Steve Grossman, 1951-2020

Wir alle kennen die Metapher: der Band von Miles Davis angehört zu haben, wird gerne mit dem Besuch einer Universität gleichgesetzt.
Dabei legt das Meister-Schüler-Verhältnis dort wohl eher die Vorstellung einer „Lehrzeit“ nahe, die Diskursform war so gut wie nie verbal.
Aber egal, die Uni-Metapher ist einfach zu schön, um sie fallen zu lassen.
Wie im realen Leben aber auch wird aus den Miles-Alumni Unterschiedliches.
Der Saxophonist Steve Grossman zählt zu jenen, denen der große Karrierewurf versagt blieb.
Das mag auch daran liegen, dass er lange Jahre in Bologna lebte und - wie National Public Radio in einem Nachruf etwas windschief formuiert - „am Jazz-Firmament etwas an Boden (verlor), sein Ruf unter den Saxophonisten hingegen eisern blieb“.
Steve GrossmanZum Beispiel bei Dave Liebman.
Er hält ihn für „einen unserer besten“.
Am Insider-Status änderte sich auch wenig, als Grossman 2009 in die USA zurückkehrte, weder gab es Comeback-Album noch -Show oder spektakuläres Konzert.
Doch genau dies war sein Einstand bei Miles.
April 1970, Fillmore West in San Francisco, ein 18jähriger aus Brooklyn als Nachfolger von Wayne Shorter!
(Wer sich die Dokumente von damals erneut anhört, April 1970 („Black Beauty“), Juni 1970 („Miles Davis at Fillmore“), dem stehen sogleich wieder die Haare zu Berge: Herrschaften, was war da los!
Die selbsternannten Heilande von heute, die Kamasis, die „Beat Wissenschaftler“, sie müssten drei Tage bei Wasser & Brot diese Töne hören, gerne auch als long loop).
Steve Grossman dringt mit einem Coltranesken, näselnden, fast Oboen-haften Sopransaxophon durch.
Live, vor Ort muss das so deutllich nicht zu hören gewesen sein, wie Dave Liebman, sein Nachfolger sich erinnert.
Sein positives Urteil bezieht er 2012 ausdrücklich auf dessen Miles-Zeit.
In seiner „Autobiografie“ verliert Miles so gut wie kein Wort über Grossman.
Danach verbringt er fünf Jahre bei Elvin Jones, wo er auch das Tenor herausstellt und parallel dazu seine möglicherweise glücklichste Zeit bei Stone Alliance, mit den nicht mehr nur lokalen Kumpels Gene Perla, b, und Don Alias, dr, sowie Jan Hammer, keyb.
Unter eigenem Namen veröffentlicht er mehr als zwei Dutzend Alben, überwiegend im Sektor Postbop, nichts mehr im Sektor Fusion oder gar FreeJazz (wie bei Miles), begleitet mitunter von Cedar Walton und McCoy Tyner.
Steve Grossman, geboren am 18. Januar 1951 in Brooklyan, starb - wie erst jetzt bekannt wurde - am 13. August in einem Krankenhaus in Glen Cove/New York an Herzversagen nach einer langen Krankheit.  Er wurde 69 Jahre alt.

erstellt: 19.08.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten
Foto: Marius Fiskum, 2004



 

Gary Peacock, 1935-2020

gary peacockDie Nachricht kommt nicht völlig überraschend (auch weil eine Bestätigung zunächst ausblieb).
Sie kommt gleichwohl mit einem ganz furchtbaren timing inmitten der Feiern für einige Hochbetagte: Herbie Hancock 80 (12.04.), Wayne Shorter 87 (23.08.), Sony Rollins 90 (07.09.), Steve Swallow 80 (04.10.).
Und sie fügt sich in ein Jahr, das - gefühlt - so viele prominente verstorbene Jazzmusiker aufweist wie selten zuvor.
Joachim Ernst Berendt/Günther Huesmann nennen ihn in ihrem Jazzbuch „einen der intuitivsten und intensivsten ´Hörer´ unter den Bassisten, mit einem bedingungslosen Willen, alles im Moment zu geben, und einer - auch im Jazz - seltenen Bereitschaft, sich mit tiefem Vertrauen in unbekanntes musikalisches Terrain vorzuwagen.“
Vermutlich haben sie mit dieser Charakterisierung die Zeit vor Keith Jarrett im Blick (die Arbeit mit Albert Ayler, Paul Bley, aber auch Bill Evans) wie auch über drei Jahrzehnte im Keith Jarrett Trio, im Prinzip ausgelöst durch sein eigenes Album „Tales of Another“ (1977), personell ein Vorläufer des Jarrett Trios (1983-2014).
Ganz sicher haben sie mit dem „Hörer“ einen Aspekt angesprochen, den Peacock vor 3 Jahren in einem Interview in einer sehr unprätenziösen, für einen Jazzmusiker frappierenden Weise so ausdrückt:
„Ich bin nicht hinter einer Aussage oder meiner Identität als Bassist oder Improvisator her.
Es geht nicht um mich. Es geht um die Musik.
Es geht um meine Verantwortung, an einem bestimmten Ort zu sein, an dem andere Menschen etwas teilen, genießen und fühlen können.“
Dabei war das Instrument, das er mit Eleganz, ja Schönheit und stets unaufdringlicher Präsenz zu bedienen wusste, gar nicht mal erste Wahl.
Peacock hatte Schlagzeug und Piano gespielt, als er als amerikanischer Soldat im Nachkriegsdeutschland (Frankfurt und Dortmund) von jetzt auf gleich den Kontrabass zur Hand nehmen musste.
Er fand Gefallen daran. Und vielleicht, weil ihm das instrumentale Gegenüber aus eigener Praxis vertraut war, sind so viele seiner Aufnahmen mit Piano Trios entstanden.
Ja, die meisten mit Keith Jarrett, aber über drei Jahrzehnte parallel dazu, seit 1983, auch hoch-poetische mit Marc Copland. 2018 feiert der in reinen Klavierfassungen den Komponisten Gary Peacock, unter dem Titel eines Stückes seiner früheren Ehefrau Annette Peacock, „Gary“.
Scheu, ja beinahe mit philosophischer Tiefe stand er dem gegenüber, was er da an Schönheit in die Welt entlassen hatte:
„Wenn ich sage: das habe ich geschrieben, dann bin ich mir gar nicht sicher, was ich damit meine“.
Gary Peacock, geboren am 12. Mai 1935 in Burley/Idaho, starb am 4. September 2020 im Alter von 85 Jahren in seinem Haus in upstate New York. Eine Todesursache wurde nicht bekannt gegeben.

PS: lesenswerter Nachruf von Marc Copland auf Gary Peacock bei LondonJazzNews

Foto: Roberto Masotti, ECM

erstellt: 06.09.20
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Keith Tippett, 1947-2020

Es soll ältere Semester geben (alte weiße Männer, so to speak), die die Todesnachricht veranlasst hat, aus ihrem Plattenarchiv zielsicher ein bestimmtes Album zu greifen:
„Dedicated to you, but you weren´t listening“ von der Keith Tippett Group.
dedicated to you but you werent listeningNostalgiker, die sie sind, halten sie selbstverständlich nicht die CD-Version auf Repertoire Records, 1994, in Händen, sondern das LP-Original von 1971.
Für sie ein unveräußerliches Objekt, es hat mehrere Umzüge überstanden, und sie wissen genau, was sie darauf hören:
den ganzen Keith Tippett, den bedeutenden britischen Jazzmusiker in a nutshell, wie sie es damals mehr ahnten als wussten.
Einen zumindest stilistisch früh-vollendeten Pianisten, der vier Jahre, nachdem er von Bristol nach London gekommen war, hier eine Anschlußfähigkeit demonstriert, die im  britischen Jazz nicht selten, von Kontinentaleuropa aus aber immer bewundert wurde.
Als er 1967 in swinging London eintraf, war sein Ziel nicht das kommerzielle Zentrum jener Jahre, die Carnaby Street, sondern der Ronnie Scott´s Club, keine zehn Fußminuten weiter östlich in der Frith Street.
Tippett musste lernen, dass dort durch den Bühneneingang hineinzukommen, viel schwerer war, als der Provinzler sich das vorgestellt hatte.
Schon vor 1971 aber hatte er es geschafft; er war nicht nur dort, sondern auch in den Studios ein gefragter Gast, bei King Crimson, Soft Machine, Robert Wyatt, später bei David Sylvian u.a.
Dass er auch mit Peter Brötzmann arbeiten (1983, 1994) und auf FMP, einem zentralen Label der europäischen Jazz-Avantgarde, veröffentlichen wird, auch das ist - aus heutiger Perspektive - gewissermaßen als Vor-Echo auf „Dedicated to you, but you weren´t listening“ eingebrannt.
Es gibt gute Gründe, die Musik dort als Jazzrock, als FreeJazz und auch als Postbop auszugeben - nicht als Mischung in jeder Sekunde, sondern in sequentieller Ordnung. Eine sehr britische Ordnung, die aus Stimmen-Wirrwarr melodische Gedanken von pastoraler Schönheit aufsteigen zu lassen sich erlaubt.
Das Titelstück stammt vom dem „pastoral composer“, wie man ihn auf der Insel nennt, schlechthin, von Hugh Hopper (1945-2009). Diese Fassung von „Dedicated to you, but you weren´t listening“ ist ein Kunstgriff sondergleichen - sie dauert eine halbe Minute und wird lediglich von Marc Charig, cornet, und Elton Dean (1945-2006), as, gespielt. Einmal das Thema, ohne Wiederholung.
Es folgt eines der memorablen Riff-Stücke des Albums, „Black Horse“ von Nick Evans tb.
Auch der Bandleader langt in dieser Hinsicht zu: „Green and Orange Night Park“, entwickelt sich nach einer Eröffnung a la McCoy Tyner als von drei Schlagzeugern (Robert Wyatt, Bryan Spring, Phil Howard) befeuerte Riff-Rampe für Elton Dean.
Dessen Intonation, nicht selten prekär, ist hier tadellos. Sein Solo steht seinen ergreifenden Deklamationen bei Soft Machine in nichts nach.
Als sie all das mit frischen Ohren hörten, da beschlich die besagten älteren Semester keine Ahnung, aber heute hören sie die Wehmut jener Klänge als farewell. Als einen Abschied einer Epoche, die mit dem Tod von Keith Tippett vollends Historie wird.
2018, da war er lange schon wieder mit seiner Frau Julie Tippett (geborene Driscoll) von London wieder ins West Country gezogen, ereilte ihn ein Herzinfarkt, mit der Nebenfolge einer Lungenentzündung.
Musiker sammelten für ihn, im vergangenen Jahr konnte er wieder auftreten, zum Beispiel beim Manchester Jazzfestival in Mai 2019 (woher das Foto von Brian Payne stammt).
Keith Tippett 7 Manchester Jazz Festival May 2019 by Brian Payne

Keith Tippett, geboren am 25. August 1947 in Southmead/Bristol, war in den letzten beiden Jahren immer wieder zu Krankenhausaufenthalten gezwungen. Er starb am 14. Juni 2020 an einem erneuten Herzinfarkt, wie Riccardo Bergerone, ein Freund der Familie, auf Facebook mitteilt.
Keith Tippett wurde 72 Jahre alt. In ersten Stellungnahmen wird seine integrative Kraft hervorgehoben, und der meistzitierte Satz von ihm dürfte werden:
„Möge Musik niemals nur eine weitere Möglichkeit sein, Geld zu verdienen“.
Auch er führt umstandlos zurück in die Zeiten von „Dedicated to you, but you weren´t listening“.

