MILES DAVIS Miles at The Fillmore **********
Miles Davis 1970: The Bootleg Series Vol. 3



CD 1
Fillmore East, 17.06.1970
01. Introduction by Bill Graham, 02. Directions (Zawinul), 03. The Mask (Miles Davis), 04. It’s About That Time , 05. Bitches Brew, 06. The Theme
Fillmore West, 11.04.1970
07. Paraphernalia (Wayne Shorter), 08. Footprints.
CD 2
Fillmore East, 18.06.1970
01. Directions (Zawinul), 02. The Mask (Miles Davis), 03. It’s About That Time , 04. Bitches Brew, 05. The Theme, 06. Spanish Key, 07. The Theme
CD 3
Fillmore East, 19.06.1970
01. Directions (Zawinul), 02. The Mask (Miles Davis), 03. It’s About That Time , 04. I fall in Love too easily (Cahn, Styne),  05. Sanctuary (Shorter), 06. Bitches Brew (Davis), 07. The Theme
Fillmore West, 11.04.1970
08. Miles runs the Voodoo down
CD 4
Fillmore East, 20.06.1970

01. Directions (Zawinul), 02. The Mask (Miles Davis), 03. It’s About That Time , 04. I fall in Love too easily (Cahn, Styne), 05. Sanctuary (Shorter), 06. Bitches Brew (Davis), 07. Willie Nelson, 08. The Theme

Fillmore East
Miles Davis - tp, Steve Grossman - ss, ts, fl, Chick Corea - ep, Keith Jarrett - org, Dave Holland - b, bg, Jack DeJohnette - dr, Airto Moreira - perc, fl, voc

Fillmore West
Miles Davis - tp, Steve Grossman - ss, ts, Chick Corea - ep, Dave Holland - b, bg, Jack DeJohnette - dr, Airto Moreira - perc

