JAMES FRANCIES Purest Form *****

01. Adoration (James Francies), 02. Levitate, 03. Transfiguration (Francies/Peyton Booker), 04. Blown Away (Francies), 05. Rose Water (Francies/ Elliot Skinner), 06. My Favorite Things (Rodgers/Hammerstein), 07. Stratus (Francies), 08. 713 09. Melting (Francies/Kate Kelsey-Sugg), 10. Where We Stand (Francies), 11. Freedmen’s Town, 12. Eyes Wide Shut (Francies/Bilal Oliver), 13. Still Here (James Francies), 14. Oasis

James Francies - p, keyb, voc (1, 14), spoken word (13), Burniss Travis III - bg, Jeremy Dutton - dr, Immanuel Wilkins - as (3, 6, 10), Joel Ross - vib (6, 10), Mike Moreno - g (6), Sulamit Gorski - v (13), Francesca Dardani - v (7, 13), Tia Allen - va (7, 13), Marta Bagratuni - vc (7, 13), Peyton - vocals (4), Elliott Skinner - voc (5), Brenda Francies - narration (1), Shawana Francies - spoken word (3, 13), James Francies Sr. - spoken word (11)

rec. 2020 (?)
Blue Note

James Francies belebt einen Typus, den man lange, seit den Tagen von Clyde Criner und David Sancious, nicht mehr gehört hat: den Typus des afro-amerikanischen keyboard wizzard.
(Und der Widerspruch folgt sogleich: Sancious hat im vergangen Jahr, nach 16jähriger Pause, doch wieder ein Album vorgelegt,
„Eyes wide open“).
Gleichwohl, der afro-amerikanische keyboard wizzard bleibt eine Rarität.
Nein Herbie Hancock, der wohl jetzt als Gegenargument einfällt, gehört nicht hierher, HH bildet eine eigene Kategorie, er ist ein Stilist, einer, der zu viele historische Leistungen auf Piano und E-Piano vollbracht hat (was ihm solistisch an elektronischen Instrument, allem Ohrenschein zum Trotz, mangelt).
Auch Robert Glasper gehört nicht dazu. Er verwendet einfach zu wenige Geräte. (Gleich wohl kommt ihm bei James Francies eine Rolle zu.)
Der Begriff keyboard wizzard stammt auch nicht aus dem Jazz, er war eher im ProgRock gebräuchlich, bezogen auf Männer hinter keyboard-Burgen, etwa Patrick Moraz oder Rick Wakeman. Der Begriff verbindet Anerkennung mit einer Portion Argwohn, ob des Pomp und der prätentiösen Geste, die eben auch daraus spricht.
Afro-amerikanische Tastenspieler konzentrieren sich mehrheitlich auf ein Instrument der Gruppe, auf das Piano und seine „elektrische“ Variante.
Bei James Francies ist das anders. Instrumental, aber auch im Hinblick auf die Prominenz seiner Bandleader (bis hin zu Pat Metheny) ähnelt er David Sancious (den hörte man im Kontext von Sting, Jack Bruce, Jeff Beck, Stanley Clarke u.a.)
Kurios mutet Francie´s Erkklärung des Albumtitels „Purest Form“ an:
„Musik, in ihrer reinsten Form, ist ein ehrlicher Raum, in den wir versuchen zu gelangen, in dem es keine vorgefassten Meinungen darüber gibt, wie etwas klingen sollte", lässt sich Francies zitieren. "Wenn man sich wirklich darauf einlässt, wer man im Inneren ist, musikalisch und als Mensch, dann übertrifft diese Energie alles andere."
Pardon, aber an dieser Aussage ist so ziemlich alles falsch, was man über Introspektion sagen kann. Wenn wir uns nur auf den musikalischen Teil beschränken, dann erliegt James Francies hier einer satten Selbsttäuschung. Er findet inside himself manches, was ihm vielleicht als Eigenes vorkommen mag, was der Hörer seiner Musik aber leicht als Fremdpartikel erkennen kann.
cover Francies purestDen ersten track, in dem seine Frau Brenda über rückwärts laufende Sounds spricht, kann man noch als eine Traum-Sequenz verstehen. Schon der zweite, „Levitate“, pendelt massiv zwischen zwei Fremdeinflüssen: Thema und Rhythmik klar von Tigran Hamasyan, das danach auftrumpfende Synthie-Solo mit seinen pitch bendings - klar von Chick Corea.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: das ist klasse gespielt, auch von der Rhythmusgruppe Burniss Travis III, bg, und Jeremy Dutton - dr (letzterer aus dem Umkreis von Vijay Iyer).
In ihrer Hochtourigkeit erinnen sie an Tarus Mateen und Terreon Gully (z.B. auf Stefon Harris & Jackie Terrasson „Kindred“, 2001).
Mit „Transfiguration“ wird dann zum ersten Male das ProgRock-Fenster geöffnet: vokale Kulisse, ein synthetisiertes Saxophon-Solo von Immanuel Wilkins, das von der Linienführung denen der „Canterbury“-Keyboardspieler verwandt ist.
Im Anschluß ein stilistisch radikaler Schwenk ins eigene Sprengel: Francies stammt aus Houston, und er hat vieles, vieles bei einem fellow Houstonian gelernt, bei Robert Glasper.
„Blown away“ ist durch und durch eine Glasper-Ballade. Der Groove: obergeil, ein ternärer Schieber-Funk im 4/4-Takt, Jeremy Dutton steigt in bester Mark Colenburg-Manier mit der snare drum auf der Zählzeit „3“ ein.
Später, in „Eyes wide shut“, über einem Monster vamp, dann „echtes“ Glasper-Personal: der Sänger Bilal. Nicht zu überhören die Glasper-resken Stücke „713“ und „Melting“.
Dies alles nach dem Höhepunkt des Albums; wie jeder gute Jazzmusiker findet auch James Francies inside wenigstens einen Standard. Hier ist es „My favorite Things“. Und was er damit anstellt, ist nun wirklich atemberaubend.
Er geht den alten Schinken in einem Affentempo an, verschleift das Thema mit minimalen Tonbeugungen und stop times. Und dann holt Immanuel Wilkins erneut zu einem Funken-sprühenden, elektro-akustisch verfremdeten Saxophonsolo aus, das in shouts a la Kenny Garrett endet.
Einer dieser Töne wird „eingefroren“, er bleibt stehen bis in ein Duett von Joel Ross und James Francies. Danach ist das Stück noch lange nicht zu Ende. Die Rhythmusgruppe brennt, Francies wirft ihr in der Coda ein hypnotisches 5-Töne-vamp hin. Und noch ´ne Coda: Synthie a la Chick Corea und ein paar ProgRock-Happen.
„My favorite Things“ ist die halbe Miete dieses Albums. Dann folgt - ein kurzes Streichquartett.
Musste das sein? Die Fingerfertigkeit, bis zu diesem Zeitpunkt James Francies´ hervorstechendes Merkmal, zeigt sich noch einmal in anderer Perspektive. Und entpersonalisiert seine Ausdruckskraft erneut.
Ein toller Handwerker ist das, aber was treibt ihn wirklich um?

PS: „Purest Form“ lädt ein, auch noch unter einem ganz anderen Aspekt „gelesen“ zu werden, nämlich im Rahmen der anlaufenden, verqueren „Selbstverortungs“-Debatte, wie sie zum Beispiel auf dem 17. Jazzforum Darmstadt erörtert werden wird; verbunden mit dem „community“-Denken und der bangen Frage, „inwieweit eine (…) eurozentrische Sichtweise auch unser Verständnis von Jazz geformt, wenn nicht gar verformt hat und weiterhin formt, welchen Stellenwert in ihr sowohl die afro-amerikanischen Ursprünge der Musik besitzen als auch unser eigenes kulturelles Umfeld“.
Erfrischend zumindest, dass „Purest Form“ in diesem Kontext einen Ideen-Transfer gewissermaßen in umgekehrter Richtung symbolisiert, und damit eine Haltung, die mit „community“-Denken so leicht nicht in Einklang zu bringen ist.

erstellt: 31.05.21
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