Ginger Baker, 1939-2019

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Cyril Davies, Alexis Korner Blues Incorporated, Graham Bond Organization, Cream, Blind Faith, Air Force, Fela Kuti, Baker Gurvitz Army, Jonas Helborg, Gary Moore, Jazz Confusion…
viele dieser Namen rauschen durch in den Nachrufen auf einen der „100 greatest drummers of all time“ (Rolling Stone).
Sie betonen - völlig zurecht - den vierten Namen, den des Trios Cream, wo Baker zwischen 1966-68 den Ruf etabliert hat, von dem er lange Jahre zehren konnte.
Er kam aus dem in Richtung Rhythm & Blues offenen britischen Jazz-Mainstream,
kurzzeitig unterrichtet von Phil Seamen (1926-1972), der ihn mit afrikanischem Trommeln, aber auch mit der Heroin-Nadel bekannt gemacht haben soll.
Der Weg von Bond zu Cream war kurz, sozusagen auf dem Blues-Wege, nun aber erweitert um eine Solistik, wie sie die Rockmusik bis dahin nicht kannte. Bekannteste Exponate: der Willie Dixon-Klassiker „Spoonfull“ und Baker´s eigenes Feature „Toad“, darin die Doppel-bassdrum als vordergründiges, die langen patterns über die toms als sein strukturelles Markenzeichen.
Der eigentliche Motor seines Trommelstiles aber lag woanders, sozusagen auf halber Höhe.
"Wenn wir rhythmisch auseinander fallen sollten - es gilt Ginger´s hi-hat“).
Dieser Rat des afrikanischen Perkussionisten Abas Dodoo ist aktuell; er stammt aus dem April 2019, aus der Probe vor den mutmaßlich letzten Auftritten des legendären Drummers, beim Ruhrjazzfestival in Bochum und in Berlin.
Mit Musikern, die in keinem der Nachrufe auftauchen - obwohl sie bereits 1987 eine Platte mit ihm aufgenommen haben („African Force“), im Stadtgarten Köln und in einem Studio am Rande des Sauerlandes, in Iserlohn: Wolfgang Schmidtke und Jan Kazda (seinerzeit noch Mitglieder der Jazzrock-Combo „Das Pferd“) aus Wuppertal.
2019 kam noch zwei MusikerInnen aus Südtirol dazu (Michael Lösch, p, sowie Helga Plankensteiner, bars).
Kam Ginger Baker 1987 seinen Mitmusikern noch aggressiv daher, erschien er Schmidtke in diesem Jahr als gebrechlich. Er hält dessen Auffassung von Rhythmik für durchgängig „afrikanisch“. Und in der Tat, „Toad“ unter diesem Vorzeichen gehört, macht Sinn.
Ob er handwerklich zu den „100 greatest drummers of all time“ zählt, werden seine Berufskollegen kontrovers beurteilen. Im Zweifel würden sie „Sunshine of your Love“ auch ganz anders begleiten.
Aber, er war ein großer Stilist. Und neben Afrika klangen bei ihm sicher auch Elvin Jones und Art Blakey mit an.
In deren Sektor aber, ausweislich eines Mitschnittes vom Deutschen Jazzfestival Frankfurt 1993 (mit Charlie Haden und Bill Frisell), war er eine eher kleine Leuchte.
Peter Edward „Ginger“ Baker, geboren am 19. August 1939 im Londoner Vorort Lewisham, ist am 6. Oktober 2019 in einem Krankenhaus in Canterbury verstorben. Er wurde 80 Jahre alt.

 erstellt: 06.10.19
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Loft@30

Seit vier Jahren ist er als Flötist des WDR Sinfonieorchesters pensoniert, das Bundesverdienstkreuz hat er (2015), was kann jetzt noch kommen?
Ein Doktortitel vielleicht?
Sosehr er ihm auch zustünde, ein honoris causa allemal, die Zeit wird knapp.
Und er nutzt sie, auf ihm vertraute Weise, er spielt z.B. als Aushilfe im Gürzenich Orchester und freut sich wie dolle.
HMM 30 jahre loft 1 foto gerhard richterDas Vergnügen darüber ist ein kleiner Teil der großen Erzählung „Das Loft wird 30“. Denn Hans-Martin Müller (noch 66) ist es bestens gelungen, sein Lebenswerk zukunftsfest zu machen.

