GEOGEMA Vol 2 *********

01. Explode 11 (Preinfalk), 02. Festland 01, 03. Festland 02, 04. Festland 06, 05. Festland 09, 06. Festland 04, 07. Festland 05, 08. Festland 11, 09. Festland 12, 10. Festland 03, 11. Geogema 16, 12. Geogema 17, 13. Geogema 18, 14. Geogema 19, 15. Festland 15, 16. Geogema 06



Georg Vogel - synth, p, Gerald Preinfalk - ss (13), as, Matheus Jardim - dr

rec. 28.11.2022
ORF CD 3256

Im letzten Moment, kurz bevor 2023 wirklich ausläuft, die Rezension eines Albums, das der Österreichische Rundfunk (ORF) im März 2023 auf die Reise geschickt hat.
Es basiert auf einem ORF-Konzertmitschnitt vom 28. November 2022, „Live @ MuTh“ in 1020 Wien. Das ist der Konzert- und Mehrzwecksaal der Wiener Sängerknaben.
Es handelt sich um ein 2012 errichtetes, also modernes Gebäude. Und gleichwohl geht man, angesichts der Hauptmieter, kaum fehl in der Annahme, dass dort, in der Wiener Leopoldstadt, die Einteilung der Oktave in spezifische Folgen von sieben Tönen in Halb- und Ganztonschritten eine ihrer Heimstätten hat.
Der Umstand verdient insofern Erwähnung, als an jenem November-Abend nicht die Statik des Hauses, wohl aber sein ästhetischer Pol in Frage gestellt wurde.
Und das in dieser Hinsicht beileibe nicht das erste Mal in Wien.
Vor bald 125 wurde in der Stadt das erste „kompromisslose“ Viertelton-Streichquartett uraufgeführt. Im November 2022 nun nahm sich der Jazz dieses Recht; eine Gattung, in der die „nicht-korrekte“ Artikulation einer Tonhöhe zwar eine lange Tradition hat (man denke nur an die Tonbeugungen des Blues), aber nicht die systematische Praxis, eine Oktave vorsätzlich nicht in 12, sondern 24 Schritte zu unterteilen.
Schon recht, auch der Jazz maßte sich an jenem Abend gattungsintern nicht das Premierenrecht an. Man kann allein im letzten Dutzend Jahre Mikrotonalität bei Root 70 aufspuren, bei Laura Jurd, Gebhard Ullman/Hans Lüdemann, Kaja Draksler, aber auch Elias Stemeseder.
Das aber sind mehr oder weniger sporadische Einschübe - GeoGeMa, das Trio des 28.11.22, besteht aus Systematikern.
(Ja, der Name ist schnell entschlüsselt als Abkürzung aus den Vornamen).
Was das Vergnügen dabei ungeheuer befördert, ist, dass sie absolut stupendes Jazzhandwerk draufhaben, das jede Befürchtung nach „Katzenmusik“ in den Wind schlägt.
cover geogemaUnd sie fangen auch ganz harmlos an, so, als wollten GeoGeMa einen jeden der Sängerknaben, wären er denn im Auditorium, mitnehmen, und zwar so als befände er sich im Zirkus.
Das Altsaxophon von Gerald Preinfalk macht den Anfang.
Ein wenig Blues-Intonation, Verzierungen, leicht angeschliffene Töne, glissandi - das tut ja gar nicht weh!
Und als das keyboard sich geradezu im Hoppelrhythmus daruntersetzt, kann einem das Bild eines Zirkusclowns vor Augen kommen, der den lieben Kinderlein mit dem Instrument, das da aus seinen Lippen wächst, große Freude bereitet.
Der Erwachsene, der danebensitzt, dürfte unter der zirzensischen Oberfläche eine sich rasch verändernde Ansammlungen musikalischer Kleinode entdecken, die auch die beste Zirkustruppe aufzubieten nicht in der Lage wäre: Tempowechsel, groove switching, ein 3/4-Takt kommt vor, ein rubato. Formal erweist sich „Explode 11“ als eine Suite im Anschluß an die vorangegangen Titel (mit anderer Zahl) aus dem Vorgängeralbum GeoGeMa Vol 1 (2019).
Und dann das keyboardsolo: Tonbeugungen ohne Ende.

Fast bruchlos geht es in das nun deutlich jazzrockigere „Festland 01“.
Das Altsax übernimmt das viertönige Fragment in „Festland 02“, tritt in einem Dialog mit dem Piano, es schweift aus zu perlenden Linien, Gospel-Momenten, eine Piano Solo Kadenz - alles schön diatonisch.
Das Altsax kehrt zurück. Das könnte ein Jazzstandard sein, dessen Titel uns gerade nicht einfällt. Baß und Schlagzeug treten hinzu.
Baß? Die linernotes führen gar keinen Bassisten auf - es ist Georg Vogel, der die linke Hand auf dem keyboard in Baß-Funktion führt und rechts soliert. Das nennt man Unabhängigkeit der Spielhände.
Nach gut 6 Minuten: „Festland 06“ tritt mit Schockakkorden auf den Plan. Und dann Temposchwankungen, Groovewechsel ohne Ende; keyboard und Altsax schnalzen, jauchzen, der Schlagzeuger glänzt mit beat displacements. Man kann nicht mitzählen, aber was für ein Groove!
Das ist Matheus Jardim aus Brasilien, der in Graz Schlagzeug studiert hat - wo Preinfalk Saxophon unterrichet, Klassisches Saxophon. Jüngst hat ein Quartett aus seinen Schülern, das Spectrum Saxophonquartett, ein Album mit seinen Kompositionen veröffentlicht.
Gerald Preinfalk ist in einer Art Zweitberuf seit Jahren Mitglied des Klangforum Wien (das Pendant aus Österreich zum deutschen Ensemble Modern). Wir waren Zeuge, als ein deutscher Jazzsaxophonist hörte, wie Preinfalk auf der Bühne Georges Aperghis´ “Alter ego“ für Tenorsaxophon interpretiert, unspielbar für ihn.
Preinfalk weiß, wie man die neue Kammermusik von Dell/Lillinger/Westergaard lesen muss, damit sie gut klingt. Die JC-Datenbank verzeichnet seinen Namen erstmals 1994 in der Wiener Jazzrock-Big Band Nouvelle Cousine, GeoGeMa ist sein aktuelles Jazz-outlet.
Und mit track 6, „Festland 04“, hören wir nun schon wieder so einen Als-ob-Standard, überwiegend tonal diesmal, in dem viele Register gezogen werden. Das Trio ist sowas von tight, die linke Hand von Georg Vogel agiert wieder, als sei sie der vierte Mann.
Das Zirzensische bricht immer wieder durch. Track 10, „Festland 03“ kann man hören wie eine übermütige Paraphrase auf Paul Desmonds „Take Five“, nur dass Preinfalk es in Techniken spazieren führt, von dem der gute Paul vermutlich nicht geträumt hat.
Der nächste track, „GeoGeMa 16“ (wiederum die Fortführung einer Serie aus einem früheren Album), mutet dann zunächst wirklich Desmondésk an, Altsax und keyboard erinnern aber immer wieder sanft daran, was zwischen den Halbtonstufen liegt. Dies freilich weit entfernt von Vogels eigenem Trio, das die Oktave nicht in 12 oder 24 Schritte unterteilt, sondern in 31 (!).
Preinfalk beendet das Stück mit einer Solo-Kadenz, völlig un-Demondisch.
Und beginnt „GeoGeMa 16“ mit zwei Tönen aus „The Pink Panther“ von Henry Mancini.
Mit dem nächsten track, erstmals mit Sopransax, muten Preinfalk und Vogel den Wiener Sängerknaben tonal schon ein wenig mehr zu, und Vogel tritt in diesem quasi fiktiven „Walzer“ noch einmal deutlich als „vierter Mann“ in Aktion.
Track 14 dürfte die schärfsten tonalen Reibungen des ganzen Albums haben, zumal Vogel, wenn auch dissonant, am Piano verweilt.
Wer dieses kurze Fegefeuer durchhält, wird zweimal mit tänzelndem Jazzrock erlöst. Wieder spielen die drei für vier - und dies erneut in einer Haltung des absoluten Übermuts.
Bravorös!

erstellt: 31.12.23
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