BEN SIDRAN ben there, done that
Live around the World (1975-2015) *******

CD 1
01. Birk’s Works (Gillespie) — Minneapolis, KTCZ Radio Broadcast (September 19, 1975), 02.  The Groove Is Gonna Get You (Sidran) — Sunset, Paris (November 11, 2015), 03. The Funkasaurus  — Tokyo, Cotton Club (May 21, 2009),
04. That’s Life I Guess (de Rose/Lewis) — Milan, Blue Note (December 1, 2003),
05. You Can’t Judge a Book (W. Dixon) — Milan, Blue Note (December 1, 2003),
06.  The House of Blue Lights (Ray, Slack) — Madison, Jazz @ Five (July 29, 2001),
07. Dying Anyway (Sidran) — Paris, Sunside (November 7, 2000),
08. On the Road Again — Paris, Sunset (May 11, 2007),
09.  Revenge of the Funky Duck (Sidran, Cooke) — Minneapolis Radio Broadcast (September 19, 1975)  
CD 2
01. Ballin’ on the Reservation (Sidran) — Madrid Area Reservada (November 24, 2000),
02. Blue Minor (Sonny Clark) — Milan, Blue Note (December 1, 2003),
03. Hard Times (R. Mitchell) — New York, Jazz Standard (May 4, 2008),
04. Minority (Qusim) — New York, Jazz Standard (October 7, 2007),
05. New York State of Mind (Billy Joel) — London, Pizza Express (December 2, 2001),
06. Let’s Make a Deal / Absent Soul (Sidran) — Paris, Sunside (November 7, 2000),
07. Piano Players — Paris, Sunside (November 7, 2000)
CD 3
01. Song for a Sucker Like You (Sidran) — New York, Governor’s Island (June 30, 1991),
02. On the Sunny Side of the Street (Fields, McHugh) — London, Pizza Express (December 2, 2001),
03. Mitsubishi Boy (Sidran) — Osaka, Blue Note (April 18,1991),
04. Straighten Up and Fly Right (Cole, Mills) — New York, Governor’s Island (June 30, 1991),
05. Lip Service (Sidran) — Osaka, Blue Note (April 18,1991),
06. Walking with the Blues — Osaka, Blue Note (April 18,1991),
07. Just a Dream (Clanton) — Tokyo, Cotton Club (May 21, 2009),
08. Language of the Blues (P. MacDonald) — Osaka, Blue Note (April 18, 1991),
09. Too Hot to Touch (Sidran) — Tokyo, Quatro (April 19,1991),
10. My Little Sherry (Rouse, Sidran) — Tokyo, Cotton Club (May 21, 2009),
11. Life’s a Lesson (Rosolino) — Tokyo. Blue Note (November 7,1991)


Wenn wir uns für einen Moment höherer Einsicht versperren und beispielweise eine Erkenntnis der Philosophie ausblenden
(„dass Kunst ästhetische Form ist, angesichts derer eine Unterscheidung zwischen einem Was und einem Wie keinen Sinne macht“, DM Feige, 2015),
und lieber einer Denklinie aus unserer kleinen Welt folgen, noch dazu von einem ihrer Besten, nämlich Bill Evans, dann geht es im Jazz eben doch weniger um das „Was“ als viel mehr um das „Wie“.
Das Motto mag plausibel, aber falsch sein. Hier dient es ausschließlich dem guten Zweck, ein Loblied zu singen auf einen Künstler, der an keiner einzigen Jazz-Revolution mitgewirkt und immer nur nachvollzogen hat.
Selbst sein größtes asset, den Gesang, muss man relativieren; unter den Bestandteilen, die eine vokale Qualität ausmachen, stechen bei ihm nur zwei heraus: Phrasierung und timing. Die beiden aber - exponentiell.
Es ist wohl kein Zufall, dass im umfangreichen booklet zu dieser Box ein Sänger grüsst (zu einer „soulfull connection“), auf den - zumindest gesanglich - das gleiche zutrifft: Georgie Fame. Und lebte Mose Allison noch, dürfte auch er sich dazugesellen.
Ben Sidran, 76, aber ist bedeutender als Georgie Fame, mehr auch als Mose Allison (obwohl er nicht so haltbare Songs geschrieben hat).
Diese Live-Mitschnitte über einen Zeitraum von vier Jahrzehnen bilden eine Quersumme seiner Karriere. Dazu der fabelhafte Sprachtrick im Titel („ben there, done that“), dem durch das Ersetzen des Partizips durch seinen Vornamen alles Buchhalterische entzogen wird - sie beschreiben eine Rolle, die ihm wie keinem zweiten zukommt: Ben Sidran ist der Flaneur des Modernen Jazz.
Er hört, riecht, schmeckt die Geschichte des Jazz. Bis auf New Orleans und dam anderen Ende den FreeJazz, aber auch Third Stream, lässt er aus - sie sind ihm zu wenig Blues-getränkt.
Denn Blues, auch in Gestalt des Blues-Rock, ist sein Metier; viele seiner Stücke hier haben diese Form oder atmen dementsprechend.
Eigentlich ist der Flaneur ein stiller Beobachter. Er genießt um des Genießens willen; nun gut, manchmal lässt er uns literarisch an seinem Vergnügen teilhaben. Vor allem tut er das mit leichter Hand, geradezu beiläufig.
Das trifft auch auf Ben Sidran zu, auf seine akustische Lebensbilanz, in Amerika veröffentlicht anlässlich seines 75. Geburtstages, 1978.
Ben Sidran aber ist kein stiller, er ist ein teilnehmender Beobachter (nicht zu verwechseln mit der soziologischen Methode). Er saugt große Teile der Jazzgeschichte auf und gibt sie in seinen „Worten“ wieder; stellenweise hat er historisches Jazzpersonal dabei, die beiden Saxophonisten David „Fathead“ Newman (II/3) und Phil Woods (II/4).
Die Spannweite seiner Karriere ist größer als sie dieses Tripel-Album wiedergibt. 1970, auf seinem Debut „Feel your Groove“ war Blue Mitchell mit dabei, später die beiden Breckers, Johnny Griffin und Peter Erskine.
Nicht zu vergessen (was hier nicht anklingen kann) seine Autorentätigkeit, angefangen bei seiner Dissertation „Black Talk“ (1972) bis hin zu „Talking Jazz“, einer 24-CD-Compilation seiner Interviews mit 60 Jazzmusikern.
Wie jeder gute Flaneur ist auch Ben Sidran unterhaltsam. Die 27 tracks dieser Produktion sind außerordentlich klug gewählt, sie reihen sich zu einer Kette wie aus einem langen, facettenreichen Jazzkonzert.

Ground Zero
cover sidran ben thereEs dürfte kein Zufall sein, dass er - nachdem er in Gestalt von Dizzy Gillespie´s „Birk´s Works“ mit einem kleinen Funk-Gesellenstück gestartet ist - erst einmal eine Art Jazz Manifesto vorlegt.
Im Grunde kondensiert dessen Titel „The Groove is gonna get you“ schon die Botschaft, die er dann in 10 Minuten über einem Stampf-Funk entfaltet: in Sprache über einem Musikteppich, wie es einst typisch war für den zentralen Ort der Szene, den Jazzclub.
Aber es ist nicht das Village Vanguard in New York City, nicht Ronnie Scott´s in London, sondern das „Sunset“ in Paris, wo er den Mythos dieses Ortes beschwört.
Der Jazzclub ist für ihn „Ground Zero, this is where the truth is told.“
Was wie ein improvisierter Text wirkt, so beiläufig erzählt, ist ein ausgearbeiteter Vortrag (stellenweise reimt er sich sogar).
Sidran bezieht sich auf Johnny Griffin („this is music for people that feel good inspite of conditions“),  auf Cannonball Adderley („ Hipness is not a state of mind, it´s a fact of life“) und Federico Garcia Lorca.
Er entwirft das Bild einer klassenlosen Gemeinschaft in diesem Soziotop, weil alle dieselben Herkunft sind („we are all Africans, we all come from the same Mother, literally“). Der Austausch zwischen Musikern und Publikum läss sich ins Deutsche kaum übertragen, aber im Englischen weiß ein jeder was es bedeutet: „laying down the groove, so that everybody can pick it up“.

 

 ---wird fortgesetzt

erstellt: 16.10.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten