichende Antworten ergeben (wie es der indische Telegraph nahelegt):
„Den Westen hat er zwar für sich gewonnen, aber bei den Indern ist Badal Roy noch wenig bekannt. Für diejenigen, die Tabla mit klassischer Musik gleichsetzen und deren Ohren auf die scharfen Tukras der Hindustani-Klassik eingestellt sind, würde seine Spielweise - ein grooviger, bassiger Sound - fremd klingen“.
Badal Roy, geboren als Amerendra Roy Choudhury, am 16. Oktober 1939 in Kumilla (Britisch Indien, heute Bangladesch), ist am 18. Januar 2022 in Wilmington/Delaware verstorben. Er wurde 82 Jahre alt. Als Todesursache wird Covid-19 genannt.

Foto: discogs.com
erstellt: 29.01.22

©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

Emil Mangelsdorff, 1925-2022

Im Zentrum des Hurrikans - wir erinnern uns an das Paradox vage aus dem Erdkundeunterricht - herrscht Stille.
Man ist geneigt, dieses Phänomen in einem - selbstverständlich abwegigen Vergleich - auf Frankfurt am Main zu übertragen, das Zentrum des Wirkens der Gebrüder Mangelsdorff.
Obwohl der Fußabdruck der beiden in der Jazzgeschichte ungleich ist, unterliegen gewisse Instanzen in Mainhattan der Verwechslungsgefahr.
Jüngst spricht die FAZ (online, 21.01.22) in einem Nachruf auf Emil von Aktivitäten „gemeinsam mit seinem älteren Bruder Albert…“.
Und korrigiert einen Tag später. 
Denn es war bekanntlich der ältere, Emil, der in dem später berühmteren, Albert, die Jazzbegeisterung überhaupt erst geweckt hat.
Gravierender und sicher legendär die Verwechslung der beiden durch die seinerzeitige Oberbürgermeisterin Petra Roth bei einem Festkonzert zum 70. Geburtstag von Albert im September 1998 in der Alten Oper.
Albert steht neben der Laudatorin, sein Instrument, die Posaune, spielbereit im Arm, und er erträgt stoisch das wiederholte Scheitern der obersten Repräsen-tantin der Stadt - bei zunehmendem Raunen des vollbesetzten Hauses - an zwei Klippen in ihrem Manuskript: sie spricht ihm, völlig korrekt, große Verdienste zu - aber auf dem falschen Instrument. Zweimal.
Auch Wohlmeinende, die von der echten Wertschätzung der Politikerin für den Künstler berichten, die ihn mehrfach live erlebt habe, sogar in New York, und auch dort nie und nimmer auf dem Altsaxophon, sie sind irritiert.
Der weiteren Karriere der Oberbürgermeisterin, wie auch?, hat dieser Fauxpas nicht geschadet.
Emil MangelsdorffAber, wie es sich lebt, in derselben Gattung neben einem solchen Giganten, die Bürde, der Zwiespalt, sie klingen unvermeidlich jetzt in den Nachrufen mit an. Beispielsweise in diesem FAZ-Satz über Emil:
„Mindestens so bedeutend wie Mangelsdorffs Verdienste als Musiker war seine Zeugenschaft über die NS-Zeit“.
Mutmaßlich weil letztere jenseits der Musik viel leichter nachvollziehbar sind, twittert nun auch der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier:
„Er hat sich nicht nur um die Kultur in Hessen verdient gemacht, sondern als Zeitzeuge der dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte wertvolle Erinnerungsarbeit geleistet“.
Das ist wahr. Emil hat weitaus mehr unter den Nazis gelitten als Albert. Als er 1942/43 am Dr. Hoch´schen Konservatorium Klarinette studierte, geriet er auch als Mitglied der „Swingjugend“ in den Fokus der Gestapo.
Er wurde zum Reichsarbeitsdienst, „dann zur Wehrmacht und schließlich an die Ostfront beordert (…), wo er nach Kriegsende in russische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er erst 1949 wieder freikam“ (Wolfram Knauer, 2019).
„Jazz war für ihn untrennbar verbunden mit der Idee von Freiheit und Gleichheit aller Menschen“, wie es in einem Nachruf der FR heisst; er hat u.a. in Schulen über seine Zeit in der Diktatur berichtet.
1949 stieß er zu den Mitbegründern des Modernen Jazz in Frankfurt; wechselte zum Altsaxopophon, wechselte von Swing zu Bebop und anderen Stilen der neuen Zeit - aber niemals zum FreeJazz.
Hier trennten sich die Auffassungen der Brüder, die zwar im legendären Jazzensemble des HR zusammen spielten, später aber immer weniger:
„Das ist mir lange sehr nahe gegangen. Aber wir haben trotzdem zusammen gespielt, wenn ein Veranstalter einen gemeinsamen Auftritt buchte“ (jazzpages).
Auch er hat, wie sein jüngerer Bruder, mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter den Bundesverdienstorden.
Emil Mangelsdorff, geboren am 11. April 1925 in Frankfurt am Main, ist ebendort am 20. Januar 2022 gestorben. Er wurde 96 Jahre alt.

Foto: Wikipedia, CC
erstellt: 22.01.22

©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten

 

Mtume, 1946-2022

James Mtume Ted Talk 1Dass in der New York Times der Pop- und nicht der Jazzkritiker den Nachruf schreibt, ist kein Zufall.
Aus letzteres Zuständigkeitsfeld hatte er sich schon lange verabschiedet, spätestens seit 1983, seit seinem Soul-Hit „Juicy Fruit“. Wer dies jetzt nachhört, weil ihm der Künstler schon vorher aus dem Fokus geraten ist, der muss sich doch sehr wundern, warum dieses blasse Etwas in 100 weitern Songs gesampelt worden sein soll.
Dieses „vorher“, das ist für Jazzohren interessant. Denn es fand auf höchsten Höhen statt: zwischen 1971 und 1975 bei Miles Davis.
Studio-Einstieg für ihn war nicht wie nun vielfach reportiert das Album „On the Corner“. Einstieg für ihn war am 9. März 1972 das Columbia Studio C in New York City für „Red China Blues“, veröffentlicht erst später auf „Get up with it“, 1974.
An den eigentlichen „On the Corner“-Sessions im Juni 1972 ist er nicht beteiligt, erst wieder im September 1972 bei „Rated X“, gleichfalls auf „Get up with it“.
Dort (aufgenommen am 7. Oktober 1974) ist auch ein Namensstück entstanden „Mtume“, ein ungemein drängender Zappelfunk mit viertaktigem swing-Einschub. Wenn man erwähnt, dass dort drei Gitarristen wha-wha schrubben, die offene hi-hat von Al Foster neben Mtumes Percussion-Gebimmel, unter Bodenhaftung von Michael Hendersons Baßgitarre - lässt einen schon die Imagination nicht mehr ruhig sitzen. Ein absolut zeitloser Aufreger.
James Forman, geboren am 3. Januar 1946 in Philadelphia, ist der leibliche Sohn des Saxophonisten Jimmy Heath (1926-2020), seinen bürgerlichen Namen hat er von seinem Ziehvater James „Hen Gates“ Forman, einem Jazzpianisten.
Seinen Namen Mtume („der Botschafter“ in Swaheli) bekam er in einer black nationalist group; er behielt ihn, als er 1969 die Organisation verließ.
Als Miles Davis ab 1975 für mehrere Jahre pausiert, schließt er sich mit dem Davis-Gitarristen Reggie Lucas der Band von Roberta Flack an, ein Stück der beiden wird ein Hit für sie. Es folgt, s.o., eine Karriere abseits des Jazz.
James „Mtume“ Forman ist am 9. Januar 2022 in South Orange/New Jersey an Krebs gestorben, wenige Tage nach seinem 76. Geburtstag.

Foto: Ted Talk, 2019
erstellt: 14.01.22

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Pat Martino, 1944-2021

pat martinoGleich noch mal „Live at Yoshi´s“ aufgelegt, den Mitschnitt aus dem Club in Oakland/CA aus dem Dezember 2000. Und gleich im Anschluß „Remember“, sein Tribut an Wes Montgomery aus dem August 2006.
Yeah, that´s Jazz!
Musik direkt aus dem Maschinenraum der Gattung. Was auch immer oben, auf den verschiedenen Decks passieren mag, die Energie kommt von hier!
Hier stehen die Aggregate, hier werden sie geölt, sie halten den ganzen Laden am Laufen.
Hier braucht´s weder postmodernes Vokabular, um zu beschreiben, was man hört, keine Anleihen bei exotischen Genres. Was hier geschieht, darauf können sich alle Fraktionen blitzschnell einigen: das ist Jazz!
Sozusagen der Gattungsbegriff in „reiner“ Form zum Klingen gebraucht, ohne jeden ironischen Unterton, ohne Legitimationsfragen. Wer sich hiervon mitreißen lässt, muss nicht um Verständnis bitten.
Blues, Shuffle, uptempo swing, tradin´ fours - die Begriffe drängen sich geradezu auf. Vor allem das Ternäre, die Triole, Kern vieler (nicht aller) Schulen der Jazzphrasierung.
Wer hat je so triolisch durchphrasiert, auch in hohen Tempi, auch in unruhigen Gewässern wie - als nächstes im CD-Player - bei „Joyous Lake“ (1976), seinem kurzen Ausflug in den Jazzrock, u.a. mit Delmar Brown, keyb (1954-2017) und Kenwood Dennard, dr.
Und dann, immer wieder, diese Repetitionen, diese Kreiselbewegungen kurzer Motive; „wie aus der Hüfte geschossen“, möchte man beinahe formulieren, aber dafür laufen sie viel zu rund,  verlieren nie den Halt. Der englische Gitarrist Ant Law hat diese Gestalt als 6-Noten-lick beschrieben sowie die Bedeutung der dicken Saiten für seinen Sound betont (der ihn als einen Vorgänger von Pat Metheny ausweist).
Eben wegen der dicken Saiten, betont der Kölner Gitarrenexperte Lothar Trampert, finde man bei ihm kaum vibrato und bendings (Tonbeugungen), von der Tonhöhenbehandlung her erkennt er eine Ähnlichkeit eher zum Piano.
Auf nicht wenigen Fotos sieht man Pat Martino als gut gekleideten, gut aussehenden Herrn, ein Gentleman, der auch an seinem Instrument nie die Contenance verliert.
Martino (auch sein Vater, gleichfalls Musiker, wählte schon dieses Pseudonym) hat nie eine Akademie von innen gesehen. In Dennis Sandole hatte er denselben Musiklehrer wie John Coltrane, den großen Rest aber hat er autodidaktisch erworben.
Insbesondere anhand eines Modells: Wes Montgomery (1923-1968).
„Als ich dreizehn Jahre alt war, saß ich vor einer Platte, ´Groove Yard ´(1961) auf Riverside Records, die Montgomery Brothers, und hörte sie mir auf dem Plattenspieler meines Vaters an... Ich saß auf dem Boden und versuchte, die Soli zu kopieren, und als Kind hoffte ich, dass ich eines Tages so spielen könnte. Und genau das hatte ich vor, als dieses Projekt in den Vordergrund rückte. Ich wollte das erreichen, was ich mir als Kind vorgenommen hatte, jetzt, wo ich die Fähigkeit dazu habe“ (Martino über „Remember“).
Ein Jahr zuvor - solche Andekdoten lieben wir ja im Jazz - soll kein Geringerer als Les Paul (1915-2009) erwogen haben, bei dem zwölfjährigen Pat Unterricht zu nehmen.
1997 gastiert er bei ihm, neben anderen Instrumental-Kollegen, auf „All Sides now“. In der Folge veröffentlicht er eine Reihe bemerkenswerter Alben für Blue Note.
Martino hat mit allen Helden der Hammond B3, der Schweineorgel, gearbeitet: Jimmy Smith, Jimmy McGriff, Don Patterson, Jack McDuff (sein „Mac Tough“ ist ihm gewidmet), Richard Holmes, zuletzt Joey DeFranceso.
Er hat zwei gravierende Schicksalsschläge überstanden: 1980 ein Gehirn-Aneurysma (dass er danach das Gitarrespielen vollkommen neu erlernen musste, hat er in seiner Autobiographie korrigiert), 1994 einen Gehirntumor.
Der letzte Eintrag in seinem Tourneekalender: 24. November 2018, Mantova, Italien, mit einem Orgeltrio (Pat Bianchi, org, Carmen Intorre, dr), ein paar Wochen zuvor war er auch im domicil, Dortmund.
Ende 2018 verschlechtert sich sein Gesundheitszustand, seine Ersparnisse sind aufgebraucht, über das Internet erfolgt ein Spendenaufruf, der mit 250.000 Dollar weit mehr als die projektierte Summe einbringt.
Im Mai 2021 veröffentlicht sein Manager Jo Donofrio ein Bulletin:
„Patrick C. Azzara, auch bekannt als Pat Martino, befindet sich nach wie vor in demselben Zustand, in dem er aufgrund einer chronischen Atemwegserkrankung, die seine Lungen daran hindert, Sauerstoff aufzunehmen, rund um die Uhr behandelt werden muss“.
Am 1. November 2021 teilt er dessen Tod mit.
Pat Martino, geboren als Patrick Azzara am 25. August 1944 in Philadelphia, starb am 1. November 2021 zu Hause in Philadelphia. Er wurde 77 Jahre alt.

PS: Pat Martino Trio live im Moods, Zürich, 2018

Foto: Mark Sheldon (patmartino.com)
erstellt: 02.11.21

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Ulrich Kurth, 1953-2021

Als er im April 1990 Leiter der WDR-Jazzredaktion wurde, zog eine mehr journalistische Perspektive ein.
Die entsprechende Praxis hatte er 1984 als Musikredakteur im Kabelpilotprojekt Dortmund und ab 1987 im WDR-Landesstudio Bielefeld gelernt.
Zur Arbeitsplatzbeschreibung gehörte dabei nicht nur Berichterstattung, genreübergreifend, sondern auch Widerspruch gegen den Studioleiter, ein Prachtexemplar der damals noch obwaltenden „Landesfürsten“, die die musikalische Topographie ihrer Region durch deren Chöre vollumfänglich repräsentiert sahen.
Das neue Sujet in Köln war Kurth keineswegs neu. Seine theoretische Legitimation dazu hatte er 1981 an der Universität Kiel hinterlegt, in einer Dissertation unter dem Titel „Aus der Neuen Welt: Untersuchungen zur Rezeption afro-amerikanischer Musik in der Europäischen Kunstmusik des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts“.
Der praktische, ja ausgesprochen manuelle Teil der Legitimation, an den Studienorten Bonn, Berlin, Kiel gereift bis zu einem „semi-professionellen“ Level, ging dem vorauf und kam 1979 zum Abschluß: da folgte auf seinen Posten in der Hamburger Band Stintfunk ein 18jähriger Pianist namens Hans Lüdemann.
Ab 1973 pilgerte er zu einer Veranstaltung, die er dann zwischen 1990 und 1998 backstage als Redakteur begleitet hat: das Moers Festival.
Wie sein Vorgänger (Manfred Niehaus) und seine Nachfolger (Markus Heuger, Bernd Hoffmann, Tinka Koch) hat Ulrich Kurth Clubs, Festivals und zahlreiche Künstler gefördert, manche auch mehr.
Mit seinen 10 Jahren als WDR-Jazzredakteur verbindet sich insbesondere die Karriere des Jazzkomponisten Klaus König, dessen Big Band Projekt „The Song of Songs“ 1993 beim Jazzfest Berlin uraufgeführt, und - those were the days, my friend - zuvor im „Spiegel“ umfassend gewürdigt wurde.
Uli Kurth 1

 

 

 

 

 

 

 

im WDR-Studio:
Ulrich Kurth, Tom Rainey, Gianluigi Trovesi, Markus Stockhausen (vlnr)
Foto: WDR/Kaiser


Er hatte Schwerpunkte, ja; aber seine generelle Linie lässt sich am besten mit einem Geri Allen-Titel wiedergeben, „Open on all Sides - in the Middle“.
Oder, in den Worten einer Kondolenz-Mail, die uns aus dem Tal erreicht: „Mit einem stillen Grinsen denke ich daran, wie er von der dogmatischen Stieseligkeit mancher Wuppertaler genervt war. Er gehörte noch zu den Leuten, denen das Sujet ein großes Anliegen war“.
Und dieses Sujet hörte einfach nicht auf, auch in-house als Anliegen verteidigt werden zu müssen. Zum Beispiel 1997 in einem herrlichen Über-die-Bande-Spiel mit der Lokalpresse gegen einen Hörfunkdirektor, dessen Dienstzimmer ihn als Rocker auswies, dem aber für die ältere, weniger populäre Nachbargattung, selbst in den Nachtstunden, das Verständis auszugehen drohte.
Ulrich Kurth war ein umgänglicher, ein beliebter, ein heiterer Mensch, und ich darf sagen: ein höchst angenehmer Chef.
1996 wurde bei ihm „MS“ diagnostiziert. Einschränkungen stellten sich zunächst kaum merklich ein; später betrieb er großen Aufwand, sie zu verbergen - er hing einfach zu sehr an seinem „Sujet“.
Anfang der 2000er Jahre beendete er sein Berufsleben als Teamchef Musik von WDR 3. Später veröffentlichte er eine Monografie über Tony Oxley (Wolke Verlag, 2011).
Die letzten sieben Jahre lebte er in einem Heim. Anfangs gelang ihm noch, im Rollstuhl den Ehrenfeldgürtel zu überqueren, ins Loft, oder zum Singen im Chor.
Dr. Ulrich Kurth, geboren am 28.09.1953 in Kaltenkirchen bei Hamburg, starb am 12. August in Köln-Ehrenfeld, im Kreise seiner Familie, wenige Wochen vor seinem 68. Geburtstag.

erstellt: 16.08.21, ergänzt: 23.08.21
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