MENSCHMASCHINE Hand Werk **
01. Die Mensch-Maschine (Kraftwerk), 02. Autobahn, 03. Die Roboter, 04. Der Telefon-Anruf, 05. Vitamin, 06. Trans Europa Express, 07. Heimcomputer, 08. Das Modell, 09. Tour de France, 10. Taschenrechner, 11. Aéro Dynamik, 12. Computer Liebe, 13. Computerwelt
Oli Kuster - p, Domenic Landolf - ts, bcl, Christoph Utzinger - b, Kevin Chesham - dr, Nadja Stoller - voc, recorder (8)
rec. ?
Metarecords META 061; LC 10424
Der Faktor, der Standards ihre Langlebigkeit verleiht, ist die Tatsache, dass sie meist von Pianisten für Gesangsstimmen geschrieben wurden. Sagt Branford Marsalis. Prince, fügt er hinzu, könne man nicht auf dem Saxophon spielen. (Vermutlich klammert er dabei Balladen wie „Sometimes it snows in April“ oder „Nothing compared to u“ aus).
Fragte man Branford, ob sich Kraftwerk für Saxophon, für eine Jazz-Bearbeitung allgemein empfehle, er würde vermutlich schreien vor Entsetzen. Vielleicht würde er auf das Balanescu String Quartet verweisen, das sich vor vielen Jahren schon an dem Material ... tja, wie soll man sagen?, vergriffen hat.
Die zickige Rhythmik der Originale war dem Streichquartett dabei so hinderlich nicht - bloß, die banale Melodik, orientiert an Sprechstimmen, machte keine Violine satt.
Jetzt macht sich - Branford, bitte Ohren verschliessen! - ein Quartett um den aus Bern stammenden Pianisten Oli Kuster ans Werk. Und man weiß nicht, worüber man mehr staunen soll: über die Naivität, mit der sie das Projekt angehen, oder die groteske Fehleinschätzung der eigenen gestalterischen Qualitäten. Erste paart sich mit (fast) exklusiver Ironiefreiheit, die auch in dem mißratenen Band- und Projekt-Namen zum Ausdruck kommt. Das zweite speist sich aus dem steinalten Lehrsatz der Jazz-Ideologie, wonach diese Gattung ewig und drei Tage berufen sei, anderen „neues Leben einzuhauchen“. Hier noch exponentiell erhöht um den Anspruch, „eine entschiedene, kreative Musik“ zu schaffen, „die sich vor dem Originalwerk der Düsseldorfer Pioniere mit Respekt verneigt und gleichzeitig den Mut und das Selbstverständnis heutiger Jazzmusiker bezeugt.“
Ihre gehörige Portion Naivität mag die vier davor schützen, dass andere Kollegen in dieser leichtfertigen Inanspruchnahme einen Straftatbestand sehen könnnten.
Denn nichts, rein gar nichts wird davon eingelöst in den ersten tracks. Es tut geradezu weh zu hören, wie die Schweizer den zickigen Rhythmen der Düsseldorfer auf dem Leim gehen, unbescholtene Ohren mögen hier eine Anfängerkapelle wähnen. Das Tenorsaxophon von Domenic Landolf dödelt herum, mit viel Fingerspitzengefühl mag man in „Mensch-Maschine“ eine Art Coltrane-isierung des Originalthemas erkennen. Soviel Zickendraht macht vervös, der Pianist Kuster tut sich weitaus leichter, den Zumutungen zu entgehen.
In „Trans-Europa Express“ endlich lösen sie sich aus der Vasallentreue zu den Originalen und inszenieren rubato, mit sehr aufgebrochener Rhythmik, eine Art Skizze, wie man eine Mindestdistanz zu den Vorlagen einrichten und wie eine jazz-mässige Berarbeitung beschaffen sein könnte.
In „Das Modell“ gesellt sich die Sängerin Nadja Stoller hinzu. Die bedient sich genau des Sprechgesangs der Originale, sie singt über ein vocal loop (Landolf hat vorher auch schon einen Harmonizer zum Einsatz gebracht, es ist also beileibe nicht alles „Hand Made“), sie macht aus dem Femininum des Originals ein männliches Model, ja sie bringt sogar einen Hauch Ironie ins Spiel.
Und, ganz unfreiwillig, stößt sie einen Gedanken an, bei wem Kraftwerk-Interpretationen am ehesten noch mit dem „Selbstverständnis heutiger Jazzmusiker“ in Einklang kämen: bei Lucia Cadotsch, der - wiederum Schweizer - Sängerin von Schneeweiß Und Rosenrot.
Die kämen bestimmt nicht auf die Idee, im Angesicht von Kraftwerk von „Respekt“ zu faseln. Respekt ist keine musikalische Kategorie. Fantasiearmut schon.
erstellt: 15.10.11
©Michael Rüsenberg, 2011. Alle Rechte vorbehalten