RONNY GRAUPE & SZELEST Newfoundland Tristess ********
01. Some Other Time (Bernstein), 02. Newfoundland Tristesse (Graupe, Cadotsch), 03. Once Upon a Summertime (Legrand, Mercer), 04. At a 2nd Glance (Graupe, Cadotsch), 05. Stardust (Carmichael, Parish), 06. Szelest (Graupe, Cadotsch), 07. Sublimity, 08. Vorbei, 09. I Surrender, Dear (Barry Harris, Gordon Clifford)
Ronny Graupe – g, Lucia Cadotsch – voc, Kit Downes – p, ep
rec. 30.01.-02.02.2023
BMC Records CD 324
LIUN + THE SCIENCE FICTION BAND Does It Make You Love Your Life? *******
01. Speak To Me (M: Cadotsch, Slavin, T: Cadotsch), 02. Faye Dunaway, 03. Letters, 04. Katze, 05. Daddy Longleg (M: Eldh, T: Cadotsch), 06. Bloody Break Up (M: Cadotsch, Slavin, T: Cadotsch), 07. In The Zone (M: Hanno Stick, Cadotsch, Slavin, T: Cadotsch), 08. So long (M: Cadotsch, Slavin, T: Cadotsch)
Lucia Cadotsch - voc, Wanja Slavin - rec, fl, synth, p, perc, sax (6,7, 8), tp (7), Bernhard Meyer - bg (1,5,6), Noah Fürbringer - dr (1,2, 4), perc (3), Fabian Rösch - perc (1,3,6), dr (2,4, 6), James Maddren - dr (5), Hanno Stick - dr (5,7), g, bg, synth (7), Magnus Schriefl - tp (4,6, 8), Hendrika Entzian - cond 13 piece string orchestra expt (5,6)
rec. 05/2022, 04/2023, 05/2024
Heartcore Records D-HCR-29
Gäbe es im Jazz so etwas wie „Das Neue Kunstlied“, diese Produktion gehörte unbedingt in diese (einstweilen fiktive) Gattung. Und das, obwohl hierin dezidiert auch drei Standards enthalten sind.
Richard Williams, von dem die liner notes stammen, hat recht:
„Die Standards beginnen wie eigene Kompositionen zu klingen und umgekehrt.“
Für den Leiter des Jazzfest Berlin (2015-2017) war der 1979 in Chemnitz geborene Ronny Graupe der Einstieg in die ihm bis dahin unbekannte Berliner Jazzszene, seinerzeit mit dem Trio Hyperactive Kid (Philipp Gropper, ts, Christian Lillinger, dr).
Graupe hat u.a. an einer der europäischen Kaderschmieden des Jazz studiert, am Rytmisk Musikkonservatorium in Kopenhagen (wie übrigens auch Lucia Cadotsch).
Die Sängerin und der Gitarrist kennen sich, laut Williams, aus einer Country-Folk-Band namens Yellow Bird; aus einer Streaming-Concert-Reihe während der Covid-19-Pandemie blieben die beiden als Duo übrig, das sich zunächst (siehe oben) um Standards kümmerte. Irgendwann kam der inzwischen in Berlin ansässige Kit Downes dazu. Und weitaus lohnender, als der Semantik der Titel nachzugehen (Szelest steht im Polnischen für Rascheln, der Titel des Albums „Newfoundland Tristess“ bleibt unerklärt; eine spezifische, in diesem Teil Kanadas anzusiedelende Traurigkeit stellt sich beim Hören nicht ein); viel lohnender ist es, der Instrumentierung sich zu widmen.
Der Bandleader nämlich bedient eine 7-saitige Gitarre (mit einer zusätzlichen, tiefen B-Saite). Er setzt das Instrument in einer sehr un-gitarristisch wirkenden Vielfalt ein, meist nicht-elektrisch. Mitunter meint man, ein Hackbrett (ungarisches Label!) zu hören.
So jedenfalls scheint schon der opener angelegt, „Some other Time“ von Leonard Bernstein. Er ist rhythmisch in einem sehr kunstvollen rubato angelegt und bereitet die Bühne für die vielen kleinen Preziosen, die dann folgen (auch diese wenig mit Beat, von swing ganz zu schweigen).
Das Titelstück hat nichts von Tristesse. Die Eigenschöpfung von Graupe/Cadotsch, in der die Gitarre zusammen mit dem Piano fast in Bach´scher Manier fortschreitet, überrascht mit einer ausgesprochen heiteren „la, la, la“-Passage.
Cadotsch´s Stimme, immer cool wirkend, erklingt hier in Stimmdopplung.
Wer unbedingt Vorläufer für dieses Projekt sucht, mag es vielleicht vor Jahrzehnten bei den Art Bears, einem Ableger von Henry Cow, finden.
Das Graupe-Trio agiert aber noch durchtriebener, mit unerwarteten Akkorden, oft wenig jazz-like, überraschenden Formen.
Das jazzigste Stück von allen, „Vorbei“, haucht ein wenig von den „spanischen“ Momenten zwischen Chick Corea und Al DiMeola. Es haucht, es zitiert nicht; Momente sind damit assoziativ beschrieben aus einer Produktion von ebenso großer Kohärenz wie Vielfalt.
Eine verwandte, eine beeindruckende Fortführung des Triokonzeptes von Speak Low vor einem Jahrzehnt.Auch „Does It Make You Love Your Life?“ ist eine Fortführung, eine personell und konzeptionell unmittelbare Fortführung von „Lily of the Nile“ (2021/22).
Nun freilich stilistisch und produktionstechnisch entschiedener in Richtung Pop.
Um es vorwegzunehmen: auch dies wie (siehe oben) ein großer Wurf.
Liun + The Science Fiction Band kreist um ein anderes Duo von Lucia Cadotsch, nämlich mit dem aus Freiburg stammenden, vom versierten Altsaxophonisten („Amok Amor“) zu einem Multi-Instrumentalisten und Produzenten gereiften Wanja Slavin.
Ein gewisse formale, nicht inhaltliche Parallelentwicklung zwischen ihm und dem ebenfalls in Berlin wirkenden Petter Eldh ist nicht zu übersehen.
Der Anfang des Albums ist Großes Kino: riesige Hallräume. Aber schon nach zwei Takten einer Streicherfigur gerät man Habacht-Stellung: das Tempo sinkt auf die Hälfte, im nächsten Durchgang folgt auf der Zählzeit „4“ ein „falscher“ Akkord.
Gesang setzt ein, kleine ostinati „eiern“ durch den Raum, sie bewegen sich in variablen Tempi.
Das ganze Intro wird - gefiltert - wiederholt, es erklingt wie aus weiter Ferne - erst dann setzt der Song richtig ein, „ganz vorne“. Mit einer von etlichen hooklines, die das Album durchziehen.
In den viereinhalb Minuten von „Speak to me“ wird, pardon, schon vieles ausgesprochen, was dieses Album auszeichnet: süffige Melodien, loops, Tempospielereien, reiche Ausgestaltung von details, unterschiedliche Klangräume, eine tendenziell eher „britische“, eher an „verwaschenen“ Klangbildern als an „Transparenz“ interessierte Klangästhetik.
Am Vorgängeralbum „Lily of the Nile“ (2021/22) waren schon Bläser beteiligt, jetzt ist es ein 13-köpfiges Streichorchester unter Leitung von Hendrika Entzian.
Das ist intelligente Popmusik, komponiert und arrangiert von JazzmusikerInnen.
Kein Zufall, dass Catosch & Slavin mit „Daddy Longleg“ auf strukturelle Vorgänger zurückgreifen können, nämlich auf selbiges Stück aus dem Album „Pretty Frank“ (2010) von Schneeweiss Und Rosenrot, ein Quartett, dem neben Lucia Cadotsch auch Petter Eldh angehörte.
Wanja Slavin zaubert darin ein in Klang & Phrasierung frappierendes Synthi-Solo, das vermutlich so nur einem Saxophonisten in die Hände geraten kann.
Klanglich-struturelle Preziosen, wohin man auch hört: die rhythmisch-raffiniert geschnittenen loops im Intro von „Katze“, die lange, Beatles-artige Coda im selben Stück. Oder der Rhythmus, der nach einem Drittel von „Letters“ dank des Einsatzes der Quica als gut vorbereitete Samba entpuppt.
„Does It Make You Love Your Life?“, der Titel des Albums enthält eine rhetorische Frage, die man gerne auf replay stellt.
erstellt: 07.07.25
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