"Geld ist wie Jazz"

Aber hallo, war unsereins elektrisiert, als wir unter dieser Überschrift ein Interview mit Jean-Claude Trichet fanden, im Cicero (5/2005). Trichet ist Europas oberster Währungshüter, Chef der Europäischen Zentralbank, mit Sitz in Frankfurt/Main.
Dieser Satz aus dem Munde dieses Mannes, was könnte der nicht alles sagen? Wir wittern eine neue Theorie, schärfer, plastischer als aller Manager-Singsang von der Improvisation als Inspiration. Geld ist wie Jazz - könnte da ein neues pantha rei anklingen, alles ist im Fluss? Aber was ist mit denen, die das Geld horten, sind das diejenigen, an denen keiner vorbeikommt, könnten damit die Autoren von
Standards gemeint sein?
Wir rasen durch den Text. Schon in der zweiten Antwort legt Trichet eine kulturelle Spur aus! Was ihn in Deutschland überrascht habe? "Dort, wo ich wohne (20 km von Frankfurt entfernt; Anmerkung), befinden sich in einem Umkreis von einer Autostunde vier Opernhäuser!"
Keine Jazzclubs, Opernhäuser, immerhin! Ob dem
Ackermann, Josef diese auffielen?
Weiter im Text. 15 Fragen später der erste "Geld ist..."-Satz, nach dem wir fahnden:
"Geld ist per definitionem parteiunabhängig." Ach ja, eine elegantere Version des vulgären "Geld stinkt nicht."
Weiter im Text. Kein Satz nirgends, der auch nur entfernt unserem Suchmodell entspräche.
Da, drittletzte Anwort! "Ich bewundere zutiefst den Jazz von großartigen Musikern wie
Miles Davis, John Coltrane, Sonny Rollins. Ihre Musik habe ich vor zwanzig Jahren kennengelernt. Sie hat mich stark geprägt."
Das klingt, als habe er diese Herren seitdem nicht mehr gehört.
Aber wo ist die Verbindung zum Geld? Geld ist wie Jazz?
Also noch mal durch den Text. Ein zweites, ein drittes Mal - nichts!
Die Aussage "Geld ist wie Jazz" - Trichet äussert sie weder implizit noch explizit. Sie entspringt der Fantasie der beiden Interviewer (Jacques Pilet, Michel Contat) oder der Cicero-Redaktion.
Sie hätten mit gleicher Logik texten können "Geld ist wie Goethe", denn die "Wahlverwandtschaften" und "Die Leiden des jungen Werther" hat Trichet jüngst wieder gelesen.
"Geld ist wie Jazz", vielleicht fanden sie diesen hyper-alterierten Akkord einfach nur sexy.
Oder, halt, sie sind uns auf die Schliche gekommen, wonach im Jazz immer auch das Gegenteil richtig ist.
Wo Geld, da kein Jazz...und umgekehrt!


©Michael Rüsenberg, 2005. Nachdruck verboten