JOACHIM KÜHN Birthday Edition

Trio Kühn Humair Jenny-Clark *********
01. Pastor (Portal), 02. Easy to read (J. Kühn), Heavy Birthday, 04. Heavy Hanging, 05. Guylene (Humair, Kühn), 06. More Tuna (Kühn)
Joachim Kühn - p, Jean-Francois Jenny-Clark - b, Daniel Humair - dr

rec. 06.11.1987 (01-03), 03.11.1985 (04-06)


Europeana ****

Radio Philharmonie NDR, Michael Gibbs - conduc, Joachim Kühn - p, 
Jean-Francois Jenny-Clark - b, Jon Christensen - dr

rec. 09. - 11.1994

ACT 6017-2, LC 07644


KÜHN & KRUGLOV Moscow *******

01. Poet (Kruglov), 02. Because of Mouloud... (Kühn), 03. Waltz for you (Kruglov), 04. Researching has no Limits (Ornette Coleman), 05. Desert Flower (Kühn), Homogeneous Emotions (Coleman), 07. Colourful Impressions (Kruglov, 08. Phrasen (Kühn)

Joachim Kühn - p, Alexey Kruglov - as
rec. 05.11.2012
ACT 9623-2, LC 07644


Joachim Kühn ist am 15. März 2014 70 geworden. Er gilt das der deutsche Jazzpianist Nr. 1; eine Bewertung, im Umkreis der Huldigungen anlässlich des runden Geburtstages wiederholt, die man gut begründen kann. Als Hauptargument wird in erster Linie sein internationaler Ruf angeführt. Der ist unstrittig - und wird wohl auch noch eine Weile halten.
Nachfolgen könnte ihm in dieser Position - seien wir ein wenig keck, und vorausgesetzt, er kommt weiterhin so gut an - sein Labelmate Michael Wollny. Er wird als „vielseitig“ gerühmt, ebenso wie Kühn (den Wollny im Rahmen seines Studiums ausgiebig analysiert hat).
Kühn & Wollny aber sind sehr komplementäre Talente, die beide verbindende Eigenschaft der Vielseitigkeit besagt herzlich wenig, denn der eine hat im Übermaß, über was der andere kaum verfügt, möglicherweise auch gar nicht braucht: eine Handschrift als Pianist.
Welcher Stil auch immer angesagt sein mag, sobald jemand kommt, der mit der rechten perkussiv perlende Muster schlägt, die auch in hohen Tempi, kurz bevor sie zu einem Cluster zu verschwimmen drohen, noch sauber durchphrasiert sind und mit der linken schwere Blockakkorde dagegensetzt oder auch ihrerseits staccato Linien - dann kann das nur Joachim Kühn sein. Die scharf gemeisselten Figuren, die unabhängigen Rhythmen der Spielhände, ihre unterschiedlichen Tempi, je schneller desto doller, sind phänomenal.
cover-kuhn-kroglovEs gibt eine Passage in „Rearching has no Limits“ (auf „Moscow“), da ist man fast enttäuscht, als Kühn wieder ins Thema führt - es hätte noch ein Viertelstündchen so weiter gehen können; er ist so in Fahrt, ihm wäre genügend eingefallen.
Dass er an dem 35 Jahre jüngeren russischen Saxophonisten Alexey Kruglov spontan Gefallen gefunden hat, glaubt man gern. Spielt der doch Kühns Zweitinstrument, das Altsaxophon, auf dem er freilich nie auch nur annähernd einen so resoluten Ausdruck erzielt hat wie am Piano (übrigens auch in der elektrischen Variante, Joachim Kühn  war ein exzellenter Fender-Rhodes-Spieler).
Da wir nun schon mal das Pferd von hinten aufzäumen und die jüngste Produktion zuerst besprechen: sie kommt spät in Fahrt, namentlich aber in den beiden Ornette Coleman-Nummern, wo auch Kruglov erheblich an Expression zulegt.
Insbesondere in der furiosen Solo-Kadenz von „Colourful Impressions“ wächst er zum alter ego von Joachim Kühn heran. So hätte der alte das Alt sicher gerne auch gespielt. Auffällig, dass „Moscow“ von kräftigen Farben dominiert wird, von forte, und piano dem wenig gegenübersteht, auf gut Deutsch die Produktion in puncto Balladen unterbelichtet ist. Kommt hier vielleicht ein charakteristisches Merkmal Kühns zum Ausdruck?
cover-kuhn-european aAuch die erste Hälfte der Birthday Edition zeigt: Joachim Kühn ist ein Mann der Attacke, weniger einer, der - wie die Formulierung so schön lautet - „dem Klang des Flügels nachlauscht“, der große Balladenspieler ist er nicht. Der perkussive Anschlag, die schnelle Wendung, immer sehr jazzmäßig phrasiert - das ist sein Metier.
Auf dieser ersten CD, aufgenommen bei den Jazzfesten Berlin 1987 und 1995, ist Kühn mit der wohl besten Rhythmusgruppe seiner langen Karriere (und einer der besten Europas) unterwegs, mit Daniel Humair und dem unvergessenen Jean-Francois Jenny-Clark (1944-1998).
Dessen einerseits sehr „holzig“ schnarrender, anderseits mit viel vibrato durchsetzter Kontrabass-Stil war einmalig, und diese Combo im vollen Fluge zu erleben (z.B. „Heavy Birthday“ oder „Guylene“) ein großer Genuss.
Diese beiden Mitschnitte aus den Archiven des SFB bzw. RBB an die Öffentlichkeit befördert zu haben, ist gewiss eine editorische Leistung. Womit sie aber hier unter das Doppel-CD-Dach der Birthday Edition gepfercht wird, ist eine editorische Fragwürdigkeit sondergleichen.
Denn wenn eines Tages die Sonne hinter Ibiza ewig versinkt, wird sich der Nachruhm Joachim Kühns wohl kaum auf seine Rolle als Komponist oder Konzeptkünstler stützen, sondern auf den Interpreten, Interpreten, Interpreten mit der unverwechselbaren Handschrift am Piano.
„Europeana“ ist demgegenüber ein naives Ständchen klingender Kulturpolitik, woran der konzeptionelle Anteil Kühns unklar bleibt: 13 Volkslieder aus verschiedenen Ländern Europas, Gil Evans-artig zu einer der berüchtigten „Jazz-Sinfonien“ arrangiert von Michael Gibbs, garniert mit Piano-Einsprengseln von Joachim Kühn und Gastauftritten von Klaus Doldinger bis Django Bates, von Albert Mangelsdorff bis Richard Galliano.
Dass Europa vier Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Osten nur bis Finnland reicht, wird nicht nur Sarah Wagenknecht für eine Eselei halten. Warum dieses, laut Auskunft des Produzenten Siggi Loch Kühns „erfolgreichstes Projekt im ACT-Katalog“, noch einmal aufgelegt werden musste, erschließt sich nicht.
Eine editorische Glanzleistung wäre gewesen, hätte Loch an dieser Stelle noch einmal eine Produktion von Joachim Kühn für Atlantic zugänglich gemacht, wofür er ihn in den 70er Jahren verpflichtet hatte.

erstellt: 18.03.14
©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten