INGRID LAUBROCK/ANDY MILNE Fragile ********

01. Equanimity (Laubrock), 02. Fragment, 03. Bolder Fall Ejecta, 04. Fragile, 05. Shard, 06. Ants in my Brain, 07. Unapologetically yours, 08. Illusion of Character, 09. Kintsugi, 10. Splinter

Ingrid Laubrock - ss, ts, Andy Milne - p

rec. 24.06.2021
Intakt CD 379/2022

Dieses Album markiert den dritten Teil einer Serie, in der Ingrid Laubrock auf Bitten ihres Labels sich jeweils PartnerInnen am Piano wählt.
„Kasumi“ (2019) mit Aki Takase und „Blood Moon“ (2020) mit Kris Davis lagen längs des Weges, den die deutsche, in New York lebende Saxophonistin in den letzten Jahren beschreitet.
Das lässt sich über Andy Milne nicht sagen. Vor allem wenn man an seinen glanzvollen Start bei Steve Coleman in den 90er und 2000er Jahren denkt, später auch bei Ravi Coltrane sowie bei seinen eigenen Alben bis in die Mitte der 2010er - da hörte man einen Groove-Experten, einen Funk-Spieler extraordinaire.
Von daher betrachtet könnte der Abstand zu Laubrock kaum größer sein.
Diese Betrachtung ließe aber einen Zwischenschritt aus, der den ästhetischen Abstand zu dieser Produktion doch wesentlich verringert: 2008, „Where is Pannonica?“, ein Duo-Album Milnes mit Benoît Delbecq.
Da haben wir also schon einmal das Duo-Format (wie auch 2007 mit Gregorie Maret, „Scenarios“), wichtiger aber: das Präpapieren der Piano-Saiten.
„Viel von meiner Herangehensweise an die Vorbereitungen (dieser Produktion) verdanke ich meinem lieben Freund und Kollegen Benoît Delbecq“, lässt Milne in den liner notes wissen.
cover laubrock milne 1Und die Stücke mit präpapiertem piano, wohl ein Drittel, machen einen spezifischen Charme dieses Albums aus.
Laubrock spielt meist Sopransaxophon darin, speziell in zweien („Fragment“ und „Splinter“), wo sie falsche Fingersätze verwendet, „so dass es leicht angestrengt, verstimmt und flötenartig klingt, mit kaum wahrnehmbaren Untertönen. Der Klang erinnert ein wenig an eine brasilianische Pifano – eine Bambusflöte mit einer luftigen Klangqualität“.
Insbesondere im perkussiven Piano-Teppich von „Splinter“ ist der Einfluß von Delbecq ganz nahe.
Und es verwundert eigentlich, dass die liner notes, die viel vom Üblichen solcher Zweier-Begegnungen berichten („kleinste Details in den Fokus rücken“, aber - Klischee, Klischee - „verstärkte Sichtbarkeit birgt auch Risiken“, übrigens eine deutschsprachige Volte, die es im englischen Original des Textes nicht gibt), aber den schönen Begriff außer Acht lassen, den es seit 30 Jahren dafür gibt: Folklore Imaginaire.
Genau darum handelt es sich. Wobei, besonders apart, bei 2:06 in „Fragment“, kurz ein ganz besonderes Fragment auftaucht, nämlich das Thema von Coltranes „A Love Supreme“.
Andy Milne zeigt sich als sensibler Partner, der durchaus auch die allfälligen „Avantgarde“-Duftmarken einzustreuen vermag; dissonante Akkorde in „Ants in my Brain“ (eigentümlicherweise keine wuseligen Kleinteile, wie sie der Titel nahelegt, die finden sich erst im nachfolgenden „Unapologetically yours“).
Vorher haben die beiden schon einiges an eindrucksvoller Arbeit geleistet, beispielsweise den expressiven Austausch von Trillern in „Bolder Fall Ejecta“, was auch nicht ganz alltäglich ist.
„Fragile“, ja, der Titel ist nicht ganz falsch für dieses anmutige Projekt; „filigran“ wäre besser, denn es ist präzise & stark und nirgendwo bedroht auch nur von einem Hauch des Umkippens oder gar Scheiterns.

erstellt: 30.05.22
©Michael Rüsenberg, 2022. Alle Rechte vorbehalten