ELDH/LILLINGER/SLAVIN/EVANS Amok Amor *********

01. Manipulieren II (Eldh),  02. Amor, 03. Son of Engels (Slavin), Marx (Lillinger), 04. The Resistance (Eldh), 05. Rowk (Slavin), 06. Als Sozialist geboren (Lillinger), 07. Mani 3 (Elch), Achse des Guten (Lillinger),  08. Amok (Eldh)

Petter Eldh - b, Christian Lillinger - dr, Wanja Slavin - as, Peter Evans - tp

rec. 08/2014
Boomslang Records

Ein Schelm, wer bei dieser Besetzung nicht an Ornette Coleman denkt (1930-2015), zumal in dessen Todesjahr, wer nicht z.B. an dessen beide Alben von 1959 denkt („The Shape of Jazz to come“ und „Change of the Century“). Sie haben seinen Ruf als Jazz-Klassiker begründet.
Die Besetzungen sind vom Instrumentarium her identisch, die Bezüge dieses deutsch-schwedisch-amerikanischen Quartetts zu Ornette Coleman nicht zu überhören - aber der instrumental-technische Abstand nach 55 Jahren ist gigantisch.
Handwerklich hätten die alten Recken aus den 50ern kaum eine Chance gegen diese Mittdreißiger aus dem 21. Jahrhundert. Hier kulminiert auf knapp 37 Minuten eine Entwicklung, von der allenthalben auch die als Instrumentalpädagogen tätigen Jazzmusiker berichten (jüngst Nils Wogram, der berichtet, manche seiner Schüler in Luzern spielten seine Übungen besser als er selbst).
Also, wir sprechen hier vom stetig steigenden handwerklich-technischen Niveau der Jazzmusiker - und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks.
Der Ausnahme-Status von Peter Evans, 34, ist spätestens seit dem Überschall-Jazz von Mostly Other People Do The Killing bekannt. Evans beherrscht Zirkular-Atmung auf der Trompete, er produziert ein hochtouriges Schnattern & Flattern, wie man es sonst nirgends hört, seine Performance ist nicht mehr nur mitreissend, sie ist Alarm.
cover amokJa, wenn man den Inhalt dieser CD auf Zuruf verknappen sollte, müsste man schreien: Fanfare Ciorcalia meets Ornette Coleman.*
„Amok Amor“ hat etwas Balkanisches: es klingt streckenweise wirklich so, als hätte die schnellste Roma-Bläserkapelle aus Rumänien Jazz a la Ornette Coleman sich einverleibt, oder umgekehrt.
Die Attacke hält einen kaum auf dem Stuhl.
Frappierend daran auch die Wandlung des Berliner Trios Starlight in ein europäisches Spitzenensemble, vielleicht auch darüber hinaus.
Die deutsche Jazzwelt verfügt mit Robert Landfermann/Jonas Burgwinkel in Köln und Petter Eldh/Christian Lillinger in Berlin über zwei staunenswerte Rhythmusgruppen, ja stilistisch verschieden, aber musikalisch-handwerklich auf ähnlichem Top-Level (wobei der Schwede Eldh des öfteren auch mit Burgwinkel spielt, zuletzt in Köln im Trio mit Benoit Delbecq).
Hier sind Teams herangewachsen, die den meisten aus Amerika ebenbürtig sind. Und eine eigene Note pflegen. Denn was sich hier rhythmisch abspielt, von frei-metrisch bis groove-switching zwischen völlig abgedrehten patterns, dafür findet man auch in Amerika so schnell keine Entsprechung. Polyrhythmik und Polymetrik bis zum Abwinken.
Man täusche sich nicht, wenn die beiden Bläser einander abwechseln, ja geradezu jagen (das Uraltmuster des call & response taucht hier häufig auf) in großer Expression (und der Wahlberliner Wanja Slavin, 33, auf dem Alt als shouter wunderbar mithält) - die Rhythmusgruppe fummelt sich nur gelegentlich frei-metrisch durch, sie spielt auch in hohen Tempi festgelegte patterns, meist in ungeraden Metren, die sich nur schwer zählen lassen.
Man fasst es nicht, was hier los ist.
Man möchte schreien, wenn anno 2015 ganze Heerscharen einem retro-Onkel wie Kamasi Washington zu Füßen liegen und darin auch noch mehr als nur eine Plünderung des Jazzkatalogs zu erkennen meinen.
Hier, bei Amok Amor, wird verhandelt, was den Jazz im 21. Jahrhundert ausmacht: großes, geradezu überschäumendes Handwerk, engmaschige Verzahnung der Stimmen, rhythmische Rasanz und Vielfalt, wie sie kein anderes Genre kennt.
Vielen wird das zu kalt, zu technisch sein, sie werden ein Narrativ jenseits der Musik vermissen, eine schöne Erzählung, die sie wohlig umhüllt und ihnen bestätigt, dass sie mit dieser Musik auf der richtigen Seite der Geschichte gelandet sind.
Amok Amor kennt kein Narrativ außer sich selbst, außerhalb der Musik. Das mag man auch an den Stücketiteln ablesen (manche übrigens sind neue Varianten bereits vorhandener Einspielungen). Wer ein Stück nach den „Sons of Engels“ des kinderlosen Friedrich Engels (1820-1895) benennt, nach Karl „Marx“ (1818-1883), wer atemberaubendes groove switching „Als Sozialist geboren“ tauft oder George W. Bush paraphrasiert („Achse des Guten“), der zeigt soviel Selbstironie, dass er irgendeine „Haltung“ mit seinem Kunstwerk nicht verbinden muss.
Warum, verdammt noch mal, erhält „Amok Amor“ nur ********* und nicht die Höchstwertung?
Weil Eldh/Lillinger/Slavin/Evans ausser der kaputten Kindermelodie von „Mani 3“ (die in anderer Fassung Teil von Petter Eldh´s neuer (Pop)EP ist) wenig im Bereich gedämpfter Tempi und Drive anbieten.
Immer nur Vollgas ist auch nicht der wahre Jakob.


erstellt: 27.11.15
©Michael Rüsenberg, 2015. Alle Rechte vorbehalten
*PS 30.11.15:
Peter Evans akzeptiert diesen Slogan. Er kennt Fanfare C. und andere schnelle Blechbläser vom Balkan.