LONDON BREW London Brew ****

01. London Brew (Martin Terefe, Dave Okumu, Benjamin Benstead, Raven Bush, Theon Cross, Nubya Garcia, Tom Herbert, Shabaka Hutchings, Nikolaj Torp Larsen, Nick Ramm, Dan See, Tom Skinner), 02. London Brew Pt.2 - Tramlines, 03. Miles Chases New Voodoo in the Church, 04. Nu Sha Ni Sha Nu Oss Ra, 05. It's One of These, 06. Bassics, 07. Mor Ning Prayers, 08. Raven Flies Low

Benji B - decks, sonic recycling, Raven Bush - v, electronics, Theon Cross - tuba, Nubya Garcia - as, fl, Tom Herbert - bg, b, Shabaka Hutchings - ts, bcl, Nikolaj Torp Larsen - synth, Melodica , Dave Okumu - g, Nick Ramm - p, synth, Dan See - dr, perc, Tom Skinner - dr, perc, Martin Terefe - g, electronics

rec. 07. - 09.12.2020
Concord

„Bitches Brew“ zu feiern (nicht das erste, aber ein zentrales Album der Gattung Jazzrock), sich davon inspirieren zu lassen - dafür sollte eigentlich jede Tages- und Nachtzeit recht sein.
Man begibt sich eher auf die sichere Seite, wie es Bruce H. Lampcov tat, wenn man ein rundes Datum wählt, beispielsweise den 50. Jahrestag der Veröffentlichung des legendären Albums.
Als neuer Betreuer des Miles Davis-Nachlasses hatte Lampcov da so eine Idee, nämlich „to introduce his music to a younger and wider audience“ - also eine uralte Idee, die auch ohne Anschub durch die Rechtsnachfolger gut durch die Jahrzehnte gekommen ist.
Lampcov hatte auch den Segen zweier Verwandter, sowohl den von Erin Davis, dem Sohn, als auch von Vince Wilburn, dem Neffen. Deren editorische Verdienste, soviel verraten die Jahrzehnte denn doch auch, halten sich in engen Grenzen.
Dass das Projekt nicht am Ort der Legende, New York City, sondern in London stattfinden sollte, verdankt sich einem Schlüsselerlebnis Lampcov´s dortselbst:
„a capacity standing crowd of 1500 at electric brixton, mostly in their late teens early twenties watching jazz musicians!“
Man geht wohl nicht ganz fehl in der Annahme, dass es sich bei diesen ungegenderten „musicians“ um Repräsentanten jener Kreise handelt, aus dem ein Dutzend jetzt auch wirklich daran mitwirkt. Also aus den hippen Kadern des Londoner Jazz, die viele oberflächlich für repräsentativ für das Ganze halten.
Sie sollten, so war es vorgesehen, im November 2020 gleich mehrere Etagen höher einsteigen, im Barbican anlässlich des London Jazz Festivals, gedacht war auch an Paris („Jazz à la Villette“) und Amsterdam (vermutlich das „Paradiso“).
Inzwischen war Lampcov auch Verleger von Nubya Garcia geworden, sein Freund Martin Terefe bot sein Studio Eastcote an für die Proben. Schon die ganze Pre-Production sollte gefilmt werden, kurzum:
„the ideas of what could be done with this group of artists connected to miles’ music seemed endless and there was a great feeling of exploration and momentum.“
Allein, die Pandemie machte einen Strich durch die Rechnung; wenige Tage nach Aufhebung des zweiten nationalen lockdown trafen sich alle im Studio The Church in Crouch End/Nord-London, temporärer Arbeitsraum von den Eurhythmics bis Bob Dylan, von Patti Smith bis Adele.
Wirklich alle? Nein, alle aus London; die drei amerikanischen Beobachter (Lampcov, Davis und Vilburn) waren der immer noch geltenden Reiserestriktionen wegen auf Audio- und Videoleitungen angewiesen.
Nach langen Debatten verworfen wurde die Idee, die Hommage eng an das Original zu ketten, also die Londoner über und zu den historischen Spuren spielen zu lassen.
Hier übernahmen nun die Regie: Martin Terefe, 53, Produzent aus Schweden, jetzt in London lebend und Dave Okumu, 46, aus Wien, aufgewachsen in London. Die beiden produzierten „musical phrases with guitars and electronics that were inspired by bitches brew“, und für den nächsten Schritt bleiben wir im englischen Original, „and have a dj (benji b) feed them to the musicians.“ (Benji B, einer aus der Riege der BBC-Radio 1-DJs)
Wie immer man das übersetzen (to feed them) und wie auch immer man sich diesen Prozeß vorstellen mag - er hat nichts gemein mit den Sessions im August 1969 in den Columbia Studios zu New York City.
Technisch nicht; die Postproduction des Teo Macero (1925-2008) bestand aus nichts anderem als Schnitttechnik. Er hat wortwörtlich zu einem musikalischen Drama zusammengeklebt, was manche Teilnehmer im Studio als verstreute Proben empfanden (legendär das Entzücken von Josef Zawinul, der das Studio kopfschüttelnd verlassen und später beim Abhören in den CBS-Büros das Gericht nicht erkannte, was Maceo aus dem Bandsalat gezaubert hatte).
Interaktiv nicht; die 2020er tracks vermitteln über weite Strecken den Eindruck, dass einsame Solisten gegen das anspielen, was man ihnen auf die Kopfhörer gibt.
Damit wir uns nicht missverstehen; es wäre absurd, die Hommage produktionsästhetisch als Kopie zu erwarten, sie will ja Inspiration aus der Jazzhistorie im Lichte der Gegenwart umsetzen.
Ob aber Terefe & Okumu samt ihres fütternden DJs von der BBC und den zwölf MusikerInnen mit ihren Mitteln an den Goldstandard von Macero & Co. anschließen können, mag bezweifelt, ach was - es muss bestritten werden.

cover London Brew 1

Sie beginnen mit viel Wind vor der Hoftür, mit strukturiertem Gewaber im ersten Teil des Titelstückes, in dem vor allem die beiden Schlagzeuger - Dan See und Tom Skinner - Aufmerksamkeit erregen. Es ist kein Funk a la ´69, überhaupt fehlt 16tel-Feeling.
Direkte Bezugnahmen gibt es kaum; und selbst da, wo sie vom Titel her suggeriert werden („Miles Chases New Voodoo in the Church“) fehlen sie: das Stück startet mit einem sehr ähnlichen Rock-pattern wie dem in „That´s what happened“ (aus „Decoy“, 1984).
Ein weiteres Zitat mag man im langen, langen Ausklang von „London Brew Pt 2“ erkennen, es greift in die Vor-„Bitches Brew“-Zeit: der track startet mit drum´n´bass-patterns und verschwimmt schließlich in einem akustischen Nebel aus
„In a silent Way“-Fetzen.
Davor mag man minimal patterns in 3/8 a la Steve Reich erkennen, an anderen Stellen mitunter auch Frei-Metrisches - es mangelt nicht an rhythmischer Variation.
Als principal soloist schält sich Shabaka Hutchings heraus, manchmal auch mit einem Instrument, das in der Besetzungs-
liste gar nicht notiert ist, beispielsweise die Klarinette in einem sich aufbäumenden Solo in „Raven flies low“.
Nubya Garcia bleibt demgegenüber weniger erkennbar, am deutlichsten noch in einem Dialog mit Hutchings in „Nu Sha Ni Sha Nu Oss Ra“, und dies in einer stilistischen Farbe, die gleichfalls bei „Bitches Brew“ nicht vorkommt, in der hier exponierten JazzmusikerInnen-Generation aber durchaus populär ist, nennen wir es Spiritual Jazz.
Ansonsten, kein Pendant zu den drei E-Pianisten von 1969 (Chick Corea, Larry Young, Josef Zawinul), kein Pendant zum Gitarristen von 1969 (John McLaughlin), und - selbstredend - kein Pendant zum Referenzpunkt Nr 1!
Der einzige Blechbläser ist Theon Cross, tuba.
„London Brew“ fließt stellenweise als lauwarme Brühe.
Das Problem scheint, dass struktuell wenig aus echter Interaktion entstanden ist (wie im großen Vorbild), aus einer Dringlichkeit, die hier offenkundig wenig gegeben ist.
Die Produzenten flüchten in das, was ihnen überreichlich zur Verfügung steht: Spuren auf der Festplatte, die sie beliebig schichten können und ein Riesenarsenal an Effekten.
Ja, ja, ja, die alte Regel gilt noch immer: Weniger wäre Mehr gewesen.

 erstellt: 24.02.23
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