Pardon, aber das muss sein.
Der Tod von Lyle Mays (ein gewiß nicht unbedeutender Musiker, aber doch für den größten Teil seiner Karriere an der Seite eines Meisters) wurde von vielen Feuilletons beachtet, er wurde sogar in den Nachmittagsnachrichten des DLF vermeldet.
Der Tod von Jon Christensen (der Jahrzehnte an der Seite mehrerer Meister und dazu als bedeutender Stilist gewirkt hat), er ist am Abend des Todestages gerade mal von diversen Wikipedias erfasst.
(Es steht zu befürchten - und hat sich bestätigt -, dass sein Tod ähnlich kleine Kreise zieht wie der eines anderen großen Stilisten, Allan Holdsworth.)
Ein eklatantes Versagen des deutschen Feuilletons.
Das britische Magazin Jazzwise immerhin folgt dem Imperativ in seinem Namen und verlinkt nach ein paar Zeilen zu einem YouTube Video, einem Konzert mit Sonny Rollins, das den Verstorbenen 1971 im vollen Fluge zeigt.
Es vermittelt anschaulich einen Teil der Qualitäten, die in summa dazu führten, dass er für sein Hauslabel ECM auf fast so vielen Alben mitgewirkt hat, wie es der Anzahl seiner Lebensjahre entspricht (das letzte 2018 mit dem dänischen Gitarristen Jakob Bro).
Darunter, wenn das britische Wikipedia richtig liegt, ein einziges in eigener Regie, „No Time for Time“, 1976.
Den Titel kann man als zarten Hinweis auf seinen Stil lesen, auf seine Qualität als einer der ersten und einer der führenden Vertreter des broken swing in Europa.
Er selbst hat sich gegenüber dem US-Magazin Drummerworld
so geäußert:
„Wenn ich mit einer Band im 4/4-Takt in mittlerem Tempo spiele, und ich habe Lust, das ein bisschen aufzulockern, könnte ich aus dem Tempo herausgehen oder ganz aufhören - aber ich weiß immer genau, wo ich bin. Ich markiere einfach nicht die 1 oder überbrücke bis zum nächsten Takt mit fills. Ich versuche immer, das zu vermeiden. Stattdessen versuche ich, in Wellen zu spielen.“
Jon Christensen ist Ende der 50er Jahre als Autodidakt gestartet, 1960 gewinnt er einen Preis bei einem Amateurfestival; 1964 spielt er mit Kenny Dorham in Oslo, im gleichen Jahr mit der norwegischen Sängerin Karen Krog in Antibes.
1967 beginnt die Arbeit mit Jan Garbarek, danach mit Terje Rypdal, mit Keith Jarrett, dessen europäischem Quartett er angehört.
Und dann, ab 1970 ff konnte man mitunter den Eindruck haben, Norwegen verfüge nur über einen jazztrommelslager - nämlich ihn, Jon Christensen.
Er konnte vieles, und gern haben wir in diesen Stunden noch einmal nach „Cracked Mirrors“ (1987) gegriffen, das ihn mit einem jüngst Verstorbenen verbindet, nämlich Herbert Joos sowie dem österreichischen Gitarristen Harry Pepl (1945-2005), in einem Werk, das das Sampling bis in den FreeJazz treibt.
Jon Ivar Christensen, geboren am 20. März 1943 in Oslo, war verheiratet mit der Schauspielerin Ellen Horn, 69, sie war u.a. eineinhalb Jahre Kulturministerin im Kabinett von Jens (NATO) Stoltenberg.
Per Facebook teilt sie seinen Tod mit, er starb am 18. Februar 2020 im Alter von 76 Jahren, vier Wochen vor seinem 77. Geburtstag.
erstellt: 18.02.20
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