Foto: ©Brian Payne
erstellt: 15.06.20
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Lee Konitz, 1927-2020

Lee Konitz mit Dan Tepfer, am 13. Oktober 2019 - seinem 92. Geburtstag

Gibt es einen Musiker, dessen Fußabdruck in der Jazzgeschichte früher erfolgte als seiner?
Gibt es, um genauer zu sein, einen weiteren Überlebenden der Claude Thornhill-Ära (namentlich der Jahre 1947-48) oder Miles´ „Birth of the Cool“ (1949-50)?
Oder einen weiteren Teilnehmer an der ersten freien Improvisation der Jazzgeschichte („Intuition“, Lennie Tristano, 1949)?
Vermutlich nicht.
(Selbst Wayne Shorter ist sechs Jahre jünger.)
Lee Konitz, geboren am 13. Oktober 1927 in Chicago, war einer der stilbildenden Altsaxophonisten des Jazz, der…aber das wissen Sie ja längst schon, damit werden Sie in diesen Tagen überschüttet.
Wovon dabei sicher weniger die Rede sein wird, ist sein Eintrag in die Jazzforschung, nicht nur wegen des reichlich vorhandenen Studienmaterials, sondern auch wegen eines Aphorismus, der weit über seinen Charakter als anekdotische Evidenz hinausweist:
„That’s my way of preparation — to not be prepared. And that takes a lot of preparation!“
Verkürzt zu „prepare to be unprepared“ hat er sich damit auch verbal verewigt.
Der Tod von Lee Konitz, am 15. April 2020 in New York City, als Folge einer Covid-19-Erkrankung, ist eine gute Gelegenheit, noch einmal in den Interviewband mit Andy Hamilton hineinzuschauen:
Er stand kostenlos online, bis 30.06.20

erstellt: 16.04.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten


 

Hal Willner, 1956-2020

Standards spielen heisst: etwas Vertrautes in eigener Sprache auszugeben.
Wie überall im Leben und in der Kunst gibt es dabei verschiedene Freiheitsgrade, vom einfachen Nachspielen bis zum „arranging the hell out of something“ von Django Bates, das Gegen-den-Strich-Bürsten.
Auf dieser Skala, die man doch besser gegen das Bild eines Baumes von ansteigender Komplexität austauschen sollte, sitzt Hal Willner auf einem eigenen Ast.
Seine Interpretationen heben sich von vielen anderen ab, schon weil er selbst - von wenigen Momenten abgesehen - nicht manuell agiert.
Er liefert Konzepte. Er stiftet andere Musikhandwerker an. Er gibt Anregungen, Ideen.
Das tun andere Produzenten auch, von Manfred Eicher bis zurück Joachim Ernst Berendt.
Willner geht weiter, er denkt um Ecken, er delegiert Aufgaben, an die die Angesprochenen wohl selbst nicht gedacht hätten.
Er lässt zwei von den Rolling Stones, Keith Richards und Charlie Watts (nebst Stones-Helfern vom Bühnenhintergrund) Charles Mingus interpretieren, Elvis Costello mit dem Brodsky Quartet Kurt Weill, Chris Spedding und den einstigen Teenie Pop-Star Peter Frampton (Humble Pie, The Herd) Thelonious Monk (mit Marcus Miller am Baß!)
Sue, die Witwe von Charles Mingus, spricht zurecht von „Konfrontationen zwischen Musiker und Material, zwischen Musiker und Musiker“, in den liner notes von „Weird Nightmare - Meditations on Mingus“ (1992).
Bei diesem Projekt ging Willner noch einen Dreh weiter: er ließ die Beteiligen nicht nur ihre eigenen, sondern auch die skurrilen Instrumente von Harry Partch (1901-1974) spielen.
Wenn wir uns recht erinnern, brachte Bob Belden (1956-2015), dem solche Ideen aus der eigenen Praxis nicht fremd waren, dafür den Begriff des morphing ins Spiel.
Entfernt verwandt dazu dürfte das finnisches Ensemble Ambrosius sein, das auf seinem „Zappa album“ (2000) Zappa auf Barockinstrumenten.
Willner´s erstes Tribut-Projekt (wie es in Nachrufen bezeichnet wird) war „Amarcord Nino Rota“ (1981), u.a. mit Carla Bley, Branford und Wynton Marsalis.
Später produziert er u.a. Marianne Faithful und Lou Reed, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband.
Hal Willner Penny Arcade 1Willner stammt aus Philadelphia, kam 1974 nach New York und lernte das Produzentenhandwerk an der Seite von Joel Dorn.
Einen Namen machte er sich vor den eigenen Musikprojekten als Produzent von TV-Shows.
Die ungeheuer kreative Rolle, der Standort dieses Nichtmusikers kommt - vielleicht unfreiwillig - in der Todesnachricht seiner Freundin Penny Arcade zum Ausdruck:
„Oh no! Not Hal…….Ladies and gentleman Hal Willner has left the auditorium.”
Hal Willner, geboren am 6. April 1956 in Philadelphia, starb am 7. April 2020 in New York City, einen Tag nach seinem 64. Geburtstag.
Sein Tod soll von Covid-19 verursacht sein.

 

 

 

 

 
Foto: Penny Arcade
erstellt: 08.04.20
©Michael Rüsenberg, 2020.
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Wallace Roney, 1960-2020

In den 90ern Jahren war der Mann sowas von gefragt:
von Geri Allen, Bob Belden, Herbie Hancock, Chick Corea, Bill Evans, David Sanborn, nicht zu vergessen Tony Williams, dessen Quintett er zwischen 1988 und 1992 angehörte.
Der enorme Rückenwind war zu großen Teilen gespeist von der Idee eines keeper of the flame. Wallace Roney war Träger des Erbes von Miles Davis.
Dazu war er geradezu auserkoren. 1983 fiel er seinem Vorbild auf, ja erhielt sogar eines seiner Instrumente zum Geschenk. Er soll auch von ihm unterrichtet worden sein.
Wallace Roney copy 21991 in Montreux, wenige Monate vor dessen Tod, durfte er neben ihm die schwierigen Passagen des wohlvertrauten Repertoires vortragen.
Im September 1992 konnte er dann vollständig in dessen Rolle aufgehen, zusammen mit dem großen Rest des grandiosen zweiten Miles Davis Quintett.
Das Piano bediente damals ein gewisser Herbie Hancock, das Schlagzeug Tony Williams.
Es mag einem blümerant werden, wenn man aus gegebenem Anlass wieder einmal einem solchen Exzellenz-Cluster zuhört.
Roney hatte Übung darin, in solche Rollen zu schlüpfen. Wenige Jahre zuvor übernahm er den Posten von Freddie Hubbard in VSOP, eine Art Schattenkabinett zum nämlichen Quintett.
Wir sprechen hier von stilistischer Nähe, nicht von Mimikry, obgleich der Miles-Einfluss - von ihm selbst bestätigt - quer durch seine Karriere erkennbar blieb (sowie bei seinem drei Jahre jüngeren Bruder Antoine der von Wayne Shorter auf dem Tenorsaxophon), bis hin zu seinen Ausflügen in den HipHop Jazz Anfang der 2000er Jahre.

Melodisch immer noch Postbop, wogte er dabei rhythmisch häufig im Rezeptionsschatten von Herbie Hancock; möglicherweise eine Spätfolge der Mitwirkung an dessen „Dis is da Drum“ (1994).
Roney´s Albumdebut („Verses“, 1987) wurde von Tony Williams nicht nur produziert, sondern auch am drumset begleitet, der aus fast dem gesamten Team sodann sein Quintett formte.
Ab dem zweiten („Intuition“, 1988) übernahm diese Aufgabe Cindy Blackman, eine Zeitlang auch seine Lebensgefährtin.
Roney Alllen Vielz 11995 heiratet er einen noch größeren Star, die Pianistin Geri Allen (1957-2017).
Die Ehe wurde 2008 geschieden, aus ihr gingen drei Kinder hervor.
Im weiteren Verlauf der neuen Jahrtausends dünnt sich seine Discographie merklich aus, auf Fotos erscheint der einst so schlanke Mann zuletzt stark übergewichtig.
Wallace Roney, geboren am 25. Mai 1960 in Philadelphia, starb am 31. März 2020 in New Jersey, im Alter von 59 Jahren.
Er gilt als eines der Covid-19-Opfer.

 


Fotos:
© Richard Williams (Montreux 1991)
© Hyou Vielz (Köln, 1994)

erstellt: 31.03.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalte

 

 

Jon Christensen, 1943-2020

Christensen Tod 1

 

Pardon, aber das muss sein.
Der Tod von Lyle Mays (ein gewiß nicht unbedeutender Musiker, aber doch für den größten Teil seiner Karriere an der Seite eines Meisters) wurde von vielen Feuilletons beachtet, er wurde sogar in den Nachmittagsnachrichten des DLF vermeldet.
Der Tod von Jon Christensen (der Jahrzehnte an der Seite mehrerer Meister und dazu als bedeutender Stilist gewirkt hat), er ist am Abend des Todestages gerade mal von diversen Wikipedias erfasst.
(Es steht zu befürchten - und hat sich bestätigt -, dass sein Tod ähnlich kleine Kreise zieht wie der eines anderen großen Stilisten, Allan Holdsworth.)
Ein eklatantes Versagen des deutschen Feuilletons.
Das britische Magazin Jazzwise immerhin folgt dem Imperativ in seinem Namen und verlinkt nach ein paar Zeilen zu einem YouTube Video, einem Konzert mit Sonny Rollins, das den Verstorbenen 1971 im vollen Fluge zeigt.
Es vermittelt anschaulich einen Teil der Qualitäten, die in summa dazu führten, dass er für sein Hauslabel ECM auf fast so vielen Alben mitgewirkt hat, wie es der Anzahl seiner  Lebensjahre entspricht (das letzte 2018 mit dem dänischen Gitarristen Jakob Bro).
Darunter, wenn das britische Wikipedia richtig liegt, ein einziges in eigener Regie, „No Time for Time“, 1976.
Den Titel kann man als zarten Hinweis auf seinen Stil lesen, auf seine Qualität als einer der ersten und einer der führenden Vertreter des broken swing in Europa.
Er selbst hat sich gegenüber dem US-Magazin Drummerworld
 so geäußert:
„Wenn ich mit einer Band im 4/4-Takt in mittlerem Tempo spiele, und ich habe Lust, das ein bisschen aufzulockern, könnte ich aus dem Tempo herausgehen oder ganz aufhören - aber ich weiß immer genau, wo ich bin. Ich markiere einfach nicht die 1 oder überbrücke bis zum nächsten Takt mit fills. Ich versuche immer, das zu vermeiden. Stattdessen versuche ich, in Wellen zu spielen.“
Jon Christensen ist Ende der 50er Jahre als Autodidakt gestartet, 1960 gewinnt er einen Preis bei einem Amateurfestival; 1964 spielt er mit Kenny Dorham in Oslo, im gleichen Jahr mit der norwegischen Sängerin Karen Krog in Antibes.
1967 beginnt die Arbeit mit Jan Garbarek, danach mit Terje Rypdal, mit Keith Jarrett, dessen europäischem Quartett er angehört.
Und dann, ab 1970 ff konnte man mitunter den Eindruck haben, Norwegen verfüge nur über einen jazztrommelslager - nämlich ihn, Jon Christensen.
Er konnte vieles, und gern haben wir in diesen Stunden noch einmal nach „Cracked Mirrors“ (1987) gegriffen, das ihn mit einem jüngst Verstorbenen verbindet, nämlich Herbert Joos sowie dem österreichischen Gitarristen Harry Pepl (1945-2005), in einem Werk, das das Sampling bis in den FreeJazz treibt.
Jon Ivar Christensen, geboren am 20. März 1943 in Oslo, war verheiratet mit der Schauspielerin Ellen Horn, 69, sie war u.a. eineinhalb Jahre Kulturministerin im Kabinett von Jens (NATO) Stoltenberg.
Per Facebook teilt sie seinen Tod mit, er starb am 18. Februar 2020 im Alter von 76 Jahren, vier Wochen vor seinem 77. Geburtstag.

 erstellt: 18.02.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten

 

McCoy Tyner, 1938-2020

2020 hat einen schlechten Start; zumindest das Kurzzeitgedächtnis will uns sagen: nie zuvor sind so viele JazzmusikerInnen schon im ersten Quartal eines Jahres verstorben:
Wolfgang Dauner (10.01.), Geoff Castle (15.01.), Claudio Roditi (17.01.), Jimmy Heath (19.01.), Lyle Mays (10.02.), Jon Christensen (18.02.), nicht zu vergessen die Gitarristin Susan Weinert (02.03.) im Alter von erst 54 Jahren.

Und jetzt McCoy Tyner.

Tyner Homepage 1

 Im Sommer 2018, ein halbes Jahr vor seinem achtzigsten Geburtstag, holte ihn noch einmal seine Vergangenheit ein.
Das Risiko, dass damit ein Ereignis mit negativem Vorzeichen gemeint sein könnte, tendierte bei dieser Karriere gegen Null.
Es war die Veröffentlichung des „Lost Album“, einer Produktion im Jahre 1963 mit dem John Coltrane Quartet, fraglos einer von mehreren Gipfeln in einer außerordentlichen Karriere.
Mit 21 wurde Tyner in dieses, eines der wichtigsten Ensembles der Jazzgeschichte, berufen. Er blieb dort fünf Jahre, gestalte dort u.a. das bahnbrechende Album „A Love Supreme“ mit.
 Dass er im hohen Alter nicht mehr alle Fragen der Jazz-Archäologie beantworten konnte, die ihn anlässlich dieses Fundes bedrängte (Hat nicht doch er das unbetitelte Stück „11386“ geschrieben und nicht Coltrane? Wer war der mysteriöse Dirigent am 6. März 1963 in den Rudy van Gelder-Studios?) - wer wollte ihm das verübeln?
Am Sockel seines Rufes als „Titan“ (wie das Label Blue Note twittert) wird darob kein Krümmelchen abfallen.
McCoy Tyner war Urheber eines der prägnantesten Klavierstile des Jazz.
Er spiele das Instrument „wie ein brüllender Löwe“ wird gern der amerikanische Kritiker Bill Cole zitiert. Da ist was dran.
Die wuchtigen Bässe in der linken (Tyner war Linkshänder), die perlenden, wogenden Linien in der rechten, zumeist verbunden von einer Quartenharmonik. Er war kein Freund der Idee, einen einzelnen Ton auszukosten.
Diesen Widerhall hört man seit Jahrzehnten, vom frühen Chick Corea bis hin zu einem heutigen Pianisten wie Pablo Held.
McCoy Tyner war Anwender des Coltrane-Erbes bis weit über dessen Tod (1967) hinaus. Er hat zwar auch Geigen im Hintergrund aufziehen lassen ("Fly with the Wind", 1976), aber nie ein elektrisches Instrument angerührt.
„Elektrische Musik ist schlecht für deine Seele.“
Das Zitat erlaubt einen Blick auf seinen spirituellen Hintergrund. Aufgewachsen als Christ, konvertrierte Tyner mit 18 Jahren zum Islam. Als Eiferer ist er dabei nie hervorgetreten. Sein Lebensmotto verträgt sich bestens mit anderen Zugängen: „Diese Botschaft der Einheit war das Wichtigste in meinem Leben, und natürlich hat sie meine Musik beeinflusst“.
2002 wurde ihm eine der größten Ehrungen seines Landes zuteil, er wurde zum Arts Jazz Master im National Endowment for the Arts ernannt.

Alfred McCoy Tyner, geboren am 11. Dezember 1938 in Philadelphia, starb am 6. März 2020 in New Jersey. Er wurde 81 Jahre alt. Eine Todesursache wurde nicht bekannt gegeben.

erstellt: 07.03.20
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PS: Was haben wir während des Schreibens dieser Zeilen gehört?

„Supertrios“ aus dem Jahre 1977, vor allem die ersten sechs tracks mit Ron Carter, b, und Tony Williams, dr.

Lyle Mays, 1953-2020

Ja, man könnte versucht sein, mit einer alteuropäisch-bildungsbürgerlichen Denkfigur zu beginnen.
Wonach Mays „der Eckermann“ von Pat Metheny gewesen sei.
So oft tauchte sein Name im Gleichklang mit dem des anderen auf.
Aber erstens war Mays nie so etwas wie „der Sekretär“ von Metheny (wie Eckermann von Goethe), zweitens waren sie peers, Gleichaltrige
(Lyle David Mays, geboren am 27. November 1953 in Wausaukee/Wisconsin, ein Dreivierteljahr vor Pat Metheny).
Und sie haben bereits in jungen Jahren, beide knapp über zwanzig, eine Zusammenarbeit begonnen, die an die 30 Jahre währte, bis zu Metheny´s Album „The Way Up“, 2003. Zudem sind sie sich dabei von Anfang auf Augen- bzw. auf Ohrenhöhe begegnet.
„Lyle war einer der größten Musiker, die ich je gekannt habe. In mehr als 30 Jahren war jeder Moment, den wir in der Musik teilten, etwas Besonderes“, lässt sich denn auch Pat Metheny vernehmen.
„Von den ersten Noten an, die wir zusammen gespielt haben, hatten wir eine unmittelbare Bindung. Seine breite Intelligenz und musikalische Weisheit prägten in jeder Hinsicht jeden Aspekt dessen, wer er war. Ich werde ihn von ganzem Herzen vermissen.“
Lyle Mays 1f9bd13e02Tatsächlich ist das Werk von Mays, unabhängig von Metheny, relativ schmal; es umfasst eine Reihe von Gastrollen, u.a. bei Paul McCandless, Eberhard Weber, Bob Moses, Rickie Lee Jones oder Joni Mitchell,  und auch sechs eigene Alben, worunter das letzte „The Ludwigsburg Concert“, 2016 veröffentlicht, eine Aufnahme von 1993 ist.
Mays war auch Pianst, trat aber vor allem als keyboarder hervor, und dies weniger mit hals-
brecherischen Soli a la Jan Hammer oder Chick Corea, sondern eher im Sinne von opulenen elektro-akustischen Orchestrierungen des Klanges.
Er war einer aus den keyboard-Wagenburgen jener Jahre, der auch sehr viel später, als die Geräte deutlich geschrumpft waren, vom Vorzeigemodus des Technologen nicht lassen mochte, wie ein YouTube-Video von 2011 zeigt.

Auch zu diesem Zeitpunkt ist er noch einem Jazzrock wie in den 70ern verpflichtet.
Er, dem immer schon eine Begabung für das Mathematische nachgesagt wurde, habe, so kann man lesen, seine letzten Jahre als Software-Manager gearbeitet. 2016 erklärt er dem amerikanischen Magazin Jazziz (Foto):
"Es ist nicht so, dass ich wirklich den Wunsch habe, die Musikindustrie zu verlassen. Ich habe das Gefühl, dass die Musikindustrie mich verlassen hat, oder uns alle verlassen hat.“
Am 10. Februar ist Lyle Mays in Los Angeles einer längeren Krankheit erlegen. Er wurde 66 Jahre alt.

erstellt: 11.02.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten

 


 

Wolfgang Dauner, 1935-2020

35 Sekunden Nachruf in der Hauptausgabe der Tagesschau.
Judith Rakers spricht die Namen unfallfrei („… spielte an der Seite von Albert Mangelsdorff, Volker Kriegel oder Charlie Mariano“ (diesen Namen spricht sie semi-amerikanisch aus) - welchem Jazzmusiker aus Deutschland ist schon eine solche Aufmerksamkeit vergönnt?
Obwohl, Dauner, dessen offenkundiger Humor schnell auch eine motzige Färbung annehmen konnte, hätte er denn diesen Nachruf vorab gesehen, die Formulierung, wer von den drei Zitierten an wessen Seite gespielt habe, perspektivisch anders gewählt hätte.
Auf 36 Seiten in Knauer´s „Geschichte des Jazz in Deutschland“ wird er geführt, auf manchen mehrfach.
Und vieles, was da steht über „…_Weg bereitet“ und in den ersten Nachrufen „Urvater des deutschen Jazz“, „revolutionär“ etc. ist nicht falsch.
Dauner gehört unbestritten zu denen, die die Topographie des Jazz nach 1945 in diesem Land modelliert haben.
Gleichwohl muss man manchem heute die Linie nachzeichnen, die von „Stuttgart´s great son“ zu dem Berserker gleichen Namens in den sechzigern führt.
Dauner totalDauner war ein Mann der Tat.
Er trat mit nacktem Schlagzeuger auf, ein Klavier brannte, er spielte unter Bundeswehr-Tarnnetzen, gelegentlich spielte er auch ganze Säle leer.
Seine Laufbahn folgte auch insofern dem klassischen Weg der alten (Avant) Garde, als sie nicht direkt aus einer Akademie führte, sondern nach einem sogenannten ordentlichen Beruf, Maschinenschlosser („meine Pflegemutter hat gesagt: „Bub, bevor der nächste Krieg kommt, musst du ein richtiges Handwerk lernen.“) erst mal auf einer Parallelbahn wirtschaftlich Schwung aufnahm (Dauner hat als Trompeter bei Bäderkonzerten Maria Rökk und Zarah Leander begleitet), bevor sie sich dann auf das eigentliche Gleis begab.
Der unwahrscheinliche Ekklektizismus des Wolfgang Dauner, der sich unglaublich vieles zutraute und anpackte, und manches aus wirtschaftlichen Gründen nicht verschmähte, er nahm dort wohl seinen Anfang.
Vielleicht aber ist gerade dieser unwahrscheinliche Ekklektizismus der Grund, dass in diesem großen Aktivismus einzelne gelungene Projekte aufleuchten (z.B. das erste „Et Cetera“-Album, aufgenommen im Dezember 1970 in London), ein konzeptioneller Kern, ein Stil aber kaum zu erkennen ist. Dass über lange Strecken vieles in gediegener Konvention (das United Jazz + Rock Orchestra zum Beispiel) sich gefiel. Und schon gar nicht bis Amerika tönen konnte.
Wer an wessen Seite spielte, die Frage ist in den Fällen Albert Mangelsdorff und Eberhard Weber leichter zu beantworten.
Wolfgang Dauner, geboren am 30. Dezember 1935 in Stuttgart, ist ebendort am 10. Januar 2020 einer längeren Krankheit, wie es heißt, erlegen. Er starb keine zwei Wochen nach seinem 84. Geburtstag.

erstellt: 10.01.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten

 


Miles Davis - "Birth of the Cool"

Zum Filmstart hat sich am Nachmittag in Köln-Ehrenfeld eine spezifische Gesellschaft eingefunden, zwei Dutzend Ü 50 dürften es sein, auch Frauen sind darunter.
Niemand von ihnen wird der - irrigen - Idee anhängen, unter „Birth of the Cool“ eine Doku über die Produktion des berühmten Albums 1948/49 zu erwarten.
Mit solchen Detail-Aspekten gibt sich heute kein Film mehr ab, bestimmt keiner, der mit Hilfe der BBC produziert wurde.
Unter „Birth of the Cool“ erwartet inzwischen ein jeder eine Arbeit über den Geburtshelfer, nein den Vater jener Eigenschaft, die zu übersetzen wir aufgegeben haben.
Sie schillert umso ambivalenter auch im Deutschen lange schon im sprachlichen Original, als „cool“.
Und Stanley Nelson bedient diese Erwartung in überbordender Weise, insbesondere in den langen Passagen mit Frances Taylor (1929-2018), der wohl größten Liebe des Prince Of Darkness. Fotos und Zeitzeugen beschwören das Traumpaar des Cool in einer Weise, dass der jazz-stilistische Begriff dahinter völlig verschwindet.
Dessen große Zeit war ja auch vorbei, als die Tänzerin in das Leben des Trompeters trat, erkennbar auch als covergirl der Alben „Someday my Prince will come“, „Miles Davis in Person“ (beide 1961) sowie „E.S.P.“ (1965).
Sein Verhalten ihr gegenüber war alles andere als cool - es sei denn man weitet diese Eigenschaft aus bis ins Asoziale. Dass er ihr 1961 einen Job bei der West Side Story untersagt und buchstäblich heim an den Herd holt (wo er der Unkundigen auch noch Grundtechniken des Kochens beibringen muss) war noch die geringste Form der Unterwerfung. Sie wurde auch Opfer seiner Boxtechnik.
„Jedes Mal, wenn ich sie schlug, fühlte ich mich schlecht, denn oft war es gar nicht ihre Schuld, sondern hatte mit meinen Launen und meiner Eifersucht zu tun.“
Bis auf einen nichtssagenden Interviewschnipsel spricht Miles im Film nicht, Nelson fügt mit Geschick passende Miles-Zitate ein, nachgesprochen im typisch-heiseren MD-Ton vom Schauspieler Carl Lumbly.
Die betagte Frances Taylor, die schließlich erzählt, warum sie ihn verließ und ihm dabei fast eine Träne nachweint, das ist eine der ergreifenden Szenen im Film.
Ebenso die von stummen Schwarz-Weiß-Fotos unterlegte Schilderung, als er 1959 in einer Konzertpause aus dem Birdland auf die 52nd Street tritt, eine weiße Freundin ans Taxi begleitet, sich eine Zigarrette anzündet und nach der Weigerung gegenber einem weißen Polizisten weiterzugehen, von einem zweiten mit dem Knüppel attackiert wird. Sein helles Jacket ist mit Blutflecken übersät. Die Fassungslosigkeit über diesen rassistischen Akt, aber auch Stolz spiegeln sich eindrücklich im Gesicht des Opfers.
miles davis birth of the cool 2 rcm950x0Dem Film liefen zwei Negativ-Urteile vorauf. Daniel Kothenschulte beklagt in der FR eine Mode in Dokumentar-
filmen: „Immer scheint etwas interessanter sei als die Kunst, um die es geht: Ist es Malerei oder Fotografie, kann man sie nicht kurz genug zeigen. Und wenn es Musik ist, gibt es kein größeres Tabu als ein ausgespieltes Stück.“
Letzteres haben wir uns lange schon abgewöhnt zu erwarten; aber wenn damit gemeint sein sollte, Musik käme zu kurz in diesem Film, so trifft dies nur auf die erste halbe Stunde zu.
Ab „Kind of Blue“ (1959), der Film geht chronologisch vor, erklingt hinreichend genug, worum es geht.
Viel gravierender ist ein Verdikt von Glenn Kenny aus der New York Times, in den fast zwei Stunden Film werde Teo Macero nicht erwähnt.
Stimmt.
Dabei erscheint dessen Name treulich in den Untertiteln einer Studio-Konversation mit Miles.
Die Nichtberücksichtigung von Teo Macero (1925-2008), der nicht einfach nur der Produzent von Miles Davis war, sondern den Tonsalat der Sessions von „In a silent Way“ und „Bitches Brew“ (beide 1969) über-
haupt erst in eine Form gebracht hat (die dann eine historische wurde), ist ein schweres Manko des Filmes.
Es ist ein typisches Kennzeichen dieser Art von Musikthematisierungen, sich auf Persönlichkeiten zu konzentrieren und alles Erklären & Einordnen ebenso an Interviewpartner zu delegieren. Per Anekdote kommt es dann günstigenfalls hervor, hier beispielsweise wenn Lenny White einen vamp aus „Bitches Brew“ singt und der Regisseur die entsprechende Passage daruntermischt.
Aber was Miles Davis außer seinem von allen beschworenen Genius denn wirklich zu seiner wechselnden Musik (und ihren Konstanten) geführt hat, das bleibt auch hier unterbelichtet.
Einer Erklärung am nächsten kommt eine als „Musikologin“ bezeichnete Gesprächs-
partnerin (Tammy L. Kernodle), die den eminenten Kunstwillen von Miles als Heilung seiner schwierigen Persönlichkeit meint ausgeben zu können. Hier hätte man - statt aus der Musikwissenschaft - eine Stimme aus der Psychologie gewünscht, die das Beispiel „Miles Davis“ einbettet in das weite Feld zahlreicher verwandter Fälle aus der Musik- und Kulturgeschichte.
Immerhin, der Wahnsinn dieser Person kommt - neben aller Glorie - nicht zu kurz, man muss neben Frances Taylor nur Mark Rothbaum, seinem Manager, zuhören. 
Oder Archie Shepp, den Miles nach der kollegen-üblichen Bitte des „sit in“ kalt auflaufen lässt.
Wayne Shorter, Quincy Jones, Juliette Gréco (nur sehr kurz), Santana, Marcus Miller, Joshua Redman, Vince Wilburn, Errin Davis, der Stichwortgeber sind viele. Und eindrückliche, z.B. der Festivalchef George Wein.
Daniel Kothenschulte beklagt in der FR, Stanley Nelson streife „das Politische am Künstler Miles Davis nur oberflächlich“.
Vermutlich weiß er nicht, dass dort so gut wie nichts zu holen ist. 
Niemand weiß mehr darüber als Gerald Early. Der Kulturkritiker hat 2001 einen einzigartigen Essay veröffentlicht: „Miles Davis als amerikanischer Ritter und amerikanischer Schurke“.
Niemand, so Early, habe je erfahren, wo Miles politisch steht, was er gewählt hat. 
Keiner hat das Phänomen MD so auf den Begriff gebracht wie Gerald Early von der Washington University in St. Louis. 
Im Film kommt er nur mit Belanglosigkeiten zu Wort. 
Dessen Stärke liegt denn auch woanders, nämlich im Archivmaterial, namentlich in zahlosen Fotos. „Birth of the Cool“ beeindruckt film-ästhetisch am meisten, wo der Regisseur über keine bewegten Bilder verfügt. Stanley Nelson hat ein Händchen dafür, Fotos zu montieren, ja sogar zu rhythmisieren.

erstellt: 03.01.20, ergänzt 16.01.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten


 

Ginger Baker, 1939-2019

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Cyril Davies, Alexis Korner Blues Incorporated, Graham Bond Organization, Cream, Blind Faith, Air Force, Fela Kuti, Baker Gurvitz Army, Jonas Helborg, Gary Moore, Jazz Confusion…
viele dieser Namen rauschen durch in den Nachrufen auf einen der „100 greatest drummers of all time“ (Rolling Stone).
Sie betonen - völlig zurecht - den vierten Namen, den des Trios Cream, wo Baker zwischen 1966-68 den Ruf etabliert hat, von dem er lange Jahre zehren konnte.
Er kam aus dem in Richtung Rhythm & Blues offenen britischen Jazz-Mainstream,
kurzzeitig unterrichtet von Phil Seamen (1926-1972), der ihn mit afrikanischem Trommeln, aber auch mit der Heroin-Nadel bekannt gemacht haben soll.
Der Weg von Bond zu Cream war kurz, sozusagen auf dem Blues-Wege, nun aber erweitert um eine Solistik, wie sie die Rockmusik bis dahin nicht kannte. Bekannteste Exponate: der Willie Dixon-Klassiker „Spoonfull“ und Baker´s eigenes Feature „Toad“, darin die Doppel-bassdrum als vordergründiges, die langen patterns über die toms als sein strukturelles Markenzeichen.
Der eigentliche Motor seines Trommelstiles aber lag woanders, sozusagen auf halber Höhe.
"Wenn wir rhythmisch auseinander fallen sollten - es gilt Ginger´s hi-hat“).
Dieser Rat des afrikanischen Perkussionisten Abas Dodoo ist aktuell; er stammt aus dem April 2019, aus der Probe vor den mutmaßlich letzten Auftritten des legendären Drummers, beim Ruhrjazzfestival in Bochum und in Berlin.
Mit Musikern, die in keinem der Nachrufe auftauchen - obwohl sie bereits 1987 eine Platte mit ihm aufgenommen haben („African Force“), im Stadtgarten Köln und in einem Studio am Rande des Sauerlandes, in Iserlohn: Wolfgang Schmidtke und Jan Kazda (seinerzeit noch Mitglieder der Jazzrock-Combo „Das Pferd“) aus Wuppertal.
2019 kam noch zwei MusikerInnen aus Südtirol dazu (Michael Lösch, p, sowie Helga Plankensteiner, bars).
Kam Ginger Baker 1987 seinen Mitmusikern noch aggressiv daher, erschien er Schmidtke in diesem Jahr als gebrechlich. Er hält dessen Auffassung von Rhythmik für durchgängig „afrikanisch“. Und in der Tat, „Toad“ unter diesem Vorzeichen gehört, macht Sinn.
Ob er handwerklich zu den „100 greatest drummers of all time“ zählt, werden seine Berufskollegen kontrovers beurteilen. Im Zweifel würden sie „Sunshine of your Love“ auch ganz anders begleiten.
Aber, er war ein großer Stilist. Und neben Afrika klangen bei ihm sicher auch Elvin Jones und Art Blakey mit an.
In deren Sektor aber, ausweislich eines Mitschnittes vom Deutschen Jazzfestival Frankfurt 1993 (mit Charlie Haden und Bill Frisell), war er eine eher kleine Leuchte.
Peter Edward „Ginger“ Baker, geboren am 19. August 1939 im Londoner Vorort Lewisham, ist am 6. Oktober 2019 in einem Krankenhaus in Canterbury verstorben. Er wurde 80 Jahre alt.

 erstellt: 06.10.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten