EVAN PARKER & MATTHEW WRIGHT TRANCE MAP+ Crepuscule in Nickelsdorf ********
01. Crepuscule in Nickelsdorf, Part 1, 02. Crepuscule in Nickelsdorf, Part 2, 03. Crepuscule in Nickelsdorf, Part 3, 04. Crepuscule in Nickelsdorf, Part 4, 05. Crepuscule in Nickelsdorf, Part 5, 06. Crepuscule in Nickelsdorf, Part 6, 07. Crepuscule in Nickelsdorf, Part 7
Evan Parker - ss, Matthew Wright - turntable, live-sampling, Adam Linson - b, electronics, John Coxon - turntable, electronics, Ashley Wales - electronics
rec. 22.07.2017 at Nickelsdorfer Konfrontationen
intakt CD 329/2019
Evan Parker ist ein Fuchs. Er erklärt die Gans einfach zur Ente.
So ungefähr könnte eine Übersetzung der Schlaumeierei lauten, die Bill Shoemaker im booklet von Parker ausbreitet.
„Es ist die gängige Überzeugung, dass ein ´freier Improvisator´ weit entfernt, wenn nicht sogar das genaue Gegenteil von einem ´Komponisten´ist. Indem er die Improvisation zur Kompositionsmethode erklärt, überbrückt Evan Parker diese Kluft.“
Es gehört zu den urkomischen Denkübungen in der Jazzwelt zu glauben, die Monstranz des Genres, die Improvisation, könne man bei bestimmten Gelegenheiten durch Umkettiketieren zum Verschwinden bringen.
Eine solche Gelegenheit ergibt sich z.B. bei der Tantiemen-Abrechnung.
In Wirklichkeit verschmäht Evan „Fox“ Parker nämlich die Ente.
Der Referenzsatz bei Shoemaker lautet: „Gleichwohl bezeichnet er (Evan Parker) seine Stücke selbst selten als Kompositionen, ausser zu Veröffentlichungszwecken.“
Eben. Die Verwertungsgesellschaften (die GEMA beispielsweise) fordern Gehorsam für ihre Parameter der Leistungserfassung, und deren Hauptkategorie ist nun mal die Komposition. Ein jeder weiß, dass es sich in ihrem Verständnis nicht um eine streng musik-ästhetische Kategorie handelt.
Der ehemalige Chefredakteur von downbeat, Shoemaker, gibt aber keine Ruhe. Er berichtet, dass Trance Map+, ein zum Quintett erweitertes Ensemble, „Material und Verfahren“ aus früheren Studiobegegnungen einsetzt und verweist dann wiederum auf den wahren Charakter des Unternehmens, die Musiker verstünden es, „die Entfaltung einer Improvisation aufrechtzuerhalten, ein heikles Vorhaben in einem elektronisch ausgerichteteten Ensemble…“
Da hat er recht.
Und mehrere Beispiele der jüngsten Vergangenheit (ausgenommen Philip Zoubek) sprechen beredt für diese Annahme. Man darf gespannt sein, ob z.B. Craig Taborn (er bringt im September mit der Rhythmusgruppe von The Bad Plus gleichfalls bei intakt eine Produktion heraus) der Aufgabe sich gewachsen zeigt.
Wer mit elektro-akustischem Gerät improvisiert (auf diesen Terminus muss man sich hier einigen, denn „turntables“ sind nun mal keine elektronischen Klangerzeuger, und allein zwei turntablists sind hier vertreten), hat andere Zugriffszeiten als analoge Instrumentalisten auf ihr Gerät; er kann mitunter nicht so schnell Veränderungen initiieren wie Evan Parker mit seinem Sopran-Saxophon.
Die hier Beteiligten habe sich offenkundig auch auf einen spezifische Ausschnitt des riesigen Klangkosmos geeinigt, in dem sie ohne Selektion hätten versinken können.
Adam Linson hat Erfahrung mit Parker aus dessen Electro Acoustic Ensemble, John Coxon und Ashley Wales alias Spring Heel Jack haben bei „Evan Parker with Birds“ mitgewirkt, und Matthew Wright ist ihm durch das Vorgänger-Album „Trance Map“ (2008-2011) verbunden.
Die Herren kennen sich. Sie schöpfen aus gemeinsamer Erfahrung - dies auch materiell: Wright beispielsweise speist Parkers Saxophon aus diversen Konserven ein, es tritt live in Erscheinung und auch in live transformierter Form.
Es mag banal klingen, aber sprachlich bleibt keine andere Wahl als die Klangkosmos-Selektion dieser fünf Musiker mit „Vögel & Insekten“ zu charakterisieren. Es ist eine unbefriedigende sprachliche Annäherung an das, was hier selbstverständlich nicht als Illustration realisiert wird.
Anders lassen sich die vielen tremolierten Klänge, die vielen Klangspratzer nicht beschreiben, durch die schnatternd, flötend, fiepend die Girlanden von Evan Parker´s Sopransaxophon zutzeln.
Die Herren verstehen was von Dramaturgie.
Sie lassen´s ruhig angehen, in einem sehr langsam sich entfaltenden crescendo, das erst im dritten track, nach mehr als einer Viertelstunde, seine Verdichtungen ausschnüttet.
Stehen bleibt, als Übergang zu „Part 4“, ein zuckendes Pfeifen - und nun erst öffnet sich der Klangraum auch nach unten, zu tiefen Frequenzen.
Das ist sowas von brillant geschichtet, dass man es sich fast nur als „komponiert“, als geplant, vorstellen kann.
Aber (fast) alle Welt, die sich je auf Improvisation eingelassen hat, weiß, dass das Unerwartete in Formen sich melden kann, die sprachlos machen.
Zu einem ähnlichen Höhepunkt schaukelt sich „Part 5“ auf, wo ein tiefes Scharren, ein tiefes Murmeln, ein tiefer Flackerpuls sich ausbreiten; wahrscheinlich ausgelöst von Linson´s gestrichenem Kontrabass.
Die darf man sich keineswegs als Solo vorstellen, das ganz Ensemble, dominierend vielleicht Parker, ist fast durchgängig präsent.
Und dazu gehört auch … Pausieren. Nicht alle sprechen unentwegt.
Der großartige Ensemble-Eindruck dieses Quintetts ist ohne Schweigen gar nicht denkbar.
Mit 58:47 Dauer eine faszinierende Stunde improvisierter Elektro-Akustischer Musik.
"Crepuscule", Zwielicht, ist dafür eine treffsichere Metapher.
erstellt: 11.07.19
©Michael Rüsenberg, 2019. Alle Rechte vorbehalten