Köln 75 - Köln Concert ohne Jarrett(Musik)

Es lässt sich unfallfrei feststellen, dass der größte Mythos, der größte hype der Jazzgeschichte nicht ihr bestverkauftes Album umhüllt (Miles Davis „Kind of Blue“, 1959, „über 5 Mio Exemplare“), sondern das zweitplazierte, Keith Jarrett „The Köln Concert“, 1975 („über 4 Mio Exemplare“, nix Genaues weiß man nicht).
Vor allem dessen Außenwirkung, die Rezeption jenseits des auch weitest gedachten Jazz-Orbits, ist exorbitant:
zu „The Köln Concert“ wird getanzt; die Musik erklingt auf Beerdigungen; die transkribierte, vom Schöpfer autorisierte Fassung (1991) ist unter Klassik-PianistInnen zum beliebten Repertoirestück avanciert.
(Ein bis dato kaum registrierter Widerspruch zum Verdikt des Künstlers über sein Werk: „man sollte alle die Aufnahmen einstampfen“, 1992) 
Große Teile der exzellenten Studie von Peter Elsdon („Keith Jarrett´s The Köln Concert“, 2013) befassen sich mit der Rezeption in anderen Kunstmedien. Der Musikwissenschaftler aus Hull lässt auch die bizarrste Auslegung nicht unerwähnt, nämlich die These von Joachim Ernst Berendt über „den neuen Faschismus in Jazz und Rock“, 1976, für den er auch im „Köln Concert“ meinte, Indizien gefunden zu haben.
Koeln75 PlakatSechs Wochen nach dem 50. Jahrestag, verzögert durch die Premiere auf der Berlinale 2025, bläht sich der Mythos mit Hilfe eines weiteren Mediums auf, durch einen Spielfilm.
Er interessiert sich - soviel vorweg — ausschließlich für die Umstände des Konzertes, (jüngst tauchen sie in einem Quiz im ARD-Vorabendfernsehen auf, nämlich als Frage nach dem „verstimmten Flügel mit den klemmenden Tasten“).
Er interessiert sich nicht für dessen künstlerischen Ertrag. Es erklingt nicht eine Sekunde aus dem legendären Mitschnitt.
Das haben sich der Künstler und sein Produzent - sehr erwartbar - verbeten.
Gleichwohl gibt es Musik in „Köln 75“, viel Musik.
Regisseur und Produzenten haben zwei Pianisten aufgetrieben - Stefan Rusconi aus der Schweiz und Hubert Walkowski aus Polen -, die nun so tun, als ob…
Der NDR-Jazzredakteur Michael Naura (1934-2017), der einmal über ein Jarrett-Konzert bekannte, „ich saß nicht, ich kniete in der zweiten Reihe“, würde deren Wirken im Abstand zum Original sicher als die Arbeit von „Pianören“ charakterisieren.

„Was wir wissen, wissen wir aus den Medien“, sagt Niklas Lumann (1996).
Der Satz ist widerlegt. Aber weil er so schön klingt, soll er doch hier in kleiner Münze modifiziert werden:
„Was die Medien über das ´Köln Concert´ wissen, wissen sie überwiegend von Vera Brandes“.
Für etliche Details gibt es keine weiteren Zeugen als die Veranstalterin. Die, die etwas sagen könnten, sind unauffindbar (Klavierstimmer & Sohn), lassen Anfragen ins Leere laufen (Tonmeister & Tochter) oder stehen schon seit Jahrzehnten in Opposition zu ihr (Keith Jarrett & Manfred Eicher, sein Produzent und Labelchef von ECM).
„Köln 75“ fehlen alle Voraussetzungen für ein Doku-Drama.
Eben das hat Ido Fluk, der israelische, in New York lebende Regisseur und Drehbuchautor, auch gar nicht vor:
„In ´Köln 75´geht es nicht um das Konzert, es geht um Vera Brandes“.

Koln Concert Plakat   1Sie ist damals 18, Gymnasiastin. Das später als „Köln Concert“ zu Weltberühmheit avancierte Ereignis ist zunächst nichts weiter als die Nummer Fünf ihrer Reihe „New Jazz in Köln“, eine Station auf einer 11-Städte-Tournee zwischen Lausaunne (CH) und Baden (CH). Nach erfolgreichen Konzerten in der Volkshochschule (u.a. Dave Liebman und Oregon) wagt sie den Schritt in die Oper Köln, für eine Spätvorstellung nach Alban Bergs Oper „Lulu“.
Fluk nimmt die berühmt-berüchtigten Umstände (und das erfolgreiche Navigieren der Protagonistin daraus) zum Anlass, die Emanzipation einer jungen Frau mit dramatischen Spitzen zu schildern, wie sie Augen- und Ohrenzeugen so gar nicht erinnerlich sind.
„But this movie is punk rock. And Vera Brandes is a punk rock character“, intoniert Fluk fröhlich in einem Berlinale-Interview.
Es gehört fraglos zu seiner gestalterischer Freiheit, den Plot so anzulegen und Mala Emde (die die junge Brandes spielt) als einzige Direktive mitzugeben, sie solle nicht eine Sekunde stillstehen.
Das tut die Schauspielerin denn auch zum allgemeinen Entzücken. Wie dem Regisseur ist aber auch ihr
„ganz wichtig zu sagen, dass unser Film kein Jazz-Film ist. Es geht um die Liebe zur Musik und darum, seinen eigenen Weg zu finden. Der Film will nicht zeigen, dass Jazz cool ist, sondern es geht um das Gefühl, das wir alle haben, wenn wir Musik hören und sich auf einmal das Leben anders anfühlt“ (Interview mit WamS, 09.03.25).

"Die größte Enttäuschung meines Lebens"

„Köln 75“ startet keineswegs auf speed, der Film startet verhalten. Nach der ersten Einstellung, in der das „Köln Concert“ auf Texttafeln in den gleichen Rang wie Michelangelos Deckenmalerei in der Sixtinischen Kapelle gehievt wird, nimmt der Film einen dramaturgisch fragwürdigen Start. Er begibt sich keineswegs ins Titel-gebende Jahr, sondern in ... 2006:
Die Protagonistin (hier gespielt von Susanne Wolff) wird fünfzig. Auftritt Ulrich Tukur in der der Rolle des Dr. Brandes:
„Vera ist, wie Sie vermutlich alle wissen, meine Tochter. (Applaus) Als sie jung war, da hatte sie viel Potenzial. Verstand. Gutes Aussehen. Sie hätte Richterin werden können, Ärztin oder Diplomatin. Doch nun sind wir hier. Sie ist fünfzig Jahre alt geworden. Ein guter Moment, um Bilanz zu ziehen. Und ich muss sagen: sie ist ohne Zweifel die größte Enttäuschung meines Lebens!“
In der Konsekutiv-Logik des Films ist damit der Hauptgegner in dieser Emanzipationsstory etabliert. Dass der Vater von den Konzertaktivitäten seiner Tochter nichts hält, im Folgenden schwelgt der Film geradezu darin: sie wird verbal gedemütigt, sie wird von ihm geohrfeigt.
Aber dass Zahnarzt Brandes sie - und sich selbst - noch 2006 dermaßen bloßstellt, 32 Jahre nach dem „Köln Concert“… wozu dient dieser innerfamiliäre Nachklapp, coram publico?
Kenner der Verhältnisse deuten an, dass sich das Verdikt auf spätere Begebenheiten beziehen dürfte, auf einen Zeitraum, den der Film gar nicht mehr erfasst. Wo die reale Vera Brandes schon lange nicht mehr ihren Tätigkeiten als Konzert- und Label-Managerin in Köln nachgeht.
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24.01.1975, nachmittags: das Drama nimmt seinen Lauf...Keith Jarrett (John Magaro), Manfred Eicher (Alexander Scheer) Vera Brandes (Mala Emde)

Unbalanciert auch die Rolle des Jarrett-Produzenten und ECM-Labelchefs, die Rolle von Manfred Eicher.
Als gesichert darf gelten, dass er den von Rückenschmerzen geplagten Pianisten mit einem Renault R4 von Lausanne nach Köln chauffiert. Und, dass er den in der Kölner Oper wartenden Flügel ablehnt („ Das ist ein kaputtes Stück Schrott!“) und auf Absage des Konzertes drängt.
Gesichert wohl auch, dass Eicher den Umweg über den Zürcher Flughafen nimmt, um dort bereitgelegte Flugtickets in Bargeld einzutauschen. „Wir brauchen das Geld für die Tour“ bedeutet er in einer Filmszene gegenüber Michael Watts. Und man fragt sich, ob das vereinbarte Honorar in der Oper Köln einen solchen Zuverdienst notwendig machte. Nicht zuletzt, warum mutet er seinem Schützling (dem er im Film ein stützendes Korsett löst) die - im Vergleich zum Flug - Tortour einer Autofahrt zu?
Einen weiteren Dreh, im Sinne eines Nachklapps, erfährt die Filmpräsenz Eichers mit Blick auf die Homepage der Protagonistin.
Überglücklich dankt sie dort allen Beteiligten, also auch „Alexander Scheer, der sich einmal mehr übertroffen hat und Manfred Eicher einen Glanz verlieh, der größer war, als seiner Vorlage.“ Selbst wenn dem Zitat der entscheidende Satzteil fehlt - auch in „Köln 75“ gilt, dass alle Darsteller mehr „Glanz“ ausstrahlen als ihre realen Bezugspersonen.

Michael "Mick" Watts

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Melody Maker Redaktion, 1971
Michael Watts, Mitte links
Richard Williams, hinten links
Foto: Barry Wentzell

 Für ein „punk rock movie“ (Ido Fluk) weist „Köln 75“ eine erstaunliche Portion (Jazz)Didaktik auf.
Ihre Ausführung obliegt in einer fiktiven Rolle einem Journalisten namens Michael Watts. Er sitzt auf der Rückbank des R4 auf der Fahrt nach Köln; ergebenst, wie es sich beim Eintritt in die Entourage von Keith Jarrett gehört, bittet er zu den unmöglichsten Zeitpunkten um ein Interview.
Seinen besten Auftritt hat er, indem er die vierte Wand durchbricht (also sich direkt an die Zuschauer wendet; im übrigen ein Stilmittel, das der Film geschickt einsetzt, ja dem er sein Tempo verdankt) und einer Klassikpianistin die Noten entwendet - sie kann nicht weiter spielen. Weitere Tür aufgerissen: eine Combo spielt Jazz-Standards, den Musikern kann man nichts wegnehmen, sie improvisieren. Und erst recht nicht jenen, die sich hinter der nächsten Tür verbergen: FreeJazz-Musiker. Kulmination des ganzen dann: Keith Jarrett.
Der Kult um ihn, den Peter Elsdon in seinem Buch mit dem Genie-Kult des 19. Jahrhunderts vergleicht, er findet in „Köln 75“ seine größte Artikulation.
Peinlich für die Filmemacher indes, dass sie für obige Rolle den Namen eines Journalisten wählen, der zum damaligen Zeitpunkt in London arbeitet und z.B. über David Bowie berichtet: Michael „Mick“ Watts, ein Amerikaner, Mitglied der Redaktion des Melody Maker.
Sein damaliger Chef Richard Williams (Leiter des Jazzfest Berlin 2015-2017) schreibt: „Im Ernst, der echte MW hatte nichts mit Jarrett oder dem Köln Concert zu tun. Meiner Meinung nach ist es dumm, die Figur nach einem Musikjournalisten zu benennen, der zu dieser Zeit recht prominent tätig war.“
Dabei hätte sich mindestens für die Namensgebung der MW-Rolle eine Person aus der realen Lebenswelt der Vera Brandes jener Jahre angeboten: Manfred Miller (1943-2021).
 Mag sein, dass die Konversion des Teenagers Brandes zum Jazz beim Auftritt von Miles Davis auf den Berliner Jazztagen 1971 erfolgte, so schlagartig wie es der Film zeigt. Mindestens für ihre Jazz-Bildung danach war aber - sie hat es seinerzeit selbst erzählt - der damalige Radio Bremen-Redakeur Miller verantwortlich. Neben dem Schriftzug an einem Urnengrab in Mainz-Mombach wäre eine gar nicht mal so fiktive Rolle in „Köln 75“ ein schönes Denkmal für ihn gewesen. 

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 "Köln 75" - John Magaro alias Keith Jarrett, (noch) nicht in der Oper Köln

Für den entscheidenden Dreh des ganzen Dramas, den Punkt, wo die unbestrittene Geistesgegenwart der Protagonistin das ganze Unternehmen vor dem Scheitern bewahrt, wählt der Regisseur ein anderes Bild als das von ihr oft kolportierte.
Die Klavierstimmer hatten ihren Job getan. Jarrett sass gleichwohl abfahrbereit in einem Pkw.
Demnach sei sie in der Lage gewesen, mit Hilfe eines bei Miles Davis aufgeschnappten Four-Letter-Words den indignierten Pianisten doch noch umzudrehen: „Keith, if you don´t play tonight, I´m gonna be truly fucked. And you´re gonna be fucked, too!“
Ido Fluk verlegt die Szene in einen Hotelflur, ohne jedes Kraftwort, aber laustark. Den Subtext des Films, nämlich Improvisation, führt er in zwei Varianten vor:
Improvisation als Notbehelf (improvisation impromtu, in der Diktion der Philosophin Lydia Goehr) und Improvisation als künstlerische Methode (improvisation extempore), mithin die Praxis des Keith Jarrett - die der Film als Eigenschaft eines Genies verklärt - und missversteht.
In einem Rededuell kehrt Brandes den gemeinsamen Nenner hervor, nach dem Motto:
„Wir haben improvisiert, jetzt bist du dran. Du bist doch der große Improvisator!“
Dramaturgisch ebenso überzeugend: kein einziger Pianoton auf dem Gipfel des Films, beim Konzert in der Oper Köln (gefilmt in Lodz). Stattdessen Nina Simone mit „To Love Somebody“ von den Bee Gees.
Eine mehrdeutige Szene, Traum und Wirklichkeit verwischen: Vera Brandes, gespielt von Mala Emde, hinter Bühne, völlig erschöpft.
Sie schlägt schweres Tuch beiseite: der gewünschte große Bösendorfer! Sie lugt durch den Bühnenvorhang, sieht Keith Jarrett, sieht die Eltern im Publikum, den wohlgelaunten Vater.
„To Love Somebody“. Warum dieses Lied? An wen richtet sich ihre Liebe? An den großen Künstler?
Ganz sicher & trotz allem. Und wohl auch an den Bruder, mit dem sie sich wenige Tage zuvor versöhnt hat.
Im realen Leben übernimmt er die Zahnarztpraxis des Vaters.

Filmfotos: Alamode Filmverleih
erstellt: 07.03.25
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