Chick Corea, 1941-2021

Chick Corea 1

Für den 22. Februar 2021 war im Wiener Konzerthaus ein Konzert angesetzt, die Wiederholung eines bereits zweimal verschobenen Auftrittes von Chick Corea & Vigilette (Carlitos Del Puerto, b, Marcus Gilmore, dr).
Ob er auch diesmal sein Publikum nicht nur entzückt, sondern auch aktiv (heute muß man sagen „pro-aktiv“) einbezogen hätte? Durch das Einholen des Kammertones „a“ wie auf seinem letzten, zu Lebzeiten veröffentlichten Album „Chick Corea plays…“?
Vermutlich. Wir haben es ähnlich erlebt, bei der Chick Corea Akoustic Band, einem seiner bedeutenden Langzeitprojekte (mit John Patitucci, b, Dave Weckl, dr) in der Philharmonie Essen.
Der Pianist wickelte, nahezu wortwörtlich, das Publikum um die Finger. Eine der größten Stimmen der Jazzgeschichte, dem das Auditorium eh zu Füßen liegt, griff zu Mitteln aus dem Varieté.
Und eben das macht die Dualität, man könnte auch sagen: die Facetten dieses Musikers aus. Sein Ton, seine rhythmisch-melodischen Signaturen auf Piano, E-Piano und Synthesizer gehören zu den Ikonen der gesamten Gattung.
Ihr Einfluß auf die Formsprache des Jazz - in Ton- und Printdokumenten, noch dazu in verschiedenen Stilen - ist gigantisch. Wobei „einflußreich“ nicht wie gewöhnlich mit „erfolgreich“ zu verwechseln wäre: der Mann hat Erfolg gehabt, ja, zuhauf.
Er hat zudem mit seinen Improvisationen und Kompositionen Heerscharen von KollegInnen zum Nachspielen und Interpretieren angeregt - aber unter der Handvoll Millionseller des Jazz findet sich keiner seiner um die 100 Tonträger.
Andererseits wurde sein außer-musikalischer Einfluß in Baden-Württemberg 1993 als so beängstigend eingestuft, dass die Landesregierung einem Veranstalter in Stuttgart den Subventionshahn zuzudrehen drohte und der Künstler vor dem Verwaltungsgericht Mannheim mit seinem Einspruch scheiterte. 
Grund war Corea´s Bekenntnis zu Scientology, das seine Fans ebenso billigend in Kauf nahmen wie die Lobhudeleien auf und die Performances mit seiner Ehefrau Gayle Moran, um an die wahren nuggets seiner Kunst zu gelangen.
Those were the days. 
Der Ministerpräsident damals hieß Erwin Teufel.
Sein Nachnachfolger Kretschmann säße heute bei Chick Corea in Stuttgart in der ersten Reihe. Wir wissen nicht, wie jazz-affin der grüne MP ist. Aber sollte er in seiner Chick Corea-Begeisterung jenen Begriff verwenden, der jetzt auch durch die Feuilletons fliegt (Chick Corea als „Chamäeon“), sähen wir uns zur Opposition gezwungen.
Denn was auch immer Corea angefasst hat, er ist nicht im jeweiligen Kontext verschwunden, sondern hat ihm einen, nämlich seinen Stempel aufgeprägt - vom Klavierkonzert mit den Londoner Sinfonikern bis zu seinen „Children Songs“, solo. Wo Corea drin war, hat man ihn herausgehört.
Armando Anthony Corea, genannt Chick, geboren am 12. Juni 1941 in Chelsea/Massachussets, einem Vorort von Boston, hat - im Gegensatz zu heutigen Jazzmusikern - nie ein Studium absolviert. Seine einzige formale Ausbildung, sagt er in einem Interview, seien 6 jahre Unterricht ab dem 8. Lebensjahr bei Salvatore Sullo gewesen, einem Konzertpianisten in Boston. Seine Jazz-Edukation war noch informeller, nämlich durch seinen Vater Armando, einen Amateurjazzmusiker, mit dem er früh auch aufgetreten ist.
Sein erstes Jazzvorbild: Horace Silver. 1962 beginnt Coreas professionelle Karriere in New York, bei Mongo Santamaria, es folgen Jobs bei Stan Getz, Herbie Mann u.a. Sein zweites eigenes Album „Now he sings - now he sobs“ setzt 1968 bereits Standards: für seine spezifische Ausformung des Jazztrio-Formates (damals mit Miroslav Vitous und Roy Haynes), für einen Pianostil, dem nichts mehr von Horace Silver anhaftet. Und sein Faible für das Spanische: der opener von „Now he sings…“ („Steps - what was“) enthält bereits die Blaupause für „Spain“, einen seiner großen Erfolge fünf Jahre später.
Im September jenes Jahres steigt Corea für Herbie Hancock bei Miles Davis ein („Filles des Kilimanjaro“), die wenige FreeJazz-Momente von Miles verbinden sich insbesondere mit den Passagen, wo unter seinen schrill perlenden Läufen auf dem Fender Rhodes Electric Piano der Beat aufgerieben wird.
Seine Konversion zur wirklich Avantgarde, 1970 im Quartett Circle (u.a. mit Anthony Braxton), war kurz und von langfristiger Konsequenz. Im Gegensatz zu dem, was jetzt manche Nachrufe insinuieren, mißfiel ihm dieser Ansatz außerordentlich, er hielt ihn für „zu unvorhersehbar“. Es drängte in ihm nach mehr Planung, nach - Komposition. Nach einem Konzept, das er später so beschreibt:
„Was ich anstrebe, ist, die Disziplin und Schönheit des Symphonieorchesters und der klassischen Komponisten - die Subtilität und Schönheit von Harmonie, Melodie und Form - zu verbinden mit der Lockerheit und der rhythmischen Tanzbarkeit des Jazz und der eher folkloristischen Musik.“
Die erste Ausformulierung dieser Prinzipien war die „halb-elektrische“ Formation von Return To Forever (u.a. mit dem Saxophonisten Joe Farrel). Man kann sie über fast alle weiteren Stationen seiner Karriere, vielfach unter Zumischung „des Spanischen“ und „Brasilianischen“, in verschiedenen Genres wiedererkennen: von seinen solistischen „Childrens Songs“ über die diverse Jazzrock-Bands bis zu seinen Orchesterwerken.
Nicht alle gelungen, manche mit Pomp, manche bloße Fingerübungen, ja manches auch kitschig.
Aber, viele, viele Nuggets, great moments of jazz history.
Chick Corea hatte ein Händchen für Rhythmusgruppen: angefangen mit Miroslav Vitous und Roy Haynes, vieles, aber nicht alles mit Stanley Clarke, aber fast alles und über den längsten Zeitraum mit John Patitucci und Dave Weckl, egal ob „akustisch“ oder „elektrisch“. Nicht zu vergessen in den letzten Jahren Christian McBride und Brian Blade, sowie die ultra-kompakten Jimmy Earl und Gary Novack Anfang der 90er Jahre.
Sowie - da pflichten wir der FAZ bei - der „unwiderstehliche“ Steve Gadd. Unvergessen sein Duo mit Corea an den keyboards in „Spanish Fantasy, II“, 1976.
Was bleibt? Für Mai ist ein neues Album der Acoustic Band angekündigt. Man wird es mir „anderen Ohren“ hören, jetzt, wo die Möglichkeit für einen Live-Kontakt auf ewig genommen ist.
Viele Tontäger werden Maßstab bleiben, ganz zu schweigen von den Tonnen, die es im Internet zu heben gilt. Und schon geht es los: Freunde schicken Youtube-links!
Armando Anthony „Chick“ Corea ist am 9. Februar in Tampa/Florida an einer erst kürzlich bei ihm diagnostizierten Krebserkrankung gestorben. Er wurde 79 Jahre alt. 

erstellt: 11.02.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten

Nachruf von Tim Garland auf London Jazz News.
Er hat 21 Jahre mit Chick Corea gespielt.

Uli Rennert, 1960-2021

Er war so sehr in der Grazer Jazzszene verwurzelt, seine Musik kündete auf spezifische Weise ebenso von den Eigenarten des Jazz made in Austria,
dass man immer wieder doch hervorkramen musste: er ist in Frankfurt am Main geboren, am 25.09.1960, als Sohn eines Künstlerpaares.
Der Gedanken- und Spielwitz, der sein Werk kennzeichnet, spricht auch aus der einzigen Mitteilung auf seiner Webseite, die er sich unter dem Signum „privat“ erlaubt:
„Uli Rennert lebt seit Herbst 1987 als politisch-idiomatischer Wirtschaftsflüchtling in Graz in Österreich und nahm im Jahre 1993 die österreichische Staatsbürgerschaft an.“
So grotesk-ironisch diese Mitteilung anmutet, sie ist unvollständig. Denn in jenem Herbst 1987 traf Rennert keineswegs erst in der Steiermark ein, er beendete zu diesem Zeitpunkt ein Studium des Jazzklaviers („mit Auszeichnung“), das er dort 1979 begonnen hatte.
Den ersten Musik- und Jazzschliff erhielt er zuvor bei zwei sehr deutschen Institutionen in Mainhattan, am Dr. Hoch´schen Konservatorium sowie bei
Albert Mangelsdorff (Posaune und Ensemblespiel).
Wer je seinen Fuß in die KUG, die Kunstuniversität Graz, gesetzt hat, kann nachvollziehen, dass der hessische Kunstflüchtling die Folgejahre dort segensreich zu verbringen wusste. Er unterrichtet Jazzpiano, dann auch Musikelektronik, übernimmt die Leitung von Improvisationskursen und Ensembles.
2003 habilitiert er sich dortselbst zum „Ao. Univ. Professor im Fach Improvisation“.
Seit 2009 pendelt er auch zum Jazzcampus Basel, als Dozent für den Masterlehrgang Producing/Performance.
Uli RennertDer Jazzkünstler Uli Rennert ist stilistisch schwer zu fassen.
Er hat Bezüge zu den Klassikern des Genres, zu Monk, Ellington & Coltrane, aber auch zur Zweiten Wiener Schule (Schoenberg, Berg, Webern).
Mitunter schwimmt er, mit seinem Project S, in einem sehr eigenen Seitenarm des Thirdstream.
Seine Bearbeitungen von Standards sind skurril, ja kauzig. Im Grunde ist er ein alpenländischer Verwandter des Mottos „arranging the hell out of something“ von Django Bates.
In der Auswahl elektronischer Klangfarben scheut er mitunter nicht solche, die man bei einem Experten dieses Zuschnitts nicht erwarten würde.
Uli Rennert ist am 5. Februar 2021 verstorben, wie es heißt an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung. Er wurde 60 Jahre alt.
Er wird dank seiner Tonträger in Erinnerung bleiben - aber auch wegen einer anderen Obsession:
Wer Rennert auf Fotos sieht, ahnt, dass er nicht nur in Proberäumen und Tonstudios sich wohlfühlte, sondern auch dort, wo „(ich) riechen kann und schmecken, probieren und beobachten, wie sich etwas entwickelt. Ich sollte mich gut vorbereiten – die 'mise en place' muss stimmen – muss reagieren, im Moment Entscheidungen treffen, Geplantes wieder umdenken, und so weiter“ - kurzum: Improvisieren.
In der Küche.
Das Menu „cooking“ auf der Rennert´schen Webseite präsentiert eine Speisenfolge, die einem steirisch-mediterranen Restaurant zur Ehre gereichen würde.
Uli Rennert cooking

erstellt: 10.02.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten

Howard Johnson, 1941-2021

Vermutlich ist er der letzte, in dessen Nachruf der spirit of the sixties beschworen werden muss, jedenfalls wenn man den Abdruck dieses luftigen Wesens in Form von recording credits zu fassen kriegen will.
Die Vorstellung der Nachgeborenen wird es gar nicht zulassen, sie werden es unfassbar finden, dass ein und derselbe Musiker an der Seite von Charles Minugs und James Taylor, von The Band und Carla Bley, von George Gruntz und Muddy Waters, von Taj Mahal und, vor allem, Gil Evans, von Sam Rivers und John Lennon, von Chet Baker und John Scofield zu hören & zu sehen war.
Meist, aber nicht immer, mit der Tuba.
Howard Johnson 1Dass er der „Muhammad Ali der Tuba“ gewesen sei, dieser ästhetische Ritterschlag seines Kollegen Joseph Daley, klingt verwegener als er ist.
Denn tatsächlich hat niemand die Überlebens- und Anpassungsfähigkeit dieses Instrumentes, das im modernen Jazz ohne Verwendung gestrandet zu sein schien, so vorgeführt wie er.
Die, die es ähnlich hielten, Bob Stewart und Daley beispielweise, hat er sogleich eingemeindet in seine Band „Gravity“, in der bis zu sechs Tubisten und Tubistinnen der natürlichen „Schwerkraft“ des Instrumentes zu entkommen suchten.
Dabei wäre er als „Kreuzzügler“ für das Instrument falsch verstanden:
„ich habe einfach mehr Jobs kriegen wollen“, stapelte er tief gegenüber der JazzTimes 2018.
Die Tuba war auch gar nicht sein erstes Instrument, er packte sie sich als 14jähriger, kurz nachdem er - gleichfalls autodidaktisch - mit dem Baritonsaxophon begonnen hatte. Immerhin, dass er quasi mit einem saxophonistischen Konzept auf dem Instrument andere Vorstellungen realisieren konnte als angestammte Tubisten, soviel räumte er denn doch ein.
Er war zur Stelle, als der Filmkomponist Howard Shore 1975 für NBC die Saturday Night Live Band gründete; fünf Jahre dort sicherten ihm eine Pension der Musikergewerkschaft. Gleichfalls fünf Jahre gehörte er auch zur NDR Big Band, ab Anfang der 90er Jahre.
Die längste Zeit aber war sein Name Synonym für die Rolle als sideman.
2018 erlitt er eine Krebserkrankung, an der er am 11. Januar 2021 verstarb.
Howard Lewis Johnson, geboren am 7. August 1941 in Montgomery/Alabama, wurde 79 Jahre alt.

erstellt: 12.01.21
© Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten
Photo courtesy of Nancy Olewine

Keith Jarrett kann nicht mehr...

Das Rumoren dauerte schon eine ganze Weile.
Anlässlich des Todes von Gary Peacock (am 04.09.20) nahm es die Form einer Frage an: wo bleibt, nach dem Trauerzeichen von Jack DeJohnette, das des Bandleaders einer der bedeutendsten Jazzbands, wo bleibt die Kondolenz von Keith Jarrett?
Ein großer Beitrag in der New York Times von heute, 21.10.20, enthält auch diese nicht, dafür aber eine Nachricht, die viele schockieren wird:
Keith Jarrett wird vermutlich nie mehr live auftreten.
Und ebensowenig überhaupt Klavier spielen können, zumindest auf dem Niveau, wie es vielfältig dokumentiert ist.
„Ich fühle mich im Moment nicht wie ein Pianist“, sagt er in einem Gespäch mit der NYT.
Sein letztes Konzert war im Februar 2017 in der Carnegie Hall.
Kurz vor dem nächsten dort, geplant für März 2018, erlitt er einen Schlaganfall, drei Monate später einen weiteren.
Die Zeit von Juli 2018 bis Mai 2020 verbracht er in einem Pflegeheim.
Erste Versuche an einem Piano endeten kläglich: „Ich habe so getan, als wäre ich Bach mit einer Hand“.
Beim Probieren mit vertrauten Bebop-Stücken, jüngst in seinem Heimstudio, musste er feststellen, dass er sie vergessen hat.
Keith Jarrett Rose Anne Colavito "Wenn ich zweihändige Klaviermusik höre, ist das sehr frustrierend, auf eine körperliche Art und Weise. Schubert hören oder etwas, das leise gespielt wird, halte ich nicht aus. Denn ich weiß, dass ich das gar nicht mehr schaffe.
Und es steht nicht zu erwarten, dass ich das jemals wieder kann. Das Äußerste, was ich von meiner linken Hand erwarte, ist möglicherweise die Fähigkeit, eine Tasse zu halten.
Es geht also nicht darum ´Schiessen Sie auf den Pianisten´. Sondern, ich wurde bereits angeschossen. Ah-ha-ha-ha-ha.“
Die neuerliche Beeinträchtigung ist wesentlich gravierender als sein Leiden am chronischen Erschöpfungssyndrom in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. Ein Zeichen der Überwindung der Krankheit war seinerzeit das Album „The Melody at Night with you“.
Sein jüngstes Album, das dieser Tage erscheint, datiert von 2016, „Budapest Concert“.

Keith Jarrett, 75 Jahre alt, gebietet über ein Werk, dem er voraussichtlich nichts mehr hinzufügen, das er nur noch edieren kann.
Gegenüber der NYT läßt er keinen Zweifel, dass er die Wertung der Außenwelt über seine kanonische Bedeutung für die Gattung teilt, ja die Latte sogar noch höher hängt:
"Ich fühle mich wie der John Coltrane der Klavierspieler. Alle, die nach ihm das Horn spielten, zeigten, wieviel sie ihm schuldig waren. Aber es war nicht ihre Musik. Es war einfach eine imitierende Sache."

Foto: Anne Rose Cavalito/ECM
erstellt: 21.10.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten


 

Steve Grossman, 1951-2020

Wir alle kennen die Metapher: der Band von Miles Davis angehört zu haben, wird gerne mit dem Besuch einer Universität gleichgesetzt.
Dabei legt das Meister-Schüler-Verhältnis dort wohl eher die Vorstellung einer „Lehrzeit“ nahe, die Diskursform war so gut wie nie verbal.
Aber egal, die Uni-Metapher ist einfach zu schön, um sie fallen zu lassen.
Wie im realen Leben aber auch wird aus den Miles-Alumni Unterschiedliches.
Der Saxophonist Steve Grossman zählt zu jenen, denen der große Karrierewurf versagt blieb.
Das mag auch daran liegen, dass er lange Jahre in Bologna lebte und - wie National Public Radio in einem Nachruf etwas windschief formuiert - „am Jazz-Firmament etwas an Boden (verlor), sein Ruf unter den Saxophonisten hingegen eisern blieb“.
Steve GrossmanZum Beispiel bei Dave Liebman.
Er hält ihn für „einen unserer besten“.
Am Insider-Status änderte sich auch wenig, als Grossman 2009 in die USA zurückkehrte, weder gab es Comeback-Album noch -Show oder spektakuläres Konzert.
Doch genau dies war sein Einstand bei Miles.
April 1970, Fillmore West in San Francisco, ein 18jähriger aus Brooklyn als Nachfolger von Wayne Shorter!
(Wer sich die Dokumente von damals erneut anhört, April 1970 („Black Beauty“), Juni 1970 („Miles Davis at Fillmore“), dem stehen sogleich wieder die Haare zu Berge: Herrschaften, was war da los!
Die selbsternannten Heilande von heute, die Kamasis, die „Beat Wissenschaftler“, sie müssten drei Tage bei Wasser & Brot diese Töne hören, gerne auch als long loop).
Steve Grossman dringt mit einem Coltranesken, näselnden, fast Oboen-haften Sopransaxophon durch.
Live, vor Ort muss das so deutllich nicht zu hören gewesen sein, wie Dave Liebman, sein Nachfolger sich erinnert.
Sein positives Urteil bezieht er 2012 ausdrücklich auf dessen Miles-Zeit.
In seiner „Autobiografie“ verliert Miles so gut wie kein Wort über Grossman.
Danach verbringt er fünf Jahre bei Elvin Jones, wo er auch das Tenor herausstellt und parallel dazu seine möglicherweise glücklichste Zeit bei Stone Alliance, mit den nicht mehr nur lokalen Kumpels Gene Perla, b, und Don Alias, dr, sowie Jan Hammer, keyb.
Unter eigenem Namen veröffentlicht er mehr als zwei Dutzend Alben, überwiegend im Sektor Postbop, nichts mehr im Sektor Fusion oder gar FreeJazz (wie bei Miles), begleitet mitunter von Cedar Walton und McCoy Tyner.
Steve Grossman, geboren am 18. Januar 1951 in Brooklyan, starb - wie erst jetzt bekannt wurde - am 13. August in einem Krankenhaus in Glen Cove/New York an Herzversagen nach einer langen Krankheit.  Er wurde 69 Jahre alt.

erstellt: 19.08.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten
Foto: Marius Fiskum, 2004



 

Gary Peacock, 1935-2020

gary peacockDie Nachricht kommt nicht völlig überraschend (auch weil eine Bestätigung zunächst ausblieb).
Sie kommt gleichwohl mit einem ganz furchtbaren timing inmitten der Feiern für einige Hochbetagte: Herbie Hancock 80 (12.04.), Wayne Shorter 87 (23.08.), Sony Rollins 90 (07.09.), Steve Swallow 80 (04.10.).
Und sie fügt sich in ein Jahr, das - gefühlt - so viele prominente verstorbene Jazzmusiker aufweist wie selten zuvor.
Joachim Ernst Berendt/Günther Huesmann nennen ihn in ihrem Jazzbuch „einen der intuitivsten und intensivsten ´Hörer´ unter den Bassisten, mit einem bedingungslosen Willen, alles im Moment zu geben, und einer - auch im Jazz - seltenen Bereitschaft, sich mit tiefem Vertrauen in unbekanntes musikalisches Terrain vorzuwagen.“
Vermutlich haben sie mit dieser Charakterisierung die Zeit vor Keith Jarrett im Blick (die Arbeit mit Albert Ayler, Paul Bley, aber auch Bill Evans) wie auch über drei Jahrzehnte im Keith Jarrett Trio, im Prinzip ausgelöst durch sein eigenes Album „Tales of Another“ (1977), personell ein Vorläufer des Jarrett Trios (1983-2014).
Ganz sicher haben sie mit dem „Hörer“ einen Aspekt angesprochen, den Peacock vor 3 Jahren in einem Interview in einer sehr unprätenziösen, für einen Jazzmusiker frappierenden Weise so ausdrückt:
„Ich bin nicht hinter einer Aussage oder meiner Identität als Bassist oder Improvisator her.
Es geht nicht um mich. Es geht um die Musik.
Es geht um meine Verantwortung, an einem bestimmten Ort zu sein, an dem andere Menschen etwas teilen, genießen und fühlen können.“
Dabei war das Instrument, das er mit Eleganz, ja Schönheit und stets unaufdringlicher Präsenz zu bedienen wusste, gar nicht mal erste Wahl.
Peacock hatte Schlagzeug und Piano gespielt, als er als amerikanischer Soldat im Nachkriegsdeutschland (Frankfurt und Dortmund) von jetzt auf gleich den Kontrabass zur Hand nehmen musste.
Er fand Gefallen daran. Und vielleicht, weil ihm das instrumentale Gegenüber aus eigener Praxis vertraut war, sind so viele seiner Aufnahmen mit Piano Trios entstanden.
Ja, die meisten mit Keith Jarrett, aber über drei Jahrzehnte parallel dazu, seit 1983, auch hoch-poetische mit Marc Copland. 2018 feiert der in reinen Klavierfassungen den Komponisten Gary Peacock, unter dem Titel eines Stückes seiner früheren Ehefrau Annette Peacock, „Gary“.
Scheu, ja beinahe mit philosophischer Tiefe stand er dem gegenüber, was er da an Schönheit in die Welt entlassen hatte:
„Wenn ich sage: das habe ich geschrieben, dann bin ich mir gar nicht sicher, was ich damit meine“.
Gary Peacock, geboren am 12. Mai 1935 in Burley/Idaho, starb am 4. September 2020 im Alter von 85 Jahren in seinem Haus in upstate New York. Eine Todesursache wurde nicht bekannt gegeben.

PS: lesenswerter Nachruf von Marc Copland auf Gary Peacock bei LondonJazzNews

Foto: Roberto Masotti, ECM

erstellt: 06.09.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten


 

Keith Tippett, 1947-2020

Es soll ältere Semester geben (alte weiße Männer, so to speak), die die Todesnachricht veranlasst hat, aus ihrem Plattenarchiv zielsicher ein bestimmtes Album zu greifen:
„Dedicated to you, but you weren´t listening“ von der Keith Tippett Group.
dedicated to you but you werent listeningNostalgiker, die sie sind, halten sie selbstverständlich nicht die CD-Version auf Repertoire Records, 1994, in Händen, sondern das LP-Original von 1971.
Für sie ein unveräußerliches Objekt, es hat mehrere Umzüge überstanden, und sie wissen genau, was sie darauf hören:
den ganzen Keith Tippett, den bedeutenden britischen Jazzmusiker in a nutshell, wie sie es damals mehr ahnten als wussten.
Einen zumindest stilistisch früh-vollendeten Pianisten, der vier Jahre, nachdem er von Bristol nach London gekommen war, hier eine Anschlußfähigkeit demonstriert, die im  britischen Jazz nicht selten, von Kontinentaleuropa aus aber immer bewundert wurde.
Als er 1967 in swinging London eintraf, war sein Ziel nicht das kommerzielle Zentrum jener Jahre, die Carnaby Street, sondern der Ronnie Scott´s Club, keine zehn Fußminuten weiter östlich in der Frith Street.
Tippett musste lernen, dass dort durch den Bühneneingang hineinzukommen, viel schwerer war, als der Provinzler sich das vorgestellt hatte.
Schon vor 1971 aber hatte er es geschafft; er war nicht nur dort, sondern auch in den Studios ein gefragter Gast, bei King Crimson, Soft Machine, Robert Wyatt, später bei David Sylvian u.a.
Dass er auch mit Peter Brötzmann arbeiten (1983, 1994) und auf FMP, einem zentralen Label der europäischen Jazz-Avantgarde, veröffentlichen wird, auch das ist - aus heutiger Perspektive - gewissermaßen als Vor-Echo auf „Dedicated to you, but you weren´t listening“ eingebrannt.
Es gibt gute Gründe, die Musik dort als Jazzrock, als FreeJazz und auch als Postbop auszugeben - nicht als Mischung in jeder Sekunde, sondern in sequentieller Ordnung. Eine sehr britische Ordnung, die aus Stimmen-Wirrwarr melodische Gedanken von pastoraler Schönheit aufsteigen zu lassen sich erlaubt.
Das Titelstück stammt vom dem „pastoral composer“, wie man ihn auf der Insel nennt, schlechthin, von Hugh Hopper (1945-2009). Diese Fassung von „Dedicated to you, but you weren´t listening“ ist ein Kunstgriff sondergleichen - sie dauert eine halbe Minute und wird lediglich von Marc Charig, cornet, und Elton Dean (1945-2006), as, gespielt. Einmal das Thema, ohne Wiederholung.
Es folgt eines der memorablen Riff-Stücke des Albums, „Black Horse“ von Nick Evans tb.
Auch der Bandleader langt in dieser Hinsicht zu: „Green and Orange Night Park“, entwickelt sich nach einer Eröffnung a la McCoy Tyner als von drei Schlagzeugern (Robert Wyatt, Bryan Spring, Phil Howard) befeuerte Riff-Rampe für Elton Dean.
Dessen Intonation, nicht selten prekär, ist hier tadellos. Sein Solo steht seinen ergreifenden Deklamationen bei Soft Machine in nichts nach.
Als sie all das mit frischen Ohren hörten, da beschlich die besagten älteren Semester keine Ahnung, aber heute hören sie die Wehmut jener Klänge als farewell. Als einen Abschied einer Epoche, die mit dem Tod von Keith Tippett vollends Historie wird.
2018, da war er lange schon wieder mit seiner Frau Julie Tippett (geborene Driscoll) von London wieder ins West Country gezogen, ereilte ihn ein Herzinfarkt, mit der Nebenfolge einer Lungenentzündung.
Musiker sammelten für ihn, im vergangenen Jahr konnte er wieder auftreten, zum Beispiel beim Manchester Jazzfestival in Mai 2019 (woher das Foto von Brian Payne stammt).
Keith Tippett 7 Manchester Jazz Festival May 2019 by Brian Payne

Keith Tippett, geboren am 25. August 1947 in Southmead/Bristol, war in den letzten beiden Jahren immer wieder zu Krankenhausaufenthalten gezwungen. Er starb am 14. Juni 2020 an einem erneuten Herzinfarkt, wie Riccardo Bergerone, ein Freund der Familie, auf Facebook mitteilt.
Keith Tippett wurde 72 Jahre alt. In ersten Stellungnahmen wird seine integrative Kraft hervorgehoben, und der meistzitierte Satz von ihm dürfte werden:
„Möge Musik niemals nur eine weitere Möglichkeit sein, Geld zu verdienen“.
Auch er führt umstandlos zurück in die Zeiten von „Dedicated to you, but you weren´t listening“.

Foto: ©Brian Payne
erstellt: 15.06.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten


 

Lee Konitz, 1927-2020

Lee Konitz mit Dan Tepfer, am 13. Oktober 2019 - seinem 92. Geburtstag

Gibt es einen Musiker, dessen Fußabdruck in der Jazzgeschichte früher erfolgte als seiner?
Gibt es, um genauer zu sein, einen weiteren Überlebenden der Claude Thornhill-Ära (namentlich der Jahre 1947-48) oder Miles´ „Birth of the Cool“ (1949-50)?
Oder einen weiteren Teilnehmer an der ersten freien Improvisation der Jazzgeschichte („Intuition“, Lennie Tristano, 1949)?
Vermutlich nicht.
(Selbst Wayne Shorter ist sechs Jahre jünger.)
Lee Konitz, geboren am 13. Oktober 1927 in Chicago, war einer der stilbildenden Altsaxophonisten des Jazz, der…aber das wissen Sie ja längst schon, damit werden Sie in diesen Tagen überschüttet.
Wovon dabei sicher weniger die Rede sein wird, ist sein Eintrag in die Jazzforschung, nicht nur wegen des reichlich vorhandenen Studienmaterials, sondern auch wegen eines Aphorismus, der weit über seinen Charakter als anekdotische Evidenz hinausweist:
„That’s my way of preparation — to not be prepared. And that takes a lot of preparation!“
Verkürzt zu „prepare to be unprepared“ hat er sich damit auch verbal verewigt.
Der Tod von Lee Konitz, am 15. April 2020 in New York City, als Folge einer Covid-19-Erkrankung, ist eine gute Gelegenheit, noch einmal in den Interviewband mit Andy Hamilton hineinzuschauen:
Er stand kostenlos online, bis 30.06.20

erstellt: 16.04.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten


 

Hal Willner, 1956-2020

Standards spielen heisst: etwas Vertrautes in eigener Sprache auszugeben.
Wie überall im Leben und in der Kunst gibt es dabei verschiedene Freiheitsgrade, vom einfachen Nachspielen bis zum „arranging the hell out of something“ von Django Bates, das Gegen-den-Strich-Bürsten.
Auf dieser Skala, die man doch besser gegen das Bild eines Baumes von ansteigender Komplexität austauschen sollte, sitzt Hal Willner auf einem eigenen Ast.
Seine Interpretationen heben sich von vielen anderen ab, schon weil er selbst - von wenigen Momenten abgesehen - nicht manuell agiert.
Er liefert Konzepte. Er stiftet andere Musikhandwerker an. Er gibt Anregungen, Ideen.
Das tun andere Produzenten auch, von Manfred Eicher bis zurück Joachim Ernst Berendt.
Willner geht weiter, er denkt um Ecken, er delegiert Aufgaben, an die die Angesprochenen wohl selbst nicht gedacht hätten.
Er lässt zwei von den Rolling Stones, Keith Richards und Charlie Watts (nebst Stones-Helfern vom Bühnenhintergrund) Charles Mingus interpretieren, Elvis Costello mit dem Brodsky Quartet Kurt Weill, Chris Spedding und den einstigen Teenie Pop-Star Peter Frampton (Humble Pie, The Herd) Thelonious Monk (mit Marcus Miller am Baß!)
Sue, die Witwe von Charles Mingus, spricht zurecht von „Konfrontationen zwischen Musiker und Material, zwischen Musiker und Musiker“, in den liner notes von „Weird Nightmare - Meditations on Mingus“ (1992).
Bei diesem Projekt ging Willner noch einen Dreh weiter: er ließ die Beteiligen nicht nur ihre eigenen, sondern auch die skurrilen Instrumente von Harry Partch (1901-1974) spielen.
Wenn wir uns recht erinnern, brachte Bob Belden (1956-2015), dem solche Ideen aus der eigenen Praxis nicht fremd waren, dafür den Begriff des morphing ins Spiel.
Entfernt verwandt dazu dürfte das finnisches Ensemble Ambrosius sein, das auf seinem „Zappa album“ (2000) Zappa auf Barockinstrumenten.
Willner´s erstes Tribut-Projekt (wie es in Nachrufen bezeichnet wird) war „Amarcord Nino Rota“ (1981), u.a. mit Carla Bley, Branford und Wynton Marsalis.
Später produziert er u.a. Marianne Faithful und Lou Reed, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband.
Hal Willner Penny Arcade 1Willner stammt aus Philadelphia, kam 1974 nach New York und lernte das Produzentenhandwerk an der Seite von Joel Dorn.
Einen Namen machte er sich vor den eigenen Musikprojekten als Produzent von TV-Shows.
Die ungeheuer kreative Rolle, der Standort dieses Nichtmusikers kommt - vielleicht unfreiwillig - in der Todesnachricht seiner Freundin Penny Arcade zum Ausdruck:
„Oh no! Not Hal…….Ladies and gentleman Hal Willner has left the auditorium.”
Hal Willner, geboren am 6. April 1956 in Philadelphia, starb am 7. April 2020 in New York City, einen Tag nach seinem 64. Geburtstag.
Sein Tod soll von Covid-19 verursacht sein.