Sony/Columbia Legacy 88765433812,  LC 00162


Wer die ersten 20 Minuten dieser 4-CD-Box hört, dem mag sich ein frivoler Gedanke aufdrängen. Er ist eigentlich absurd, er dürfte gar nicht aus der Hörstube dringen, aber er ist auch durch Nichts zu unterdrücken - am wenigsten durch den Fortgang der Musik.
Es ist zum Schreien, zum Weinen, zum aus-der-Haut-Fahren...
aber im Grunde könnte man die Arbeit am Projekt „Jazz“ sofort einstellen: besser wird´s nicht. Der Jazz kann sich noch so voll pumpen mit Ideen aus anderen Welten, er kann (Jazz ist immer auch sein Gegenteil) aber auch Ballast abwerfen wie er will: in diesen 20 Minuten ist alles enthalten, was ihn ausmacht:
Resolutheit des Ausdrucks, Materialbeherrschung, Stilistik von swing bis free, Struktur des Zusammenspiels - all to the max!
Es ist Mittwoch, der 17. Juni 1970: Miles Davis im Fillmore East auf der Lower East Side/New York City, einem in den Jahren 1925/26 errichteten Theater, später Kino, damals - zusammen mit seinem Pendant in San Francisco - der Rocktempel schlechthin.
Miles im Vorprogramm der Sängerin Laura Nyro (1947-1997). Er ist nicht zum ersten Male im Fillmore East; ein paar Monate zuvor, am 7. März 1970, hatte er vor Steve Miller und Neil Young Premiere, das letzte Konzert seiner Band mit Wayne Shorter (dokumentiert auf der Do-CD „Live at the Fillmore East - It´s about that Time“, Columbia C2K85191, 2001).
Die vier Juni-Abende im Fillmore sind lange schon dokumentiert, zuletzt 1997 in einer ersten CD-Edition: „We have not attempted to issue the complete unedited sets. This is the LP version", schreibt Bob Belden dort. Alle vier sets liegen erst jetzt in vollständiger Länge vor, noch dazu neu gemischt, weil man Zugang zu den Original-8-Spur-Bändern hatte. Macht zusätzliche 100 Minuten nicht-veröffentlichte Musik, die seinerzeit wegen der Begrenzungen des LP-Formates herausgeschnitten werden mussten.
cover-miles-fillmoreDie editorische Arbeit 1970  war exzellent (Teo Macero!), aber was nun das Hören erheblich befeuert, ist, dass einzelne Instrumentalstimmen deutlicher herausgestellt werden können.
Davon profitieren hi-hat und snare von Jack DeJohnette, davon profitieren vor allem die beiden keyboard-Rollen: Chick Corea am Fender Rhodes (und Ringmodulator!) und Keith Jarrett an einer Orgel (nicht Hammond B 3). Die Klage, die letzterer über sein damaliges Instrument führt, ist jetzt noch weniger nachvollziehbar: die keyboard-Duos dieser vier Abende sind in der Jazzhistorie unübertroffen! Was für ein scharf-kantiges Gewusel, was für eine Dramatik der Einwürfe, was für Panorama der Klangfarben - und das rein elektro-akustisch, ohne jede Elektronik. Der Erfindungsreichtum von Corea & Jarrett, klanglich & strukturell, ist riesig.
Man hören nur den langen Übergang von „It´s about that Time“ zu „Bitches Brew“, diesen langen Übergang von frei-metrisch über rubato bis zum knalligsten Rock-Riff der ganzen Serie, „Bitches Brew“.
Der Mittwoch ist brillant, am Donnerstag hängt Dave Holland in „The Mask“ durch und intoniert auf dem Kontrabass erstaunlich unsauber (dass das booklet ihn nur mit „b“ aufführt und nicht auch mit „bg“ gehört zu den editorischen Nachlässigkeiten dieser Produktion, er ist auf Fotos deutlich mit beiden Instrumenten zu erkennen).
Auch die Flöte von Steve Grossman fehlt (im Text), er bedient sie nur gelegentlich, hauptsächlich Sopran- und Tenorsaxophon, und auf letzterem liefert er eine großartige Performance, mitunter in enger Anlehnung an Wayne Shorter tritt er mit tiefem Klageton ans Mikrofon.
Die Repertoire-Struktur der ersten beiden Abend ist identisch, die Dauer der Stücke variiert maximal bis zu zwei Minuten - frappierend für eine Performance „improvisierter“, nicht-notierter Musik. Oder, mit anderen Worten, die coded phrases, mit denen Miles die jeweils neuen Stücke indiziert, basieren auf einem erstaunlichen Macro-Timing.
Am Donnerstag gibt´s als Zugabe „Spanish Key“ (aus dem „Bitches Brew“-Album); und obgleich auch dies thematisch auf einem Rock-Riff basiert, wird es - wie fast alle Stücke - bis ins frei-metrische zerbröselt, wiederum unter großer Anteilnahme der beiden Keyboarder und des glänzend aufgelegten Steve Grossman.
Freitag und Samstag werden „I fall in Love too easily“ und „Sanctuary“ kurz dazwischen geschoben, ohne groß exponiert zu werden, der set am Samstag wird durch einen weiteren Rock-Knaller beschlossen, „Willie Nelson“.
Überhaupt Samstag, der 20. Juni 1970 im Fillmore East: ist das lediglich ein Positionseffekt des Hörens, oder liegen in der Performance an diesem Abend nicht doch Exzellenz & Dramatik im Übermaß?
Miles ist supergut dabei (wie überhaupt die Intonationsausfälle sich an diesen vier Tagen in engen Grenzen halten), in „It´s about that Time“ kommt es zwischen ihm und der Stimme Airto Moreira´s zu einem kurzen pattern-Austausch. Und dann wieder die beiden Keyboarder und diese Rhythmusgruppe: es vibriert, es fiebert und flackert ohne Ende - ein „metrumloses freies Spiel“, wie es Peter Niklas Wilson (1957-2003) in seinem Miles Davis-Buch (Oreos, 2001) bezeichnet.
Nicht nur diejenigen, die heutzutage (bis zu Brad Mehldau) an der Elektronik herumlärmen, können sich hier ihre Lektion abholen, auch die Kollegen aus der Freien Improvisation, die gerne von jetzt auf gleich explodieren, können sich hier schlauer machen:
im vermaledeiten Jazzrock von Miles Davis, der wie nebenbei nach links und rechts ausgreift und an ihrer Kernkompetenz rüttelt.
Michael Cuscuna, der bekannte Produzent, zeichnet für diese Re-Issue verantwortlich (zusammen mit Richard Seidel). Er hat einen ordentlichen Text geschrieben, der das musikalische Klima jener Jahre nachzeichnet (wo, man fasst es nicht, im Fillmore West offenkundig Roland Kirk vor Led Zeppelin gespielt hat und Cecil Taylor im Vorprogramm der Yardbirds!).
Aber Cuscuna verfügt nicht über die musikalische Kompetenz eines Bob Belden, und leider erklärt er auch nicht das Motiv für die Hinzunahme weiter 35 Minuten unveröffentlichter Musik auf den CDs 2 und 3, aus dem ersten Konzert der Band mit Steve Grossman am 11. April im Fillmore West in San Francisco.
Die Klangqualität ist, gemessen an den restaurierten East-Bändern, minderwertig, und man verspürt wenig Lust, nach den Höhenflügen aus dem Osten Miles aus dem Westen in Telefonqualität zu verfolgen.
Diese 35 Minuten klingen nun wirklich wie Bootlegs - wohingegen die gesamte Serie den Begriff nun schon zum dritten Male ad absurdum führt.

erstellt: 21.03.14
©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten