CHRISTIAN LILLINGER Open Form For Society *********
01. Piece for Up & Grand Piano and Ringmodulator (Lillinger), 02. Aorta, 03. Thür, 04. Titan, 05. Basel, 06. Sisyphos, 07. Überwindung, 07. Laktat, 08. Mocking, 09. Toro Koma, 10. Sog, 11. Triangular, 12. KFKA
Excerpts of open Form for Society (Improvisations)
14. One, 15. Two, 16. Three, 17. Four, 18. Five
Christian Lillinger - dr, Antonis Anissegos - p, Kaja Draksler - p, Elias Stemeseder - synth, p, Christopher Dell - vib, Roland Neffe - via, mar, glockenspiel, Lucy Railton - vc, Robert Landfermann - b, Petter Eldh - b, bg
rec. 30.07.-02.08.2018
Plaist 004
Dieses Album enthält keine liner notes - jedenfalls keine, die über die notwendigen discographischen Angaben hinausgingen.
Das unterscheidet diese Produktion von der Vorgängerin „Boulez Materialism“.
Schon in der Hauptsache selbst, der Musik - wie alle Lillinger-Projekte ein schweres Zeichen -, war dieses durch ein weiteres zusätzlich beschwert, nämlich die liner Notes in Form eines Essays von dem als Vibraphonist hoch begabten Christopher Dell.
Der als Texter aber immer wieder die Frage evoziert: „Was will er uns sagen?“
Ganz mochte der Bandleader Lillinger seinen Kollegen aus dessen zweiter Rolle diesmal aber doch nicht entlassen; zwar sind die liner notes nun frei von einem Dell-Text, dafür laufen dessen Gedanken aber als Banderole durch das zur Produktion gehörige YouTube-Video
Dort scheinen dann so wenig belastbare Sätze auf wie:
„Das Denken hat keinen Ort mehr im Neoliberalismus und die Kritik auch nicht“
sowie eine gedankliche Hilfe bei - na wem wohl? - Adorno.
Damit lässt Dell eine gute Chance verstreichen. Denn ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, bezieht Chistian Lillinger sich mit Titel & Tat dieses Albums auf einen anderen Philosophen, auf Karl Popper (1902-1994), einen Adorno-Gegner.
Das wäre doch die Gelegenheit gewesen, mit Hilfe von Adorno die Anspielung Lillinger´s auf das Popper-Werk „Die Offene Gesellschaft (und ihre Feinde“) auszuhebeln oder im Gegenteil Popper´s knappe Musikphilosophie auf das Geschehen im Studio hin zu befragen.
Ob sich hier, in dieser „Open Form for Society“, tatsächlich Prinzipien jener Offenen Gesellschaft nachweisen lassen, wie sie Popper 1945 weniger als Modell denn als Gesellschaftstechnik entwirft.
Es mag ja sein, dass diese 9köpfige Gruppe ihr Zusammenwirken den Tagen zwischen dem 30. Juli und dem 2. August 2018 im Studio „Clouds Hill Recordings“ zu Hamburg als so beglückend empfand, dass sie meinte, in nuce erfahren zu haben, was sie sich für die Gesellschaft im Ganzen wünscht.
Wie es der schöne Zufall will, hat sich das Philosophische Radio von WDR 5 fast zeitgleich zur Veröffentlichung des Lillinger-Albums mit dem Werk von Karl Popper befasst. Und wer das podcast hört, mag bei der Komplexität der Fragestellungen - wieder einmal - schmunzeln über die romantischen Gesellschaftsvorstellungen der improvisierenden Künstlerschaft.
(Wie immer träumen auf diesem Sektor die Vertreter der Neuen Musik viel lauter.
Beim Forum Neuer Musik im DLF Köln erklang laut FAZ vom 17.4.19 auf dem Podium die utopische Parole „Integration ist überholt in der Vielheitsgesellschaft“ - was jede Hauptschullehrerin bei Markus Lanz im ZDF mit Blick auf Essen-Karnap oder Berlin-Moabit um Luft ringen ließe…)
Halten wir uns an die die Hauptsache, an die Musik, die man unter jedwedem Titel genießen & bestaunen kann. Jawohl, denn Christian Lillinger gelingt hier die Forsetzung dessen, was wir an anderer Stelle als „Neubestimmung des FreeJazz“ bezeichnet haben.
Mit anderen Mitteln freilich.
Die tracks 1 bis 13 gehorchen, wie auch Mitwirkende berichten, kompositorischen Vorgaben, der Anteil der Improvisation ist gering.
Die Nähe zur Neuen Musik ist erkennbar, in den pointillistischen Flächen, in den denkbar jazz-fernen Themen, in den ryhtmischen Betonungen.
