PAT METHENY Side-Eye NYC V1.IV *******

01. It starts when we disappear (Metheny), 02. Better Days ahea, 03. Timeline, 04. Bright Size Life, 05. Lodger, 06. Sirabhorn, 07. Turnaround (Ornette Coleman), 08. Zenith blue (Metheny)

Pat Metheny - g, g-b, orchestrionic, James Francies - org, p, ep, synth, Marcus Gilmore - dr

rec. 12./13.09. 2019
BMG/Modern Recordings 638693922

Endlich mal wieder ein straight ahead Album von Pat Metheny.
Nach seinem Ausflug ins Semik-Klassische mit dem LA Guitar Quartet "Road to the Sun" (2020) sowie dem sehr ambitionierten, fast orchestralen „From this Place“(2019)
Jetzt also wieder Jazz, vor allem Jazzrock.
Es ist eine Reihenfolge in discografischer Ordnung; ob die Aufnahmen auch in dieser Chronologie stattgefunden haben, lässt sich wegen fehlender Terminangaben schlecht überpüfen.
Auf alle Fälle aber haben wir hier eine gute Visitenkarte des Pat Metheny Trios in ähnlicher Besetzung, dessen Europa-Tournee bereits zweimal verschoben wurde und für den Mai 2022 terminiert ist.
Mit anderen Worten, ein Live-Album. Mit einer Rhythmusgruppe - die keine ist. Wenn er James Francies verpflichte, so der Rat von Eric Harland, dr, an Metheny, dann erübrige sich die Wahl eines Bassisten.
Drummer im Mai 22 wird Joe Dyson sein, hier ist es der fast schon ubiquitäre Marcus Gilmore.
Er ist die IV einer Schlagzeuger-Reihenfolge, die mit eben jenem Eric Harland begann, gefolgt von Anwar Marshall und Nate Smith, Joe Dyson wird die Nummer 5 sein.
Keybordspieler in allen bishering Side-Eye Projekten mit der Kennziffer V1 ist James Francies.
Mit dieser Reihenfolge einerseits wechselnder, anderseits gleichblendender Bandmitglieder schließt der nun auch schon 67-jährige Metheny an eine gute Jazz-Tradition an:
„Seit meinen Anfängen in Kansas City habe ich selbst immer wieder davon profitiert, dass mich ältere Musiker*innen an ihre Seite geholt haben, was mir die Chance gab, mich im Spektrum ihres jeweiligen Erfahrungsschatzes weiterzuentwickeln, weil ich mich natürlich den Herausforderungen stellen musste, die ihre Musik jeweils mit sich brachte“.
Pat Metheny aber hört sich nicht in Missouri um, sondern in New York City; daher der mittlere Teil der Albums Namensformel.
cover metheny side eyeDas Album ist ein Live-Mitschnitt aus zwei Konzerten in der Sony Hall New York City im September 2019.
Wer genau hinhört, dem fällt schon im opener auf, dass gelegentlich mehr als drei Instrumentalstimmen erklingen; beispielsweise ein Bass-part mit vibrato a la Jaco Pastorius in „Sirabhorn“. (Metheny setzt dort seinen „guitar-bass“ ein).
In „It starts when we disappear“ ist es eine ryhtmisch-melodische Linie, wie man sie früher einem Sequencer zugeschrieben hätte. Die Figur, hochfrequent mit Tönen in schneller Folge, ist zweifellos programmiert, aber sie wird so flexibel eingesetzt, dass sie von einem anderen Gerät stammen muss.
Möglicherweise von Metheny´s „orchestrionic“, was immer das sei. Jedenfalls spricht er in einem Begleittext zum Album, er bringe „noch ein paar von meinen ´orchestrionischen Instrumenten´ ins Spiel“, vermutlich Digitalspeicher mit besonderen Zugriffsqualitäten.
„It starts when we disappear“ betritt typisches Metheny-Land: cinemaskopische Assoziationen, die sich auch ohne aufwändige Instrumentierung einstellen; zuckrige Melodik, suggestive Rhythmus-Patterns, die freilich aufgebrochen werden, gegen 10:20, kurz vor Schluß, sogar ein kompletter Groovewechsel.
James Francies soliert als erster auf dem Piano, mit deutlichen Verweisen auf Chick Corea; dem Solisten Metheny schiebt er dezent Orgelflächen unter.
Ein ausgesprochenes Orgel-Feature dann der übernächste track: ein Jazz-Shuffle-Blues im klassischen Orgeltrio-Format mit allen möglichen Referenzen an Jack McDuff und Jimmy Smith, aber seitens Pat Metheny´s auch an Wes Montgomery (dessen Oktavtechnik).
„Timeline“ hat er selbst noch nie aufgenommen, wohl aber an der Premiere mitgewirkt: 1999 auf „Time is of the Essence“, von Michael Brecker. Francies steuert ein „amtliches“ Solo bei, allerdings technisch gewissermaßen nur mit „halbem“ Einsatz gegenüber den historischen Modellen: die Baß-Funktion delegiert er nicht an die Füße, sondern an die linke Hand.
Einen nicht geringen Charme des Albums machen ohnehin die Rückgriffe aus: die Ballade „Better Days ahead“ von „Road to you“, 1992; „Bright Size Life“ aus seinem Debütalbum 1975; Ornette Coleman´s „Turnaround“ aus „80/81“, damals zusammen mit dem Komponisten - noch ein Blues.
„Lodger“, komponiert ursprünglich auf der akustischen Gitarre, inspiriert und gewidmet „einem großartigen Freund, der zugleich einer meiner Lieblingsgitarristen ist: Adam Rogers“.
Die Promotion preist das Stück als „echten Rocker“. Und wenn man an den unterschiedlichen Varianten der Interpretion dieses Albums etwas bekritteln mag, dann dass „Lodger“ den behaupteten Ausdruck vermissen lässt. Es ist eigentümlicherweise Marcus Gilmore, dem es hier an dem notwendigen punch mangelt.
Dafür rücken ihn seine snare rolls im Folgestück, „Sirabhorn“, in die Nähe der Exzellenz eines Bill Stewart. Wie angedeutet, „Sirabhorn“, eine locker groovende Ballade, übersteigt deutlich das Klangpotenzial eines Trios in dieser Besetzung. Man hört durchgehend eine vierte Stimme, nämlich einen Jaco Pastorius-beeinflußten Bassisten, wie ihn Mark Egan vor vielen Jahren an dieser Stelle gegeben hat.
„Zenith Blue“ bietet noch einmal großes Kino mit Git-Synth-Thema und sehr aufmerksamen Einwürfen von Marcus Gilmore. Eine typische Metheny-Suite zum Abschluß eines Albums, das wenig Neuland betritt, aber einen sehr abwechlungsreichen Bogen beschreibt. Eingepasst ein keyboard-Solo, das erneut Francies´ Verehrung für Chick Corea zum Ausdruck bringt.

erstellt: 10.09.21
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