 

 

 

 

 
Foto: Penny Arcade
erstellt: 08.04.20
©Michael Rüsenberg, 2020.
Alle Rechte vorbehalten

 


Wallace Roney, 1960-2020

In den 90ern Jahren war der Mann sowas von gefragt:
von Geri Allen, Bob Belden, Herbie Hancock, Chick Corea, Bill Evans, David Sanborn, nicht zu vergessen Tony Williams, dessen Quintett er zwischen 1988 und 1992 angehörte.
Der enorme Rückenwind war zu großen Teilen gespeist von der Idee eines keeper of the flame. Wallace Roney war Träger des Erbes von Miles Davis.
Dazu war er geradezu auserkoren. 1983 fiel er seinem Vorbild auf, ja erhielt sogar eines seiner Instrumente zum Geschenk. Er soll auch von ihm unterrichtet worden sein.
Wallace Roney copy 21991 in Montreux, wenige Monate vor dessen Tod, durfte er neben ihm die schwierigen Passagen des wohlvertrauten Repertoires vortragen.
Im September 1992 konnte er dann vollständig in dessen Rolle aufgehen, zusammen mit dem großen Rest des grandiosen zweiten Miles Davis Quintett.
Das Piano bediente damals ein gewisser Herbie Hancock, das Schlagzeug Tony Williams.
Es mag einem blümerant werden, wenn man aus gegebenem Anlass wieder einmal einem solchen Exzellenz-Cluster zuhört.
Roney hatte Übung darin, in solche Rollen zu schlüpfen. Wenige Jahre zuvor übernahm er den Posten von Freddie Hubbard in VSOP, eine Art Schattenkabinett zum nämlichen Quintett.
Wir sprechen hier von stilistischer Nähe, nicht von Mimikry, obgleich der Miles-Einfluss - von ihm selbst bestätigt - quer durch seine Karriere erkennbar blieb (sowie bei seinem drei Jahre jüngeren Bruder Antoine der von Wayne Shorter auf dem Tenorsaxophon), bis hin zu seinen Ausflügen in den HipHop Jazz Anfang der 2000er Jahre.

Melodisch immer noch Postbop, wogte er dabei rhythmisch häufig im Rezeptionsschatten von Herbie Hancock; möglicherweise eine Spätfolge der Mitwirkung an dessen „Dis is da Drum“ (1994).
Roney´s Albumdebut („Verses“, 1987) wurde von Tony Williams nicht nur produziert, sondern auch am drumset begleitet, der aus fast dem gesamten Team sodann sein Quintett formte.
Ab dem zweiten („Intuition“, 1988) übernahm diese Aufgabe Cindy Blackman, eine Zeitlang auch seine Lebensgefährtin.
Roney Alllen Vielz 11995 heiratet er einen noch größeren Star, die Pianistin Geri Allen (1957-2017).
Die Ehe wurde 2008 geschieden, aus ihr gingen drei Kinder hervor.
Im weiteren Verlauf der neuen Jahrtausends dünnt sich seine Discographie merklich aus, auf Fotos erscheint der einst so schlanke Mann zuletzt stark übergewichtig.
Wallace Roney, geboren am 25. Mai 1960 in Philadelphia, starb am 31. März 2020 in New Jersey, im Alter von 59 Jahren.
Er gilt als eines der Covid-19-Opfer.

 


Fotos:
© Richard Williams (Montreux 1991)
© Hyou Vielz (Köln, 1994)

erstellt: 31.03.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalte

 

 

Jon Christensen, 1943-2020

Christensen Tod 1

 

Pardon, aber das muss sein.
Der Tod von Lyle Mays (ein gewiß nicht unbedeutender Musiker, aber doch für den größten Teil seiner Karriere an der Seite eines Meisters) wurde von vielen Feuilletons beachtet, er wurde sogar in den Nachmittagsnachrichten des DLF vermeldet.
Der Tod von Jon Christensen (der Jahrzehnte an der Seite mehrerer Meister und dazu als bedeutender Stilist gewirkt hat), er ist am Abend des Todestages gerade mal von diversen Wikipedias erfasst.
(Es steht zu befürchten - und hat sich bestätigt -, dass sein Tod ähnlich kleine Kreise zieht wie der eines anderen großen Stilisten, Allan Holdsworth.)
Ein eklatantes Versagen des deutschen Feuilletons.
Das britische Magazin Jazzwise immerhin folgt dem Imperativ in seinem Namen und verlinkt nach ein paar Zeilen zu einem YouTube Video, einem Konzert mit Sonny Rollins, das den Verstorbenen 1971 im vollen Fluge zeigt.
Es vermittelt anschaulich einen Teil der Qualitäten, die in summa dazu führten, dass er für sein Hauslabel ECM auf fast so vielen Alben mitgewirkt hat, wie es der Anzahl seiner  Lebensjahre entspricht (das letzte 2018 mit dem dänischen Gitarristen Jakob Bro).
Darunter, wenn das britische Wikipedia richtig liegt, ein einziges in eigener Regie, „No Time for Time“, 1976.
Den Titel kann man als zarten Hinweis auf seinen Stil lesen, auf seine Qualität als einer der ersten und einer der führenden Vertreter des broken swing in Europa.
Er selbst hat sich gegenüber dem US-Magazin Drummerworld
 so geäußert:
„Wenn ich mit einer Band im 4/4-Takt in mittlerem Tempo spiele, und ich habe Lust, das ein bisschen aufzulockern, könnte ich aus dem Tempo herausgehen oder ganz aufhören - aber ich weiß immer genau, wo ich bin. Ich markiere einfach nicht die 1 oder überbrücke bis zum nächsten Takt mit fills. Ich versuche immer, das zu vermeiden. Stattdessen versuche ich, in Wellen zu spielen.“
Jon Christensen ist Ende der 50er Jahre als Autodidakt gestartet, 1960 gewinnt er einen Preis bei einem Amateurfestival; 1964 spielt er mit Kenny Dorham in Oslo, im gleichen Jahr mit der norwegischen Sängerin Karen Krog in Antibes.
1967 beginnt die Arbeit mit Jan Garbarek, danach mit Terje Rypdal, mit Keith Jarrett, dessen europäischem Quartett er angehört.
Und dann, ab 1970 ff konnte man mitunter den Eindruck haben, Norwegen verfüge nur über einen jazztrommelslager - nämlich ihn, Jon Christensen.
Er konnte vieles, und gern haben wir in diesen Stunden noch einmal nach „Cracked Mirrors“ (1987) gegriffen, das ihn mit einem jüngst Verstorbenen verbindet, nämlich Herbert Joos sowie dem österreichischen Gitarristen Harry Pepl (1945-2005), in einem Werk, das das Sampling bis in den FreeJazz treibt.
Jon Ivar Christensen, geboren am 20. März 1943 in Oslo, war verheiratet mit der Schauspielerin Ellen Horn, 69, sie war u.a. eineinhalb Jahre Kulturministerin im Kabinett von Jens (NATO) Stoltenberg.
Per Facebook teilt sie seinen Tod mit, er starb am 18. Februar 2020 im Alter von 76 Jahren, vier Wochen vor seinem 77. Geburtstag.

 erstellt: 18.02.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten

 

McCoy Tyner, 1938-2020

2020 hat einen schlechten Start; zumindest das Kurzzeitgedächtnis will uns sagen: nie zuvor sind so viele JazzmusikerInnen schon im ersten Quartal eines Jahres verstorben:
Wolfgang Dauner (10.01.), Geoff Castle (15.01.), Claudio Roditi (17.01.), Jimmy Heath (19.01.), Lyle Mays (10.02.), Jon Christensen (18.02.), nicht zu vergessen die Gitarristin Susan Weinert (02.03.) im Alter von erst 54 Jahren.

Und jetzt McCoy Tyner.

Tyner Homepage 1

 Im Sommer 2018, ein halbes Jahr vor seinem achtzigsten Geburtstag, holte ihn noch einmal seine Vergangenheit ein.
Das Risiko, dass damit ein Ereignis mit negativem Vorzeichen gemeint sein könnte, tendierte bei dieser Karriere gegen Null.
Es war die Veröffentlichung des „Lost Album“, einer Produktion im Jahre 1963 mit dem John Coltrane Quartet, fraglos einer von mehreren Gipfeln in einer außerordentlichen Karriere.
Mit 21 wurde Tyner in dieses, eines der wichtigsten Ensembles der Jazzgeschichte, berufen. Er blieb dort fünf Jahre, gestalte dort u.a. das bahnbrechende Album „A Love Supreme“ mit.
 Dass er im hohen Alter nicht mehr alle Fragen der Jazz-Archäologie beantworten konnte, die ihn anlässlich dieses Fundes bedrängte (Hat nicht doch er das unbetitelte Stück „11386“ geschrieben und nicht Coltrane? Wer war der mysteriöse Dirigent am 6. März 1963 in den Rudy van Gelder-Studios?) - wer wollte ihm das verübeln?
Am Sockel seines Rufes als „Titan“ (wie das Label Blue Note twittert) wird darob kein Krümmelchen abfallen.
McCoy Tyner war Urheber eines der prägnantesten Klavierstile des Jazz.
Er spiele das Instrument „wie ein brüllender Löwe“ wird gern der amerikanische Kritiker Bill Cole zitiert. Da ist was dran.
Die wuchtigen Bässe in der linken (Tyner war Linkshänder), die perlenden, wogenden Linien in der rechten, zumeist verbunden von einer Quartenharmonik. Er war kein Freund der Idee, einen einzelnen Ton auszukosten.
Diesen Widerhall hört man seit Jahrzehnten, vom frühen Chick Corea bis hin zu einem heutigen Pianisten wie Pablo Held.
McCoy Tyner war Anwender des Coltrane-Erbes bis weit über dessen Tod (1967) hinaus. Er hat zwar auch Geigen im Hintergrund aufziehen lassen ("Fly with the Wind", 1976), aber nie ein elektrisches Instrument angerührt.
„Elektrische Musik ist schlecht für deine Seele.“
Das Zitat erlaubt einen Blick auf seinen spirituellen Hintergrund. Aufgewachsen als Christ, konvertrierte Tyner mit 18 Jahren zum Islam. Als Eiferer ist er dabei nie hervorgetreten. Sein Lebensmotto verträgt sich bestens mit anderen Zugängen: „Diese Botschaft der Einheit war das Wichtigste in meinem Leben, und natürlich hat sie meine Musik beeinflusst“.
2002 wurde ihm eine der größten Ehrungen seines Landes zuteil, er wurde zum Arts Jazz Master im National Endowment for the Arts ernannt.

Alfred McCoy Tyner, geboren am 11. Dezember 1938 in Philadelphia, starb am 6. März 2020 in New Jersey. Er wurde 81 Jahre alt. Eine Todesursache wurde nicht bekannt gegeben.

erstellt: 07.03.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten

PS: Was haben wir während des Schreibens dieser Zeilen gehört?

„Supertrios“ aus dem Jahre 1977, vor allem die ersten sechs tracks mit Ron Carter, b, und Tony Williams, dr.