Für den 22. Februar 2021 war im Wiener Konzerthaus ein Konzert angesetzt, die Wiederholung eines bereits zweimal verschobenen Auftrittes von Chick Corea & Vigilette (Carlitos Del Puerto, b, Marcus Gilmore, dr).
Ob er auch diesmal sein Publikum nicht nur entzückt, sondern auch aktiv (heute muß man sagen „pro-aktiv“) einbezogen hätte? Durch das Einholen des Kammertones „a“ wie auf seinem letzten, zu Lebzeiten veröffentlichten Album „Chick Corea plays…“?
Vermutlich. Wir haben es ähnlich erlebt, bei der Chick Corea Akoustic Band, einem seiner bedeutenden Langzeitprojekte (mit John Patitucci, b, Dave Weckl, dr) in der Philharmonie Essen.
Der Pianist wickelte, nahezu wortwörtlich, das Publikum um die Finger. Eine der größten Stimmen der Jazzgeschichte, dem das Auditorium eh zu Füßen liegt, griff zu Mitteln aus dem Varieté.
Und eben das macht die Dualität, man könnte auch sagen: die Facetten dieses Musikers aus. Sein Ton, seine rhythmisch-melodischen Signaturen auf Piano, E-Piano und Synthesizer gehören zu den Ikonen der gesamten Gattung.
Ihr Einfluß auf die Formsprache des Jazz - in Ton- und Printdokumenten, noch dazu in verschiedenen Stilen - ist gigantisch. Wobei „einflußreich“ nicht wie gewöhnlich mit „erfolgreich“ zu verwechseln wäre: der Mann hat Erfolg gehabt, ja, zuhauf.
Er hat zudem mit seinen Improvisationen und Kompositionen Heerscharen von KollegInnen zum Nachspielen und Interpretieren angeregt - aber unter der Handvoll Millionseller des Jazz findet sich keiner seiner um die 100 Tonträger.
Andererseits wurde sein außer-musikalischer Einfluß in Baden-Württemberg 1993 als so beängstigend eingestuft, dass die Landesregierung einem Veranstalter in Stuttgart den Subventionshahn zuzudrehen drohte und der Künstler vor dem Verwaltungsgericht Mannheim mit seinem Einspruch scheiterte.
Grund war Corea´s Bekenntnis zu Scientology, das seine Fans ebenso billigend in Kauf nahmen wie die Lobhudeleien auf und die Performances mit seiner Ehefrau Gayle Moran, um an die wahren nuggets seiner Kunst zu gelangen.
Those were the days.
Der Ministerpräsident damals hieß Erwin Teufel.
Sein Nachnachfolger Kretschmann säße heute bei Chick Corea in Stuttgart in der ersten Reihe. Wir wissen nicht, wie jazz-affin der grüne MP ist. Aber sollte er in seiner Chick Corea-Begeisterung jenen Begriff verwenden, der jetzt auch durch die Feuilletons fliegt (Chick Corea als „Chamäeon“), sähen wir uns zur Opposition gezwungen.
Denn was auch immer Corea angefasst hat, er ist nicht im jeweiligen Kontext verschwunden, sondern hat ihm einen, nämlich seinen Stempel aufgeprägt - vom Klavierkonzert mit den Londoner Sinfonikern bis zu seinen „Children Songs“, solo. Wo Corea drin war, hat man ihn herausgehört.
Armando Anthony Corea, genannt Chick, geboren am 12. Juni 1941 in Chelsea/Massachussets, einem Vorort von Boston, hat - im Gegensatz zu heutigen Jazzmusikern - nie ein Studium absolviert. Seine einzige formale Ausbildung, sagt er in einem Interview, seien 6 jahre Unterricht ab dem 8. Lebensjahr bei Salvatore Sullo gewesen, einem Konzertpianisten in Boston. Seine Jazz-Edukation war noch informeller, nämlich durch seinen Vater Armando, einen Amateurjazzmusiker, mit dem er früh auch aufgetreten ist.
Sein erstes Jazzvorbild: Horace Silver. 1962 beginnt Coreas professionelle Karriere in New York, bei Mongo Santamaria, es folgen Jobs bei Stan Getz, Herbie Mann u.a. Sein zweites eigenes Album „Now he sings - now he sobs“ setzt 1968 bereits Standards: für seine spezifische Ausformung des Jazztrio-Formates (damals mit Miroslav Vitous und Roy Haynes), für einen Pianostil, dem nichts mehr von Horace Silver anhaftet. Und sein Faible für das Spanische: der opener von „Now he sings…“ („Steps - what was“) enthält bereits die Blaupause für „Spain“, einen seiner großen Erfolge fünf Jahre später.
Im September jenes Jahres steigt Corea für Herbie Hancock bei Miles Davis ein („Filles des Kilimanjaro“), die wenige FreeJazz-Momente von Miles verbinden sich insbesondere mit den Passagen, wo unter seinen schrill perlenden Läufen auf dem Fender Rhodes Electric Piano der Beat aufgerieben wird.
Seine Konversion zur wirklich Avantgarde, 1970 im Quartett Circle (u.a. mit Anthony Braxton), war kurz und von langfristiger Konsequenz. Im Gegensatz zu dem, was jetzt manche Nachrufe insinuieren, mißfiel ihm dieser Ansatz außerordentlich, er hielt ihn für „zu unvorhersehbar“. Es drängte in ihm nach mehr Planung, nach - Komposition. Nach einem Konzept, das er später so beschreibt:
„Was ich anstrebe, ist, die Disziplin und Schönheit des Symphonieorchesters und der klassischen Komponisten - die Subtilität und Schönheit von Harmonie, Melodie und Form - zu verbinden mit der Lockerheit und der rhythmischen Tanzbarkeit des Jazz und der eher folkloristischen Musik.“
Die erste Ausformulierung dieser Prinzipien war die „halb-elektrische“ Formation von Return To Forever (u.a. mit dem Saxophonisten Joe Farrel). Man kann sie über fast alle weiteren Stationen seiner Karriere, vielfach unter Zumischung „des Spanischen“ und „Brasilianischen“, in verschiedenen Genres wiedererkennen: von seinen solistischen „Childrens Songs“ über die diverse Jazzrock-Bands bis zu seinen Orchesterwerken.
Nicht alle gelungen, manche mit Pomp, manche bloße Fingerübungen, ja manches auch kitschig.
Aber, viele, viele Nuggets, great moments of jazz history.
Chick Corea hatte ein Händchen für Rhythmusgruppen: angefangen mit Miroslav Vitous und Roy Haynes, vieles, aber nicht alles mit Stanley Clarke, aber fast alles und über den längsten Zeitraum mit John Patitucci und Dave Weckl, egal ob „akustisch“ oder „elektrisch“. Nicht zu vergessen in den letzten Jahren Christian McBride und Brian Blade, sowie die ultra-kompakten Jimmy Earl und Gary Novack Anfang der 90er Jahre.
Sowie - da pflichten wir der FAZ bei - der „unwiderstehliche“ Steve Gadd. Unvergessen sein Duo mit Corea an den keyboards in „Spanish Fantasy, II“, 1976.
Was bleibt? Für Mai ist ein neues Album der Acoustic Band angekündigt. Man wird es mir „anderen Ohren“ hören, jetzt, wo die Möglichkeit für einen Live-Kontakt auf ewig genommen ist.
Viele Tontäger werden Maßstab bleiben, ganz zu schweigen von den Tonnen, die es im Internet zu heben gilt. Und schon geht es los: Freunde schicken Youtube-links!
Armando Anthony „Chick“ Corea ist am 9. Februar in Tampa/Florida an einer erst kürzlich bei ihm diagnostizierten Krebserkrankung gestorben. Er wurde 79 Jahre alt.
erstellt: 11.02.21
©Michael Rüsenberg, 2021. Alle Rechte vorbehalten
Nachruf von Tim Garland auf London Jazz News.
Er hat 21 Jahre mit Chick Corea gespielt.