IMMANUEL WILKINS The 7th Hand *******

01. Emanation (Wilkins), 02. Don’t Break, 03. Fugitive Ritual, Selah, 05. Shadow, 06. Witness, 07. Lighthouse, 08. Lift

Immanuel Wilkins - as, Elena Pinderhughes - fl (5,6), Daryl Johns - b, Kweku Sumbry - dr, Micah Thomas - p, mellotron, Farafina Kann Percussion Ensemble (2)

rec. 2020 (?)
Blue Note CD 00602438326501

Das Album hat eine gute Presse, zurecht.
Zu großen Teilen wohl auch, weil es daherkommt mit einem information overload. Wer das Cover betrachtet (eine Taufszene), wer die zahlreichen Rezensionen liest, angefüllt mit Bekenntnissen (hier trifft der Begriff zu) des Künstlers, dessen Hörperspektive wird auf spiritual jazz geeicht.
Obwohl Immanuel Wilkins (und hier weicht er stark ab von seinem historischen Vornamensvetter aus Königsberg) lieber von „sakraler Musik“ spricht. Er ist Mitglied der Pentecostal Church of God in Christ, also einer Pfingstgemeinde, und hat ihren Gesang in der Kirche in seiner Heimatstadt Philadelphia schon als Jugendlicher am Piano begleitet.
Der Titel des Albums stammt aus dem Buch von Ezechiel, wo Gott Ezechiel befiehlt, einen Altar mit den Maßen "sechs Ellen und eine Handbreit" zu bauen.
Nicht verwunderlich, dass er sich und seine Kollegen als „vessel“, als Gefäß sieht, in die eine höhere Macht ihre Eingaben macht. Die sie dann lediglich ausführen.
Wilkins hat andererseits an der Juilliard School of Music studiert, dort sein enormes Handwerk geschärft und sehr diesseitige Formen seiner Musikgattung kennengelernt, durch Wynton Marsalis, aber auch - wie später zu zeigen sein wird - durch Wayne Shorter und Miles Davis.
Also, schwere Zeichen. Insbesondere für den/die, die gerade noch von der Idee des Musikphilosophen Matthias Vogel infiziert sind, „Musik als Musik“ wahrnehmen zu wollen, also zu ihrem Kern vordringen zu wollen. Mithin die ganzen Girlanden weghören zu müssen.
Und dann zeigt sich: Immanuel Wilkins macht nichts neu, aber das macht er sehr gut.
Er ist erst 24, ein energetischer, brillanter Altsaxophonist, der beste seit Kenny Garrett. Und Kollegen mit langen Ohren, wie der (Tenor)Saxophonist J.D. Allen, wollen eine noch größere Affinität zu James Spaulding, 84, entdeckt haben.
Was ihn ausmacht, sind expressive Werte.
Und zu denen gelangte er wohl kaum ohne sein bemerkenswertes Team, das ihn auch schon auf seinem Debüt „Omega“ (2020) unterstützt.
cover wilkinsAls erster fällt auf Micah Thomas. Es dürfte derzeit keinen zweiten weißen Pianisten geben, der so kompetent über die Formsprache eines McCoy Tyner verfügt, ohne epigonenhaft zu wirken.
Die Soli der beiden setzen den Post Bop opener „Emanation“ unter Feuer; unter Thomas´ Solo schalten sie langsam zurück ins halbe Tempo. Und gehen von einem swing nahtlos über in die afro-kubanischen 6/8 von „Don´t break“.
Das klingt so verdammt gut, dass manche es für neu halten - vor allem, wenn die fünf Perkussionisten von Farafina Kann aus einem vamp heraus die letzten 45 Sekunden allein grooven.
Sie stehen unter Leitung von Kweku Sumbry, der ansonsten mit Daryl Johns eine hoch-dynamische Rhythmusgruppe bildet.
Es folgen drei Balladen: „ Fugitive Ritual, Selah“, ein anmutiger slow Shuffle; „Shadow“, gebaut nach dem Modell von Wayne Shorters „Fall“ (1968, auf Miles Davis´ „Nefertiti“), eine Variantenbildung einer süffigen Melodie aus 11 Tönen.
In „Witness“ tritt die Flötistin Elena Pinderhughes hinzu, und man muß vom Cover ablesen, dass die vermeintliche E-Piano-Begleitung nur eine vermeintliche ist, sondern auf dem Mellotron geschieht. Das hatte seine großen Zeiten im ProgRock, und klingt hier überhaupt nicht nach Streichern.
Pinderhughes bleibt noch für „Lighthouse“, einen uptempo swing der Extraklasse.
Und dann macht Wilkins das, was auch Kenny Garrett macht, er verbeugt sich vor John Coltrane, radikaler noch als Garrett: „Lift“ ist 26 Minuten lang FreeJazz, eine Hommage an den späten Coltrane.
Auch hier weiß man jazzmäßig ganz genau, wer dieses Gefäß gefüllt hat.

erstellt: 17.03.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten