SLOWFOX 5 Atlas *********

01. Mopti (Don Cherry)
02. Vidala (trad. Argentina)
03. Taquito militar (Mariano Mores)
04. Yèkèrmo Sèw (Mulatu Astake) Äthiopien
05. Jutros mi je ruža procvetala (Petar Tanasijević)
06. Pōkarekare Ana (traditional / New Zealand)
07. Itshitshi Lami (Duo Juluka/South Africa)
08. Young Sir (Waza Trumpet Ensemble / Sudan)
09. Raga Vrindavani Sarang (Hindol Deb / India)
10. El derecho de vivir en paz (Víctor Jara / Chile)
11. Solo for Ehr-Hu (Li Kai / China)
12. Song of Ju/'hoansi Bushmen (traditional / Namibia)
13. Coração vagabundo (Caetano Veloso)
14. Movedit Takvanes Vtset (traditional / Georgia)
15. In Praise Of Genyen (Tibetan Buddhist rite / Tibet)
16. Irish Reel (traditional)
17. Unganji-ak (traditional / South Korea)
18. Lass mi bei dir sein (traditional / Austria)
19. Ojakhum (Djivan Gasparyan / Armenia)
20. Etenraku (traditional / Japan)
21. Nearer, My God, to Thee (Christian hymn / England)
22. Kafal Sviri (traditional / Bulgaria)
23. Som w stawie rybecki (traditional / Poland)

Hayden Chisholm - as, fl, Philip Zoubek - p, prep p, synth, Sebastian Gramss - b, Valentin Garvie - tp, picc tp, zink, Martin De Lassaletta - b

rec.12/2022

rent a dog rad 2025-2

2023 war, neben vielem anderem, auch das Jahr des Sebastian Gramss.
Der umtriebige Kölner Bassist hat in diesem Zeitraum drei neue Alben veröffentlicht. JC bespricht sie alle, one by one, und beginnt mit „Atlas“. Aus gutem Grund.
Das Album, es ist das vierte, markiert ein Jubliäum: die Band besteht seit 10 Jahren - was sich nicht im Titel ausdrückt. Der bezieht sich auf die erweiterte Besetzung des Kerntrios um zwei Gäste aus Argentinien. Anlässlich einer Südamerika-Tournee ist es im Dezember 2022 im Studio Espacio Aguaribay in Buenos Aires entstanden (mit Hilfe des dortigen Goethe Institutes, das nicht auf der Liste der zu schließenden steht).
Der Trompeter Valentin Garvie, 50, (der auch Piccolo-Trompete spielt sowie das historische Instrument Zink) ist in unseren Breiten nicht ganz unbekannt, aus dem Jazzensemble des HR wie auch dem Ensemble Modern. Laut Wikipedia lebt er seit 2018 wieder in Buenos Aires; und JC kann eine solche Angabe nicht ohne die besten Überlebenswünsche weitergeben.
Über den Bassisten Martin De Lassaletta aus dem südlichsten Teil des Landes, aus Patagonien, ist weitaus weniger bekannt; Gramss hält den Kollegen für einen „Ausnahmebassisten“.
Und der unvorbelastete Hörer, der nicht weiß, wer hier wo spielt, kann allein, weil er dabei keine Unterschiede wahrnimmt, dem nur zustimmen.
„Atlas“ markiert nicht nur einen personellen Wandel, sondern auch einen stilistischen: in dem gut gelüfteten Raum eines (wer das nicht längst schon ahnt: bemerkenswerten) Neo Cool Jazz wird nun das Fenster weit geöffnet, buchstäblich weltweit.
„Atlas“, eben, „they´ve got the whole world in their hands“.
Die fünf nehmen uns aber nicht mit auf eine Kreuzfahrt oder begeben sich wie weiland Klaus Doldinger an den „Iguacu“, sie beehren den Aufnahmeort nicht mal mit Referenzen an Gato Barbieri (1932-2916) oder Lalo Schifrin - sie meinen es ernst, sie haben wirklich das Große Ganze im Blick: die setlist von „Atlas“ mit seinen 23 Stücken liest sich wie die Frucht geradezu ethnografischer Bemühungen.
cover slowfox 5Es geht los mit Don Cherrys „Mopti“, dessen afrikanische Referenz durch einen Schnarrklang (wohl eines Kontrabasses) betont wird (wir werden ihm noch mal begegnen). Es folgen zwei Stücke aus dem Gastland Argentinien, darunter eine Milonga („Taquito militar“).
Die Melodik würde man als Nicht-Ethnologe kaum am Rio de la Plata verorten, sondern auf dem Balkan. Wo „Jutros mi je ruža procvetala“ herkommt, aus „Yugoslavia“ - hier aber als uptempo twobeat swing ausgegeben wird.
Man darf annehmen, dass diese Auswahl (wie auch die irische, neuseeländische und englische) auf Hayden Chisholm zurückgeht. Er wohnt seit Jahren in Belgrad und dürfte wissen, was an diesem Song des serbischen Sängers Petar Tanasijević (1932-2016) den jazzige Interpretation erlaubt.
„Pōkarekare Ana“ ist eines der vielen Stücke dieses Albums mit Hymnen-Melodik, aus Chisholms Heimat Neuseeland und „fast so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne“.
Die Verwandte dazu folgt etliche tracks später: „Nearer, My God, to Thee“, eine christliche Hymne aus England.
Und wer Maximilian Hendler gelesen hat, wird geradezu bildlich die Assoziation vor Augen haben, wie ein Song wie dieser den Weg aus seinem Ursprungsland über die weiße Dominanz-
gesellschaft in Amerika schließlich in Gospel & Spiritual gefunden hat.
Bis hierher: so weit, so gut. Ab track 8 wird´s betörend.
„Young Sir“ beginnt mit einem solchen Schnarrklang, sodass man unwillkürlich die Lautsprecher überprüft.
16 Takte geben die beiden Bassisten einen auftrumpfenden Groove vor, und dann, dann legt sich eine seltsam klagende, „hupende“ Melodik darüber. Inspirirationen aus der Waza Musik, Musik mit Holztrompeten aus Berta, der Grenzregion zwischen Sudan und Ethiopien.
Bis zu zehn, zwölf Musiker stehen in einem Waza Ensemble beisammen, jeder spielt auf seinem langen Holzinstrument nur einen Ton.
Man kann die Quelle zu diesem Stück, ja das Original von „Young Sir“ im Netz hören. Und damit die große Arrangierleistung, die Adaption für Jazzensemble bewundern.
Nicht geringen Anteil an der Faszination hat der Synthesizer, gespielt von Philip Zoubek, in einem Akkordeon-haften Klangregister (schon mit dem vorherigen Album „Freedom“, 2021, waren Slowfox von der „reinen“, akustischen Lehre abgefallen).
Der Rauschgenerator - noch so ein Arrangier-Einfall! - spielt eine wesentliche Rolle in dem beeindruckenden Hymnus „Movedit Takvanes Vtset“ aus Georgien (track 14).
Dazwischen hat es u.a. Songs von Victor Jara, „El derecho de vivir en paz“, und Caetano Veloso, „Coração vagabundo“ (hier könnte der Zink zum Einsatz gekommen sein), sowie das absolut staunenswerte „Solo for Ehr-Hu“, eine Hommage an das zwei-seitige chinesische Streichinstrument dieses Namens, hier in der Version für zwei gestrichene Kontrabässe.
Frappierend, wie ein Ensemble aus lediglich fünf Musikern diese ständigen Perspektivwechsel managt. Diese Wechsel sind am wenigsten Studiotechnik zu verdanken, sondern in erster Linie der Fantasie, der Adaptionsfähigkeit fünf kluger Köpfe, die Inspirationen globaler Ursprünge einen Rahmen geben.
Es ist der Rahmen eines spezifischen Jazzensembles, das weder in der Selektion der Vorlagen noch in deren Reihung Beliebigkeit zulässt. Es führt ein Roter Faden hierdurch - nur, wie sollte man ihn benennen? Unmöglich.
„Atlas“ ist eine Feier der Vielfalt, eine Hommage an die Musik schlechthin. Es ist eine imaginierte Vielfalt, zu deren Ausführung es „authentischen Personals“ nicht bedarf. Es reicht der Respekt, ohne den man ein Projekt wie dieses gar nicht angehen kann. Das Faszinosum des Anderen bei den fünfen aus „dem Westen“ wurzelt in ihrem Respekt davor.
Ist das kulturelle Aneignung? Na, selbstverständlich.
Es ist eine Aneignung, die ihre Quellen offenlegt und diesen - seien sie „public domain“ oder in bekannter Autorenschaft - die Tantiemen zufließen lässt. Slowfox 5 verdienen an der Verbreitung der Tonträger und downloads, bei Konzerten erhalten sie Honorar für die Performance, aber wiederum nicht für die Autorenschaft(en).
Ach, ein Letztes. Liegt mit „Atlas“ nun Ethno Jazz vor? Oder World Jazz?
Mhm. Letzteres vielleicht, aber nur mit dicken Handschuhen angepackt, und nur damit „Atlas“ im großen Ozean der Musik gegenüber, sagen wir, Wolfgang Rihm unterscheidbar bleibt.
 erstellt: 09.12.23
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