ANTONIO SANCHEZ Migration ********
01. One for Antonio (Corea), Did you get it? (Antonio Sanchez). 03. Arena (Metheny), 04. Challenge within (Sanchez), 05. Ballade, 06. Greedy Silence, 07. Inner Urge (Joe Henderson), 08. Solar (Miles Davis)
Antonio Sanchez - dr, Chris Potter - ss, ts; David Sanchez - ts, Scott Colley - b, Pat Metheny - g, Chick Corea - p
rec 10.+11.01.2007
ZYX/Cam Jazz CAMJ 7804-2
Eine modische Lesart, wie vorgetragen z.B. vom vormaligen Leiter des Jazzfest Berlin, Peter Schulze, will den Jazz gerne als "Musik von Migranten" verstehen. Eine so formale Auffassung will länger diskutiert sein; obgleich der Titel dieser Produktion in diese Richtung zu weisen scheint, stellt sich freilich nicht ein Hauch von Assoziation dazu ein. Denn wie auch immer man die Bewegung bezeichnen mag, die Antonio Sanchez von Mexico City (wo er 1971 geboren wurde und wo er klassisches Piano studiert hat) nach Boston (wo er Berklee "summa cum laude" abgeschlossen hat) und schließlich nach New York geführt hat - auf diesem Album, seinem Debut als Bandleader, präsentiert er sich nicht als Migrant, sondern ein von allen Wurzeln befreiter jazzman, der seit mehr als einem halben Dutzend Jahren in Top-Ensembles verkehrt, denen von Pat Metheny, Michael Brecker und Chick Corea.
Bekannt ist Sanchez´ große Vorliebe für Tony Williams; zu hören ist dieser Einfluß nur bedingt, allenfalls in den schnellen Mustern auf dem ride cymbal, gar nicht auf den toms. Sanchez treibt auch, aber mit weniger Druck und mehr Varianten.
Manchmal will er einem vorkommen wie ein ins Latinfach gewechselter Bill Stewart, so klar, sauber und filigran erklingen seine Figuren. Dann wieder erscheint sein Spiel viel räumlicher (was auch der exzellenten Aufnahmetechnik, durch Joe Ferla, geschuldet sein mag).
Sanchez gibt den Clou seiner Besetzung, die Sache mit den beiden Tenören, nicht sogleich, sondern erst mit dem zweiten Stück zum Besten. Fürs erste, "One for Antonio", hat sein neuer Trio-Boß Chick Corea, ihm einen simpel erscheinenden Sketch aufgeschrieben, der - basierend auf einem 4-Töne-riff - mit einem groove switching der Extraklasse durchdekliniert wird: es steht in 4/4, wird aber auch in 3/4 moduliert und schließlich in eine Samba.
Ähnliche rhythmische Modulationen finden wir in "Greedy Silence", wo ein noch variationsreicherer Parcours durchfahren wird; bei 5:35 hupen die beiden Tenöre einen Pseudoschluss, David Sanchez (mit Antonio nicht verwandt) führt überaschend frei-metrisch weiter, dann in einen uptempo swing. Bei 8:32 leiten Potter & Sanchez tatsächlich das Schlußthema ein - und sie halten die Spannung, bis das Stück nach 10:46 endgültig ausklingt.
Die ganze Kraft & Herrlichkeit der heutigen Jazz-Rhythmik ist hier versammelt (von der manche auch in Europa wissen, aber ganz bestimmt nicht der Herr Esbjörn und seine Svenssons.)
Pat Metheny hat Antonio Sanchez eine Ballade geschrieben ("Arena"), die gemächlich wie beim frühen Larry Coryell angeht und sich mit sanft insistierender Bewegung langsam hochschaukelt.
Auch hier wird der Schluß "von langer Hand" vorbereitet, in Form einer langen Coda mit Latin-Flavour und einem meisterhaften Solo von Chris Potter. Gefolgt von einem Latin-Blues, "Challenge within".
Die Produktion schließt mit zwei Standards, "Inner Urge" von Joe Henderson, wo die Tenoristen, angetrieben vom Bandleader, noch einmal kollektiv und solistisch ihren ganzen Apparat ausfahren.
"Solar", ausgeführt nur von Antonio Sanchez und Pat Metheny, wirkt eher wie eine Paraphrase auf das Original, es ist vielmehr eine Studie in Interaktion.
Ein schönes Finale für eines der besten Debüt-Alben seit Jahren!
erstellt: 09.12.07
©Michael Rüsenberg, 2007, Alle Rechte vorbehalten