KEITH JARRETT, Radiance *******
CD 1: Radiance, Parts 1 - 9
CD 2: Radiance, Parts 10 - 17
Keith Jarrett - p
rec 27.10.2002 (Parts 1-13), 30.10.2002 (Parts 14-17)
ECM 1960/61 9869818; LC-Nr 02516
Vier Jahre nach der Heimarbeit "The Melody at Night, with you", einem ersten Test auf Funktion der Feinmotorik nach krankheitsbedingtem Ausfall, ist Keith Jarrett offenkundig so weit wieder genesen, dass er sich nicht nur abendfüllend solo vor ein Publikum wagen konnte - sondern die Konserve davon auch als wert der Veröffentlichung befand: das zwölfte seiner Solo-Alben, angefangen bei "Facing you" (1971), veröffentlicht zu seinem 60. Geburtstag am 8. Mai 2005.
Der Unterschied zu "The Melody..." ist beträchtlich, deutlich auch zu den "voll-gültigen" Vorgängern. Jarrett hält nicht mehr lange Piano-Predigten wie früher, sondern portioniert, er pausiert häufig, wenn es ihm genug ist, wartet den Beifall ab und setzt dann wieder neu an - meist mit kontrastrierendem Ausdruck. Das Resultat: wir hören keine "Köln Concert"-artigen Epen, sondern Stücke in einer Länge zwischen 1:13 und 14:04.
Mit anderen Worten, ging Jarrett früher analog des Kleist´schen Verfertigen des Gedankes beim Sprechen vor, liess also die Finger bei keiner Station des Spielprozesses ruhen, so setzt er uns jetzt abgeschlossene Spielzüge vor, die in sich zwar auch improvisiert sind, aber mit Beifall in den jeweiligen Kontext eingebunden werden.
Vulgo: er hält inne und fährt nicht einfach fort, als sei er unterbrochen worden, sondern startet mit einer neuen Idee. Diese beziehe sich, so betont er, auf den jeweils voraufgehenden Teil.
Eindringlich reklamiert Jarrett das Improvisieren für sich, wohlahnend dass der Zuhörer dank der neuen Methode doch gelegentlich ins Grübeln gerät, ober wirklich Zeuge einer Improvisation wird oder eines Abschnittes, der lediglich so tut als ob.
Wir werden´s nie erfahren, Jarrett´s Festlegung im booklet liesse - selbst wenn es ginge - keine Fragen danach zu. Und wahrscheinlich ist es auch wurscht zu wissen, ob er "wirklich" improvisiert oder nicht - es ist keine moralische Frage. Denn er verlässt sein stilistisches Universum nicht, so wie wir es kennen: den Gospel-Groove in der linken, das "Narrative", ja Kantilene in der rechten Spielhand, das Pointillistische, das Semi-Barocke, nicht zuletzt den "Gesang", mit dem er sich "begleitet"...die Bausteine dieses Imperiums lassen sich nun, da zu einzelnen tracks verdichtet, viel zielgenauer ansteuern.
erstellt: 30.05.05
©Michael Rüsenberg, 2004, Nachdruck verboten