Sein Lebenswerk, das Loft, war dem britischen Guardian 2016 als einer der „10 besten Jazzclubs Europas“ zu Ohren gekommen.
So ungenau wie die Angabe „beer €3 half litre“, so unge-
nau ist die Charakterisierung als „Jazzclub“.
Denn wer den dritten Stock einer früheren Parfümfabrik in Köln-Ehrenfeld erklommen hat, trifft dort in der Tat zunächst auf einen Ausschank.
Aber was er zu hören bekommt (und was der neue Slogan „beyond mainstream“ nur lauwarm einfängt), enteilt mehr noch als im nahen Stadtgarten in Richtung Avantgarde (die Schnittmenge mit dem Straight Ahead Jazz im neu eröffneten King Georg dürfte Null sein).
Im Loft spielen, heißt für viele Musiker, inbesondere Kölner, etwas ausprobieren können. Experimentelle Musik, als Begriff kaum noch gebräuchlich, hat hier einen Ort. Zum Beispiel beim Jubiläumskonzert Dietmar Bonnen´s „12 Tones for 9 Musicians“, worin nur dem Schlagzeuger die Zeitachse des Kompositionsrahmens bekannt ist.
Im Loft spielen, heißt für die allermeisten auch: wenig Einkommen erzielen. Denn alle spielen auf Eintritt.
Und dennoch drängen sie, von Absolventen des Jazzseminars an der Kölner Musikhochschule, die hier ihre Bachelor- und Masterkonzerte geben, bis zu Alexander von Schlippenbach, der auf der alljährlichen Dezember-Tournee das Loft nicht auslassen kann.
Nils Wogram, Hayden Chisholm, Pablo Held, Jonas Burgwinkel, Robert Landfermann, jüngst Janning Trumann sowie fast alle 20 Träger des Kölner Jazzpreises - die post-„Jazzhaus“-Generation des Kölner Jazz ist im Loft gestartet (und später auch im Stadtgarten heimisch geworden).
Das Loft veranstaltet an die 220 Konzerte im Jahr; seit es sie gibt, seit 11 Jahren, wird es dafür mit der Spielstättenprämie des Landes NRW ausgezeichnet, 2019 waren das 20.000 Euro.
Mit der ähnlichen Auszeichnung des Bundes, mt „Applaus“, gab es groteske Probleme, das Loft bewirbt sich nicht mehr, es kann sich nicht mehr bewerben. Der Grund ist ein erfreulicher: ein Betriebskostenzuschuß der Stadt Köln (ein Ausschlußkriterium für „Applaus“). Er ist 2019 auf 100.000 Euro gewachsen.
Und nun wird´s familiär, systemisch-familiär.
mueller benni 19sep 30 jahre loft 1 foto gerhard richterDie Unterstützung der Stadt erlaubt, die in 2017 einge-
richtete halbe Stelle für einen künstlerischen Betriebssleiter nunmehr auf eine volle aufzustocken.
Urs-Benedikt Müller (noch 37), der sich dort warm-
gelaufen hat, hat sie jetzt übernommen.
UBM ist promovierter Biologe, nach 15 Jahren verlässt er die Natur-
wissenschaft, um sich vollamtlich um den Konzertbetrieb zu kümmern.
Die Lösung ist einleuchtend und von vielen Beteiligten derart begrüßt, dass HMM, der den Namen seines Sohnes gern mit akademischen Grad ausspricht, auf der Jubiläumsfeier verständigen Beifall erntet, als er einräumt, dieser Doktortitel bedeute ihm fast mehr als seinem Sohn.
Der Generationswechsel aber ist  noch breiter unterfüttert.
Eine Gilde endzwanziger MusikerInnen führt unter der Marke Junges Loft eine Reihe in Eigenregie durch. In Ansätzen schimmert hier ein Kuratorenmodell durch, das im Stadtgarten, im „europäischen Zentrum für Improvisierte Musik“, inzwischen voll entfaltet ist.
Ein „Kölner Jazz-Krieg“ aber, wie ihn ein Autor nicht zu Unrecht für die 80er Jahre ausgemacht hatte (damals stand die damals junge Stadtgarten-Mannschaft gegen eine alte Gruppe um den Impresario Gigi Campi), dürfte vielen heute völlig unvorstellbar, und allenfalls denen Ü60 erinnerlich sein.
Urs-Benedikt Müller, der Benni, ist einer der drei SprecherInnen der Kölner Jazzkonferenz, die eine Vielzahl der Aktiven der Kölner Szene vereint. Und die veranstaltet ihre Jahreshauptversammlung demnächst - nein nicht im Loft, nicht im Stadtgarten, im King Georg.

erstellt: 23.09.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten
Fotos: Gerhard Richter


