Als die Nachricht kam, als erstes mal „Where Fortune smiles“ aufgelegt.
Wo John Surman, John McLaughlin, Dave Holland, Stu Martin die Tür zum FreeJazz aus den Angeln hebeln.
Mitten in diesem Sturm: ein Vibraphonist namens Karl Berger, ein deutscher Musiker zumal, uns Jazzrock-Fans damals kaum vertraut. Wie er da mithält, mit lediglich zwei Klöppeln, wo doch Gary Burton die Viererkette schon etabliert hatte - es lag nicht nur am durchdringenden Charakter des Obertonreichtums des Instrumentes, das Berger später gerne betont hat.
Das war im Mai 1970, in den Apostologic Studios zu NYC. Noch unveröffentlicht war parallel sein Mitwirken an „Escalator over the Hill“, 1968-71.
Immerhin lebte er schon ein fast ein halbes Dutzend Jahre in den USA, bestens vernetzt von Don Cherry bis Lee Konitz.
Er kommt aber - und hier werden amerikanische Augen & Ohren hellwach - aus Heidelberg, zumindest in den 50er/60ern nur vermeintlich deutsche Jazz-Provinz.
Berger begann als Hauspianist im „Cave 54“ (ein gewisser Fritz Rau debütierte dort als Kassenwart), auf diesem Posten gefolgt von Jutta Hipp.
Der „Verein zur Förderung und Pflege studentischer Geselligkeit“ war Katalysator verschiedener US-Kulturen: etliche GIs waren im Umland stationiert, sie trafen hier auf durchreisende Landsleute wie Louis Armstrong, Dizzy Gillespie, Oscar Peterson etc., örtliche Jazzkräfte begleiteten sie; es sollen aber auch Autoren wie James Baldwin und Thorton Wilder dort gelesen haben.
Berger hat nicht in seiner Heimatstadt studiert, sondern Musikwissenschaft und Soziologie an der FU Berlin. Dort wurde er 1963 promoviert mit der Arbeit „Die Funktionsbestimmung der Musik in der Sowjetideologie“.
Ein berühmter Jazz-Gegner namens Theodor W. Adorno soll Gefallen daran gefunden und ihn als PostDoc nach Frankfurt geholt haben; er erhoffte sich eine Fortsetzung der Arbeit in Richtung „Unterhaltungsmusik“. Vergeblich. In ihrem Nachruf trauert die FAZ der entgangenen Auseinandersetzung der beiden auseinanderstrebenden Kräfte nach.
Denn Berger war - trotz gegenteiliger Eindrücke - kein Freund der Theorie(n), sondern ein Mann der Tat. Ihn zog es geradezu magisch zu Don Cherry, zunächst 1964 in Paris. 1966 folgte er ihm nach New York.
Noch früher als Gunter Hampel avancierte er zum größten Transatlantiker des deutschen Jazz.
Zwar hielt er von 1994 bis 2003 eine Professur an der nicht eben erfolgreichen Jazzabteilung der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst.
Weitaus bedeutender, ja durchaus legendär in der Reichweite gestaltete sich sein jazz- und musik-pädagogisches Wirken in den USA, nach der Creative Music Foundation 1971 mit Ornette Coleman, allem voran im Creative Music Studio in Woodstock, 1973 zusammen mit seiner (deutschen) Ehefrau, der Sängerin Ingrid Sertso.
Wer dort gelernt, wer dort gelehrt hat (und dies bis heute), von John Cage bis George Russell - man kommt aus dem Staunen nicht heraus. „Wenn ich noch mal Studentin wäre, dann am liebsten mit Karl“, sagt zum Beispiel Carla Bley.
Sie sagt das in der Doku „Music Mind“ (2018) von Julian Benedikt und Axel Kroell, die die ARD Mediathek dankenswerterweise vorhält.
Wenn man darin Jack DeJohnette auf seiner Veranda sieht, das Staunen von Marilyn Crispell über ihre Wahlheimat hört oder eine junge Saxophonistin am Fluss; wenn die Kamera über die bewaldeten Hügel in Upstate New York streift; wenn die unterschiedlichsten Charaktere zu ihren Instrumenten greifen (oder auch nicht. Berger propagiert geradezu das instrumentale Schweigen, Haiku-Improvisation ist seine Wortschöpfung) - man könnte neidisch werden auf dieses Gelobte Land der Kreativität. Und der Menschenfreude.
Musik war für Berger eine Heilkraft. „Sie leistet einen Beitrag dafür, dass es die Welt überhaupt noch gibt“ (1992 in einem Interview mit dem „Mannheimer Morgen“). „In Afrika gab es Stämme, in denen der Musiker und der Medizinmann ein und dieselbe Person waren. Ich fühle mich in dieser Tradition.“
Nicht alles, was er sagt, ist unbedingt zum Nennwert zu nehmen „Music Mind ist eigentlich unser Naturzustand, so sind wir natürlich“.
Es ist eine, es ist seine poetische Umschreibung dessen, was die Evolutionstheorie als die social bonding function von Musik beschreibt. Er hasste den Terminus „Weltmusik“ - und war doch einer ihrer überzeugendsten Praktiker. Als genre-übergreifender Musikpädagoge.
Unter seinen zahllosen Aufnahmen (auf die hier nicht näher eingegangen wird) entstand seine letzte im April 2022: „Heart is a Melody“, eine Zusammenarbeit mit dem Kornettisten Kirk Knuffke.
Karlhanns „Karl“ Berger, geboren am 30. März 1935 in Heidelberg, starb am 9. April 2023 in einem Krankenhaus in Albany/NY, wie der New Yorker Verlag Hudson Valley am 10. April mitteilt. Er wurde 88 Jahre alt.
erstellt: 11.04.23
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