Inwieweit sie sich wirklich an Xenakis oder Boulez orientieren, erscheint für das Hören von geringer Bedeutung; das werden dereinst Musikwissenschaftler entschlüsseln.
Entscheidend ist der Eindruck der Abkehr von vielen vertrauten Formen des FreeJazz - und doch seine Zugehörigkeit dazu (nämlich als Erweiterung).
Lillinger spielt wie Lillinger. Eine solche rhythmische Konzeption kennt die Neue Musik gar nicht.
Im ersten track spielt Lillinger gar nicht. Im „Piece for Up & Grand Piano and Ringmodulator“ erklingen genau jene Tontrauben, wie sie für die Neue Musik, aber nicht für den Jazz typisch sind.
Den Titel muss man sich genau ansehen, denn Kaja Draksler bedient tatsächlich ein upright piano (ein Klavier), der Flügel dürfte von Elias Stemeseder gespielt werden, weil zu dessen Instrumentarium auch der Synthesizer gehört. Und der wiederum enthält einen Ringmodulator, der eben manche Töne sozusagen vernäselt - und auch verzerrt.
(Wenn´s hier in den HighEnd-Lautsprechern scheppert - nicht bei B&O oder sonstwo anrufen: das ist gewollt so.)
Auch in „Aorta“ schepptert es; die Verzerrungen aber sind klar als Injektionen des Synthesizers zu verstehen. Rhythmisch basiert „Aorta“ auf dem extrem dichten FreeJazz-Puls von Lillinger, aber thematisch entfaltet er hier, was den besonderen Charakter dieser Musik ausmacht, den man so will: den kompositorischen Anteil.
Es gibt kein Thema, das von einem Instrument vorgestellt würde; stattdessen wandern Kleinmotive in hohem Tempo zwischen den drei Tasteninstrumenten und den beiden Stabinstrumenten hin und her.
Es gibt - jazzmäßig gesprochen - stop times, also in diesem Falle kurzfristiges Aussetzen des Schlagzeugs.
„Aorta“ ist schon eine Attacke, „Titan“ setzt noch eins drauf, und „Laktat“ ist an Dringlichkeit kaum noch zu übertreffen. Glockenspiel und Bässe schreiten andeutungsweise in einer düsteren 4/4-Figur, obendrüber ein Gestöber aus 16tel und 32tel Partikeln, Polymetrik kann Spaß machen, so wuselt es in den Spielhallen von Las Vegas.
Die Hälfte des Stückes ist noch nicht vorüber - da ergreifen die wuchtigen 4/4 fast die ganze Band, Lillinger trommelt dagegen an, die Pianisten tun Nämliches mit Clustern.
Auch der nächste track, „Mocking“, verfügt ansatzweise über einen „Beat“, darüber purzeln peu a peu keyboard-Figuren in einer Verspielheit, wie man sie auch bei Elliott Galvin finden kann.
Fast ein jedes Stück glänzt durch eine spezifische instrumentale Konstellation.
So ist „Sog“ überwiegend ein Synthesizer-Solo, klanglich eher im Sinne der Elektro-Akustischen Musik und ohne jede „schöne“ Klangfarbe.
„Triangular“ erinnert an die 12-Ton-Kompositionen Frank Zappa´s für das Ensemble Modern, aber auch an dessen verquere Rhythmen vom Synclavier - nur, dass hier alles „von Hand“ ausgeführt wird.
Ganz ähnlich „KfkA“, das man auch auf YouTube hören kann.
Mit track 14, so legt die cover-Gesaltung nahe, verlässt man den überwiegend komponierten Teil und kommt zu den fünf Schlusstracks unter dem Titel „Excerpts of Open Form for Society (Improvisations)“.
Allein der Begriff „Improvisation“ im Titel verändert schon die Hörhaltung - und damit die Erwartung. Aber selbst wenn man dies nicht gewußt hätte, man könnte es bemerken.
„One“ reisst nach 4:15 einfach ab. Wir sollen dies also verstehen als einen Ausschnitt aus einem längeren Prozeß (dessen Anfang und Ende wir nicht kennen.)
So attraktiv einzelne Strukuren in diesen fünf letzten Stücken auch sein mögen (beispielsweise die tiefen, gestrichenen Bässe in „Three“) - es stellt sich nach und nach der Eindruck einer geringeren Steuerung ein, ein Plus an Zufälligkeiten - und in summa der Eindruck einer geringeren Variationsbreite.
Damit wir uns nicht mißverstehen: das sind knapp 20 Minuten auf hohem Niveau; viele kämen vor Freude nicht in den Schlaf, würden sie über ein solches Spiel gebieten.
Aber hier fällt es ab. Christian Lillinger hätte nach track 13 den Sack zumachen sollen.
erstellt: 18.04.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten