JEAN-MICHEL PILC Alive. Live at Dièse Onze, Montreal ********

CD1
01. Softly as in a Morning Sunrise (Romberg, Hammerstein), 02. Sharp 11 (Pilc), 03. Nardis (Miles Davis), 04. All Blues, 05. Alive (Pilc)
CD2
01. Freedom Jazz Dance (Eddie Harris), 02. Eleanor Rigby (Lennon, McCartney), 03. My funny Valentine (Rodgers, Hammerstein), 04. All the Things you are (Hammerstein, Kern), 05. Someday my Prince will come (Churchill, Morey), 06. My Romance (Rodgers, Hart), 07. Mr. P.C. (John Coltrane)

Jean-Michel Pilc - p, Rémi-Jean Le Blanc - b, Jim Doxas - dr

rec. 06/2021

Justin Time Records 0068944027521 (CD 1 only)

CD 2 (download only)

Jean-Michel Pilc, 1960 geboren in Paris, lebt nach langen Jahren in New York City nun in Montreal. Dort, in einem Viertel am Fuße des den Städtenamen gebenden Hügels, ist dieses Album im Juni 2021 in einem Club/Restaurant entstanden.
Am Rande auch dieser typischen location wegen kann man es als DAS paradigmatische Jazzalbum der letzen Monate betrachten.
Es könnte auch den Untertitel tragen „jazz as (only) jazz can“ - vieles (nicht alles), was Jazz ausmacht, lässt sich daran erklären.
Zum Beispiel das Spielen von Standards: Pilc dürfte neben - aber wiederum ganz anders als - Django Bates den Freiraum für Interpreten am weitesten gedehnt haben; so weit dass gar manche sein Vorgehen für „beliebig“ halten mögen, von der vielzitierten „Logik“, die die gemeine Jazzkritik in vielen Soli meint finden zu können, ganz zu schweigen.
Es ist kein Zufall, dass sich in diesem Mitschnitt lediglich zwei eigene Stücke finden; er braucht sie kaum, er geht mit anderer Leut´ Ideen sowieso um, als wären sie seine eigenen.
Paradebeispiel dafür „Freedom Jazz Dance“. In knapp 10 Minuten tippt Pilc den B-Teil des Themas von Eddie Harris´ Klassiker zweimal an (bei 2:40 und 6:57), den A-Teil nur einmal (bei 3:12); was er ansonsten treibt, hat viel mit ihm und dem Bassisten Rémi-Jean Le Blanc zu tun (beispielsweise zu Beginn ein tradin´ fours, also ein Wechselspiel über je 4 Takte) und wenig mit Harris. Das Ganze auf dem Rücken eines stampfenden hard swing.
Ganz aktuell gesprochen: für Legitimationsfragen der „kulturellen Aneignung“ wäre Jean-Michel Pilc der denkbar Ungeeignetste.
Nicht nur, dass er Formteile austauscht, im Fremden fällt ihm gelegentlich auch weiteres Fremdes ein, auf gut Deutsch: er zitiert.
Im Jazz nennt man das superimposing.
So spielt er im „All Blues“ von Miles Davis „Bye, Bye, Blackbird“ und „A Love Supreme“ an, in „All the Things you are“ kann er sich nicht verkneifen, auch „Santa Claus“ kurz heimkommen zu lassen.
Man könnte hier vielleicht auch die psychologische Theorie des mind wandering heranziehen (wonach wir zu zwei Dritteln unserer wachen Zeit „in Gedanken woanders sind“), angewandt auf Musik.
Oder die empirisch belegte Tatsache, dass wir in der Lage sind, vertraute Melodiefetzen auch in entlegenen Transpositionen bzw. fremden Kontexten zu erkennen. Die Exemplifizierung erfolgt hier durch „Eleanor Rigby“. Pilc wirft dem Beatles-Corpus ein tiefschwarzes Shuffle-Gewand über, es lohnt sich ein Blick darunter.
Cover Pilc AliveÜber das Thema lässt er uns nicht im Unklaren, er ver-Blues-t es allerdings stark, durchwült es mit donnernden Akkorden, schiebt es rhythmisch durch verschiedene Formen.
Bei 4:41 landet er einen seiner wahnsinnigen Kunstgriffe: 31 Takte lang wiederholt er ein 5-Töne-Motiv in der rechten Hand. 16 Takte lang verharrt die linke in einem Muster, ab Takt 17 wird sie selbstständig.
In Takt 32 (Pilc bleibt exakt in der Form!) löst er das Rätsel und spielt „Klartext“, nämlich die auf 6 (von 8) Töne verkürzte Zeile „All the lonely People“.
Was wir vorher gehört haben, war nichts anderes als eine verkürzte Umkehrung davon.
Waitaminute! JMP ist noch nicht am Ende!
Als Coda spielt er noch einmal, solo, das Thema von „Freedom Jazz Dance“ komplett durch. Dann zum Abkühlen „My favourite Things“.
JMP ist ein Sponti. Man glaubt ihm gerne, dass er ohne setlist auf die Bühne geht. Nicht alles darauf dürfte dann völlig spontan entstehen, dazu ist er viel zu sehr Formalist. Er kann aus einem großen Fundus - und dann spontan - schöpfen.
Durchaus denkbar, dass ihm im Juni im „Dièse Onze“ der Tod von Chick Corea, vier Monate zuvor, in den Kopf kam. Seine Version von Coltranes „Mr. P.C.“ klingt jedenfalls, als stamme sie von CC. Den Blues-Charakter behält er bei, setzt das Ganz aber auf einen Tango und glänzt mit staccato-Phrasierung (a la CC) wie nirgendwo sonst in dieser Session.
Es ist dies einer der seltenen Momente, wo man Einflüsse bei Pilc wirklich benennen kann, ansonsten dominiert seine eigene Handschrift: stupend, virtuos, mitunter ungestüm, sprunghaft - der Glanz von „Harmonikern“ wie Fred Hersch, Marc Copland oder Kenny Werner geht ihm ab.
Warum dann, bei aller Begeisterung, die er offensichtlich auslöst, nur ******** und nicht ********** für dieses Album?
Nun, eine optimale Bewertung setzte denn doch einen größeren Innovationswert voraus. Obwohl er sie häufig bricht - Jean-Michel Pilc ist ein Meister der Konvention. Er realisiert das (bis um Anschlag), was bisher schon Praxis war.
Auch in puncto Interaktion lässt er noch headroom. Hier agiert ein begnadeter Solist mit Begleitern; mitunter wünschte man sich, Rémi-Jean Le Blanc und Jim Doxas würden stärker einer eigenen Agenda folgen. Sie sind punktum zur Stelle, sie folgen ihrem Bandleader strikt, sie kennen das Material.
Aber, sie erreichen dennoch nicht den Standard von Francois Moutin,b, und Ari Hoenig, dr, den Standard ihrer Vorgänger - mit denen JMC nach wie vor tourt, zum Beispiel in diesem Sommer an der US-Ostküste.

erstellt: 23.04.22
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