David Samuels, 1948-2019

Die Crux seines Vornamens: dass er in beiden Varianten geführt wird.
Als Dave liegt sein letzter Eintrag in der JC-CD-Datenbank 1994 bei Pat Metheny „We live here“, 1994, laut liner notes mit einem Cymbal-Einsatz.
Als David hingegen wird er bei Metheny bis 2003 geführt, bis „The Way Up“.
Ähnlich bei Frank Zappa; je nach Vornamen taucht er dort bereits 1969 auf („You can´t do it on stage anymore, Vol. 4“ sowie „Läther“, 1976), aber auch auf dem legendären „Zappa in New York“, 1976.
Später noch „ARC“ von Jimmy Haslip, 1993.
Am längsten, 1978 bis 2008, wenn auch nicht durchgängig mit Begeisterung, blieb er bei den Jazzrock-Softies von Spyro Gyra.
David Samuels death lailasnews 600x400Und mittendrin das, was ihn bei uns bekannt gemacht hat, das Duo mit seinem alter ego David Friedman, Double Image „Open Hand“, 1993.
Das war das Nach-Echo eines Quartetts, in dem die beiden Außenseiter-Instrumente - vib und mar - zwischen 1977 und 1980 mal die Hauptrolle spielen durften.
Das Stabinstrument hat er in Boston, an der Berklee School of Music, bei Gary Burton gelernt, bevor er selbst dort zu den Lehrenden stieß.
Er hat zwei Lehr-Videos und ein -Buch über das Vibraphon veröffentlicht.
Sein professionelles Musikerleben begann 1974 mit Gerry Mulligan, beispielsweise dem berühmten Carnegie Hall Conceert, es schloß mit dem Caribbean Jazz Project, ua. mit Paquito
d´Rivera.
Er hat wohl an die 10 Alben unter eigenem Namen veröffentlicht, auf zahllosen Studiosessions gewirkt, in den letzten Jahren war er von einer Krankenheit gezeichnet.
Routine hat ihm nichts ausgemacht, auch beim dreihundertsten Male könne einem zu einem Stück noch etwas Neues einfallen.
„Oder man kann wenigstens jemand anderen inspirieren, anders zu spielen. Auch so kann man sich lebendigt halten.“
David „Dave“ Samuels, geboren am 9. Oktober 1948 in Waukegan/Ill, starb am 22. April 2019 in New York. Er wurde 70 Jahre alt.

erstellt: 24.04.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten


Jazz-Kahlschlag auf WDR3

Der Aprilscherz 2019 verspricht in Nordrhein-Westfalen, beim Kultursender des Landes, bei WDR3, besonders „nachhaltig“ zu werden.
Sein Gehalt steht, wie französischen Musikern auffällt, im Einklang mit Ereignissen bei ihnen daheim („Bei France Musique ist es genau so!“).
Der Aprilscherz 2019 bleibt bei WDR3 freilich nicht auf den 1. April beschränkt, sondern er gilt auch an den Folgetagen - er gilt bis zur nächsten Programm-„Reform“.
Wenn Jazzmusik von WDR3 vermutlich verschwunden sein wird.

Noch ist es nicht so weit, noch ist WDR3 lediglich auf dem Wege dorthin.
Zum 1. April 2019 wurde allen freien Mitarbeiter aus dem Bereich Jazz & World „die bisherige Form der Zusammenarbeit (…) als sendungsgestaltender Autor*in (…) beendet“, darunter zwei, die für ihre journalistische Arbeit für WDR3 mit dem „WDR Jazzpreis“ ausgezeichnet worden sind.
WDR3 wird ab dem 1. April 2019 „keine Programmkästchen mehr für die jeweiligen Genres haben, sondern eine Musikauswahl bieten, die – ausgehend vom Jazz – genreübergreifend ist.“ 

Damit werde der „Wechsel von der monothematischen Autorensendung zur kuratierten und moderierten Playlist“ vollzogen, präsentiert von lediglich vier ModeratorInnen.
Was hip & weltoffen wirken soll - bedeutet de facto den Abschied von WDR3 aus dem Jazzdiskurs.
Der größte deutsche öffentlich-rechtliche Radiosender, der einst mit Hilfe eines Dietrich Schulz-Köhn viele Hörer zum Jazz geführt hat, ohne dessen anfängliche Unterstützung der Stadtgarten Köln heute nicht als „europäisches Zentrum für Improvisierte Musik“ dastünde - er bezeichnet die stolze Musikgattung Jazz als „Programmkästchen“.
Sie wird sich ab dem 1.4.19 montags bis freitags die Strecke ab 22:04 Uhr teilen mit „World“ und „avanciertem Pop“. Mit anderen Worten: wer Jazz hören, wer gar seine vorhandenen Kenntnisse dieser Musikgattung aktualisieren will, muss immer auch die anderen Gattungen in Kauf nehmen (und vice versa).

Das mag in wenigen Einzelfällen fruchtbar sein.
Das ist  als Programmrichtlinie einer Institution mit Kulturauftrag musik-ästhetisch kaum zu begründen. Man wird nichts wiederfinden. 

(Würde WDR3 sich trauen, Kammermusik und Oper auf eine „playlist“ zu reduzieren?)
Die größte deutsche Radioanstalt begibt sich in Sachen Jazz - ohne Not - unter den Standard aller anderen ARD-Anstalten.

erstellt: 13.03.19/korr. 20.03.19
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Uli Scherer, 1953 - 2018

uli schererSofort kommt dieses Bild wieder hoch: Festival „post this - neo that“, 1990 oder 1991 in der Philharmonie Köln:
AM4, dem Namen zum Trotz drei Musiker, raumgreifend auf der großen Bühne.
Uli Scherer, p, Linda Sharrock, voc, Wolfgang Puschnig, as, fl, in der vierten „Rolle“, unsichtbar für das Publikum, ein Sampler, der seine Runden zieht.
Das Programm: gestreichelte, gedehnte Balladen, viel rubato.
Etwa im gleichen Zeitfenster, Stadtgarten Köln: dieselben Menschen plus Jamaaladeen Tacuma, bg, in einer Hektik aus Blech & Beat, ausgelöst durch vier Perkussionisten aus Korea - Red Sun & Samul Nori.

Mehr als eine Dekade waren einem Scherer & Puschnig schon vertraut, seit sie 1977 gemeinsam mit Matthias Rüegg das Vienna Art Orchestra gegründet hatten. Scherer blieb bis 1997 dabei.
Er stammte aus Villach in Kärnten, in Wien hat er studiert, dort und in St. Gallen hatte er späteer Lehraufträge. Und in den speziellen Wiener Kreisen jener Jahre kam er an Ernst Jandl (1925-2000) nicht vorbei (was auch heute noch für manchen seiner Kollegen gilt).
Mit Jandl erhielt er 1988 den Deutschen Kleinkunstpreis in Mainz, 1990 folgte der Kulturpreis der Stadt Aargau/CH und 1996 der Kulturpreis seiner Heimatstadt Villach (Foto).
In den letzten Jahren verlegte er sich mehr auf Theatermusik an Bühnen in der Schweiz und Österreich.
Der Landeshauptmann von Kärnten nennt ihn zurecht „ein Aushängeschild, das weit über die Grenzen Kärntens Spuren hinterlassen hat“.
Es sind Spuren eines Kärtners, denen man gerne folgen mag.
Uli Scherer, geboren am 26. März 1953 in Villach, verstarb Ende November 2018 (der genaue Todestag ist keiner Quelle zu entnehmen). Er wurde 65 Jahre alt.

erstellt: 04.12.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten


 

Wolfgang Schlüter, 1933-2018

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Ein Bild, ein Klang, die in Erinnerung bleiben:
drei ältere Herren bahnen sich ihren Weg an Buchregalen und Zuhörern vorbei auf den letzten freien Fleck zu.
Michael Naura (1934-2017) und Wolfgang Schlüter, schlohweiß, bärtig, kugelrund, wie Kinder sich freundliche Seebären vorstellen, Peter Rühmkorf (1929-2008), mit dem scharf geschnittenen Profil eines weisen Indianers.

In Jahrzehnten gewachsene Routiniers einer Gattung, von der manche behaupten, dass sie schon lange tot sei: Lyrik & Jazz.
Nur, sie hatten dabei nicht Naura, Schlüter & Rühmkorf auf der Rechnung.
Zu diesem Zeitpunkt, in einer Kölner Buchhandlung irgendwann in den 90ern, betrieben die drei ihre Kunst schon seit 30 Jahren. Ihr Vortrag war, wie ein späterer WDR-Redakteur und Gourmet zu sagen pflegte, „gut abgehangen“.
Die drei brauchen keine Anlage; das Wort greift nach dem Ton, der Ton angelt sich das Wort - eine Lektion in vermeintlich versunkenem Kulturgut.
Schlüter und Naura kannten sich seit 1953 in Ost-Berlin, da war der Ältere, weil er sich einer Verletzung wegen für das Paukenfach nicht eignete, unter dem Eindruck von Lionel Hampton und Milt Jackson gerade zum Vibraphon gewechselt. An der Seite von Naura wechselte er 1956 nach Hamburg.
Am Vibraphon blieb er - der den Bereich „Free“ Gunther Hampel überließ - über Jahrzehnte eine erste Adresse für erstaunlich vielen Gelegenheiten: von der NDR Big Band, Kurt Edelhagen, Paul Kuhn und Peter Herbolzheimer, ja auch James Last (1985), bis zu Peter Giger´s Family Of Percussion und Volker Kriegel.
1985 bekam er eine Professur an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, für 2019 hatte er noch Pläne für sein Quartett plus Streicher.
2013, zu seinem Achtzigsten, erschienen seine Lebenserinnerungen „A One, Two, Three, Four…“ als Book On Demand.
Wolfgang Schlüter, geboren am 12.11.1933 in Berlin-Prenzlauer Berg, starb an den Folgen eines Schlaganfalles an seinem 85. Geburtstag, am 12.11.2018 in Hamburg.
Er lebte, wie sein Label mitteilt, nach einem Motto von Peter Rühmkorf „Bleib erschütterbar und widersteh´“ - dasselbe konnte man auch über seinen Freund Naura sagen.

erstellt: 13.11.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten


 

Auf vielfachen Wunsch von Spiegel Online...

...ladt JC erneut einen Beitrag hoch, in den dieser Tage viel hineingeheimnist wird.
Ja, er war "gelöscht", wie das bei Einträgen unter "news" so üblich ist.
Eine Chance wahrzunehmen, wer & was gemeint ist/war;
z.B. den Unterschied zwischen "keine kuratorische Erfahrung" und "keine kuratorische Leistung".
Und den "misogynen" (SZ) Charakter des Beitrages zu entdecken - oder auch nicht.

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Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft, in der Kulturpolitik von ganz besondrem Duft.
Das wichtigste deutsche Jazzfestival, das Jazzfest Berlin, wird ab 2018 von einer Frau geleitet: von Nadin Deventer, 40.
In einem Land, das seit 12 (und bald mehr?) Jahren von einer Kanzlerin geführt wird, sollte das nicht mal mehr einen Wimpernschlag hervorrufen. Zumal in einer Szene, deren Maulheldentum lange schon das entsprechende Sprungbrett gezimmert hat.
Die Szene steht Kopf, von „öffentlicher Hinrichtung“ des Festivals raunt ein Insider, mit Nadin Deventer hatte einfach keiner gerechnet. Obwohl, oder weil sie sie alle kennen. Seit 2013 ist sie den Berliner Festspielen in diversen Positionen verbunden, in den letzten drei Jahren, laut Jazzfest-Impressum, verantwortlich für „Festival Koordination & Organisation“, an der Seite von Richard Williams, dem Jazzfest-Programmchef (2015-17).
Die Szene steht auch deshalb Kopf, weil von Deventer keine kuratorische Leistung überliefert ist, die - Achtung, schiefer Vergleich! - beispielsweise dem legendären Merkel-Beitrag in der FAZ auch nur in kleiner Portion entspräche.
In dem Wortgeklingel, mit dem ihr oberster Chef Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, nun diese Hausberufung verkauft, ist sie gar nicht wieder zu erkennen: als „Jazzexpertin“, als „studierte Jazzmusikerin“, mit „untrüglichem Gespür für Qualität“ und „dem Drang, Jazz als progressive Kunstform erlebbar zu machen - experimentell, klug und politisch engagiert“.
Gut, dass Helmut Schmidt dies nicht mehr lesen muss.
Für den nächsten Satz hätte er Oberender in die HNO-Klinik geschickt:
„Sie hört nicht nur Jazz, sie lebt ihn.“
Kann man sich so einen Quatsch bei einer Berufung im Bereich Klassische Musik oder Neue Musik vorstellen? ("XY hört nicht nur Neue Musik, er lebt sie".)
Frau Deventer bedankt sich mit einem Text, der klingt, als habe sie den gleichen ghostwriter eingespannt:
Nadine Deventer 1
„Für mich ist Jazz als Improvisationsmusik gelebte Diversität, ein höchst kreativer und gleichberechtigter Dialog. Auch das Jazzfest Berlin mit seiner über 50-jährigen sehr erfolgreichen Geschichte sehe ich zukünftig verstärkt verortet als Teil einer weltweiten Community, verankert in der Berliner Musik- und Kulturlandschaft – beides auch zur Stärkung Berlins als Jazzstandort.“



Mag sein, dass das der Sound ist, der der Betriebstemperatur der Berliner Kulturpolitik entspricht.
Die lebt ihn nicht, die hört ihn nicht, sie schwadroniert nur über Jazz - als habe es einen Richard Williams, einen Bert Noglik, einen Albert Mangelsdorff, einen George Gruntz, einen Joachim Ernst Berendt nie gegeben.
Der gemeine Kölner sagt: Jazzstandort Berlin? Auf Augenhöhe mit Knollendorf!

erstellt: 11.04.17
©Michael Rüsenberg, 2017. Alle Rechte vorbehalten


jazz#MeToo

Gestern noch haben wir auf bandcamp tracks aus ihrem Debütalbum „Magdalena“ gehört.
Und uns darüber gefreut, dass eine Schweizer Tenorsaxophonistin einen MBase-artigen Stil pflegt, und gestaunt, dass sie ihn beim Urvater des asymetrischen Funk über Jahre gelernt hat, bei Steve Coleman.
Heute nun erhalten wir über London Jazz News einen link auf einen großen Artikel der Daily Mail New York City.
Und erfahren darin viel, sehr viel über die Kosten des sehr speziellen paying the dues für die junge Schweizerin beim Altmeister.
Mit anderen Worten, #MeToo hat nun auch den Jazz erreicht.
Es ist nicht der erste Fall von sexual harrassment in unserer kleinen Welt, wie dieses Feld der Übergriffigkeit im Ango-Amerikanischen heisst, aber der erste, der vor Gericht geht.
grand colemanSteve Coleman, 62, verklagt Maria Grand, 26, wegen Verleumdung („defamation“).
Der Streitwert, nicht ganz unsexy, beträgt 500.000 Dollar, weil Coleman´s Ruf ramponiert sei und er Schwierigkeiten habe, Gigs zu buchen.
Auslöser war ein Brief Grands an die Ehefrau von Steve Coleman sowie Kollegen im November 2017, in dem sie auf sieben Seiten en detail beschreibt, unter welchen Bedingungen der bekannte Mentor die unbekannte Nachwuchskünstlerin musikalisch und erotisch beschäftigt hat.
Wobei sie klarstellt, dass Letzteres häufig die Voraussetzung für Erstes war.
Die Umstände, die sie beschreibt, sind entwürdigend. Obwohl sie eine gewisse Faszination durch den Älteren nicht leugnet, konnte sie ihn nicht mehr ertragen, sie spricht von „traumatischen“ Erfahrungen und ging, im Zuge der aufkommenden #MeToo-Bewegung, an die Öffentlichkeit.
Steve Coleman bestreitet alles und hat Klage eingereicht.
Die Daily Mail jedenfalls akzeptiert keine Kommentare mehr zu ihrem Beitrag, nachdem der letzte Eintrag eines Lesers lautet: „She played with his horn.“

erstellt: 24.10.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten


 

Kann Nadin Berlin?

Die Berufung hatte Überraschung hervorgerufen, auch Entsetzen.
Aber der Mißmut wurzelte wenig bis gar nicht in den anti-femininen Reflexen der Kritiker, sondern in ihrer Erfahrung, dass von der Kandidatin aus ihrem früheren Wirkungskreis keine entsprechenden Leistungen überliefert sind.
Leistungen, die sie zur Führung eines der großen Jazzfestivals befähigen.
Nadine Deventer 1Nun legt Nadin Deventer ihr erstes Programm vor, das erste für die von ihr zu verantwortenden drei Ausgaben des Jazzfest Berlin.
Und - das Wortklingeln, der Kuratorensprech aus dem Berufungsinterview (mit ihrem Chef Thomas Oberender) ertönt ein wenig leiser, das Programm schaut aus, als könne man ihm Ernsthaftigkeit nicht absprechen.
Warum soll nicht auch diese Kandidatin mit ihren Aufgaben wachsen?
Die erste Frau auf diesem Posten, nach 8 Vorgängern, von denen ein jeder bei der Kritik im Feuer stand, am wenigsten wohl noch Bert Noglik (2012-2014).
Ein solches, einst repräsentatives Festival kann man nicht mit hohen Zustimmungsquoten leiten, weil sein Geltungsbereich von jedem anders zugeschnitten wird.
Ob´s was war, lässt sich erst klingend beurteilen. Und Frau Deventer hat ein paar assets dabei, die das Niveau nicht nach unten drücken. Z.B. Bill Frisell solo, Mary Halvorson als Artist In Residence oder Jason Moran mit einem audio-visuellen Projekt namens The Hellfighters.
Ob der Chicago-London-Schwerpunkt außer zeitgeistigem Bouquet (u.a. mit einem revitalisierten Art Ensemble) auch ästhetisch überzeugen mag, wird man abwarten müssen.
Ebenso, ob Masse (allein am Eröffnungstag, 1.11., sollen 10 acts auf 5 Bühnen in 7 Stunden das Festspielhaus in ein „Haus of Jazz“ verwandeln) immer auch mit „Klasse“ gleichschwingt.
Es düfte ein Festival der Debatten werden.
Das vollständige Programm hier

erstellt: 08.09.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten


Tomasz Stanko, 1942-2018

Stanko

Der Europäische Jazz, der viel-beschriebene und -beschworene, er ist kein Stil, er ist ein Konstrukt, ein Konglomerat.

Der Begriff ist nicht lebensfähig ohne Nennung der jeweiligen Zuflüsse, nennen wir sie auch gerne althergebracht „Wurzeln“, seien sie regionaler oder nationaler Art.
Der polnische Beitrag dazu hat viele Namen, aber aus west-mitteleuropäischer Perspektive vor allem einen: Tomasz Stanko. Wohl noch vor seinem Lehrer Krzysztof Komeda (bei dessen Schlüsselwerk der europäischen Jazz-Emanzipation er mitgewirkt hat, „Astigmatic“, 1965), gehört ihm diese Position.
Im Gegensatz zu jenem, 38-jährig verstorben, war ihm die Entfaltung seines Talentes über sechs Jahrzehnte vergönnt. Noch dazu gipfelnd in einem Ensemble, das in der ewigen Hauptstadt des Jazz verortet ist und auch so heisst: Thomasz Stanko New York Quartet.
Stanko startete Anfang der 60er Jahre, war immer wieder mit Avantgarde & FreeJazz assoziiert, stilistisch aber durchaus auch mit Miles Davis an der Seite.
Joachim Ernst Berendt apostrophierte ihn einmal als „der weiße Ornette Coleman“ (was ihm gar nicht gefiel), er spielte aber auch Jazzrock (2011 in Gdansk u.a. mit Marcus Miller), er hatte sich früh, wenn auch nicht durchgängig, für Elektronik interessiert.
In Erinnerung bleibt vor allem sein Ton auf der Trompete, angreichert mit viel Geräusch, wie Thomas Heberer, einer der von ihm Inspirierten, einst anmerkte.
Sein Ausdruck war eine tiefe Melancholie, eine „eindringliche Tonpoesie“, wie der Guardian schreibt. Sie ist auf mehr als 40 Tonträgern festgehalten.
Nach dem Verlust seiner natürlichen Zähne konnte er - erfolgreich - einen neuen Ansatz erarbeiten. Anfang des Jahres wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert.

Am 29. Juli 2018 starb Tomasz Stanko daran in Warschau. Er wurde 76 Jahre alt.

 

erstellt: 30.07.18
©Michael Rüsenberg, 2018. Alle Rechte vorbehalten


 

Jon Hiseman, 1944-2018

In einem screenshot aus einer BBC-Dokumentation über die Parkinson-Erkrankung von Barbara Thompson (2012) sieht man ihn freundlich-zugewandt an ihrer Seite.
Aus seiner Mimik spricht Bewunderung für sie, Bewunderung für den Kampf seiner Ehefrau gegen die Erkrankung.
20 Jahre lang galt er als der kerngesunde Partner eines der Künstlerpaare aus der Jazzwelt.
Obwohl, so ganz treffsicher mochte man ihn nicht im Jazz verorten.
Er markierte auf sehr eigene Art eine individuelle Schnittmenge, die sich von Band zu Band, manchmal mehr zu der einen, dann wieder zu der anderen Großkategorie bewegte.
Jon Hiseman, das war der Schlagzeuger (und Bandleader) von Colosseum und Tempest, er gehörte aber auch zum United Jazz + Rock Ensemble. Seine Discografie zeichnet ein beeindruckendes Einerseits/Andererseits.
Man hörte ihn früh bei John Mayall, aber auch bei Wolfgang Dauner, man hörte ihn im Jazzrock von Nucleus, aber auch im Folkrock von The Strawbs, im Rhythm & Blues von Graham Bond, aber auch auf dem Debüt von Jack Bruce „Things we like“, 1968, ein Jazz-Album.
Es war eine britische Karriere durch und durch, vor allem eine britische Drummer-Karriere. Er gehörte zur Garde derer von Bruford, Baker, Copeland, Palmer.
Inwieweit er darunter als eigener Stilist bestehen kann, erscheint fraglich; ein „großer“ Drummer war er sicher, ein Publikumsliebling sowieso, dazu beredet, freundlich, einer, dem das Spiel offenkundig Spaß machte.
Einen letzten künstlerischen Ausdruck fand er in JCM, einem Power-Rock-Trio mit den Colosseum-Freunden Clem Clempson (g) und Mark Clarke (bg, voc).
Dessen Tournee musste abgesagt werden, nachdem am 25. April 2018 ein Hirntumor bei ihm festgestellt worden war.
Am 12. Juni 2018 erlag er einem Krebsleiden. Er wurde 73 Jahre alt.

Thompson Hiseman 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

PS: Der Pianist Mike Westbrook hat einen wundervollen Nachruf geschrieben:
"we lost a guiding star".

erstellt: 13.06.18
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Cecil Taylor, 1929-2018

Ob die Gattungsbezeichnung „FreeJazz“, wenngleich musikalisch geboten, in seinem Falle auch dem jazz-ideologischen Überschuss dienen mag (im Sinne des utopischen Gehaltes, den manche unvermeidlich mit der Gattung verbinden), ist fraglich.
Der Mann eignete sich kaum als Begleiter. Oftmals, insbesondere nach dem Tod seines idealen Partners Jimmy Lyons, as, 1986, trat er solo auf.
Er hat das Jazzpiano aus seinen Verankerungen gerissen, hat es dorthin geführt wo die europäische Kunstmusik längst war, in die von clustern übersähten Felder der tonalen und rhythmischen Mehrdeutigkeiten.
Cecil Taylor Andy newUnd er kannte die Kunstmusik; bei Henry Cowell in Boston hatte er studiert, Stockhausen und Boulez waren ihm vertraut. Nie und nimmer aber hätten jene das Instrument so bezeichnet wie er, als Ansammlung von „88 gestimmten Trommeln“.
Das beschrieb seinen Weg dorthin, als Tänzer, nicht als Konstrukteur von sauber berechneten Reihen. Dafür hätte er gar nicht Kraft & Ausdauer gebraucht, die auch seine Zuhörer bis an den Rand der Erschöpfung brachten.
„Ich versuche, auf dem Piano die Sprünge zu imitieren, die ein Tänzer im Raum macht“, sagte er 1966.
Ihn zu hören, war das eine, ihn zu sehen, etwas ganz anderes. Etliche Videos, die nun vermehrt verlinkt werden, zeugen davon.
Er war kompromisslos. Und hat er die Kosten dafür getragen, u.a. mit Hilfsarbeiten im New York der 1960er Jahre. Die Vorderseite der Medaille, die späteren Auszeichnungen als Künstler (1991 McArthur Fellowship, 2013 Kyoto-Preis) haben ihm rund eine Million Dollar eingebracht.
Die knapp 500.000 Dollar Kyoto-Preisgeld landeten erst verspätet auf seinem Konto, nachdem jemand, der sich als "Freund" ausgab, den Betrag auf sein eigenes Konto umgeleitet hatte.
In Europa wurde er mehr verehrt als in Amerika. Dass eines seiner besten Alben „Looking (Berlin Version)“
sieben Tage vor dem Fall der Mauer entstanden ist, wird jetzt wieder in Verbindung damit gebracht. Rein metaphorisch, versteht sich.
Es ist quasi der Zuschlag zu einer 13-CD-Box, vom selben Ort (aus beiden Teilen des noch unvereinigten Berlin) aus dem Jahr zuvor, das Feel-Trio mit William Parker, b, und Tony Oxley, dr.
„Looking“ wie auch die Box zeigen den Künstler auf Höhepunkten dessen, was man FreeJazz nennt, interaktiv zwar, aber mit deutlichem Primat des Pianisten.
Er hat, für sein Instrument, den FreeJazz konturiert wie kein zweiter, und das betrifft keineswegs die hoch-expressiven Momente, die Raserei, allein.
Viele Jahre später, im Juni 2015, bei der Beerdigung von Ornette Coleman, spielte er, der auch zerbrechlich erscheinen konnte, als habe er - wie jemand sagte - Debussy paraphrasiert.
Der Pianist Cecil Taylor, geboren am 25. März 1929, verstarb am 5. April 2018 in Brooklyn/New York. Er wurde 89 Jahre alt, eine Todesursache ist nicht bekannt.

erstellt: 06.04.18
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Foto: Andy New