NILS WOGRAM QUARTET Construction Field *********

01. Mysterious Traveller, 02. Tricky´s Food, 03. Construction Field, 04. Quiet Place, 05. Ups and Downs, 06. Brainy Bud, 07. The Wave, 08. Source of Extension, 09. Hostile Moves, 10. Native Language (alle Wogram)
Simon Nabatov - p, Henning Sieverts - b, cello, Jochen Rückert - dr, Nils Wogram - tb;
rec 2000
Altrisuoni AS 144; LC-Nr 0504
www.altrisuoni.com

NILS WOGRAM & ROOT 70 getting rooted *********

01. The yellow Hair Man, 02. Concrete View (Wogram), 03. Introducing the Ambassador (Chisholm), 04. Quality Time, 05. Changing Directions, 06. Slow Motion (Wogram), 07. Dragon Pearl Massage Music (Chisholm), 08. Wild 13, 09. Places I know, 10. My Modem´s World (Wogram)
Nils Wogram
- tb, melodica, Hayden Chisholm - as, bcl, Matt Penman - b, Jochen Rückert - dr; rec 02/03
Enja Records Horst Weber GmbH ENJA 9149 2
www.jazzrecords.com/enja

Der deutsche Jazz-Dax...gäbe es ihn, machte er Sinn, könnten wir uns mit ästhetischen Durchschnittswerten vom Kleinmut freikaufen - er wäre durch diese beiden Notierungen, kurz vor Börsenschluss 2003, auf ein lange ersehntes Hoch gesprungen.

Herzog hatte mit seiner Berliner Ruck-Rede nicht Wogram im Kopf, aber seit der gebürtige Braunschweiger in Köln (und jetzt in Zürich) antritt, geht nämlicher durch dieses Land. Bloss sendet er auf Frequenzen, auf die nicht alle Meinungsmacher eingestellt sind; sendete er beispielsweise auf dem Band eines Münchner Drei-Buchstaben-Labels - von den Münchner und Hamburger Nachrichtenmagazinen bis hinunter zu jeder Schülerzeitung hätten alle die Chance nachzuprüfen, dass hier einer im europäischen Konzert der Bates, Fresus, Sclavis etc mithalten kann: ein grosser Instrumentalist mit einem brillanten Konzept und einer ebensolchen Umsetzung.

Root 70 habe ich zum ersten Mal in einem bescheuerten Aufzug erlebt, in Frauenkleidern, nicht Travestie, sondern eher Charlies Tante. Dass männliche Brustwarzen neben Kontrabasssaiten (darf man jetzt mit 3 *S* schreiben) so was von abtörnend sind, habe ich nach ein paar Minuten übersehen - ich wurde abgelenkt durch eines jener Konzerte, die man vor lauter Spannung auf der Sitzkante verbringt. Denn was Root 70 (danach benannt, dass alle Mitglieder in den 70ern geboren sind) an strukturellen Raffinessen aufbieten, sucht seinersgleichen. Diese Hyperkomplexität wirkt gleichwohl nicht angestrengt oder überladen, weil Wogram & Co mit *amerikanischem* Druck zu Werke gehen. Wir werden nicht - wie oft in solchen Fällen - Zeugen guter Absichten, sondern guter Realisierungen.
Was Root 70 wollen, das
können sie auch.

Selbst die deutlichere Hinwendung auf diesem zweiten Album zu drum´n´bass-, ja auch Jazzrock-patterns kommt nicht im Stile von Zitaten daher, sondern als handele es sich lediglich um kurzfristig andere Formen des Groove; von den Tempowechseln ganz zu schweigen, uptempo swing, drum-soli gegen riffs, ostinati...das ganze Programm, bis die Jazzpolizei kommt! Allein den Rhythmus-Rausch dieser Produktion(en) zu dechiffrieren, braucht´s mehrere lustvolle Sitzungen.

Wogram hat noch mehr in seine *multiphonics*-Technik investiert, die Mehrtönigkeit, die ihn gleichwohl von Albert Mangesdorff abhebt. Ein Glücksfall (wenn auch mit anderen Inhalten), dass ihm (wie weiland Mangelsdorff in Heinz Sauer) in Hayden Chisholm ein gleichvirtuose Partner zur Seite steht. Ich denke, Paul Desmond würde den Sargdeckel heben, könnte er hören, wie hier Chisholm in seinem Altsax-Stile den abstrakten Blues *Introducing the Ambassador* einleitet. Hayden Chisholm ist der
Paul Desmond der Gegenwart, und der bei aller Hitze unterkühlte Charme dieser Unternehmnung als einer Art *neo cool jazz* verdankt sich wesentlich seinen Einfällen. Manchmal hauen sie richtig auf die Kacke: *My Modem´s World*; wir erleben, wie ein 28k Modem unter der Datenflut von Root 70 auseinanderfliegt.

*Construction Field* ist die ältere Produktion und hat gut drei Jahre auf eine Veröffentlichung warten müssen...kann mir einer sagen warum?
Der Albumtitel legt einen anderen Begriff zur Kennzeichnung dieser Musik nahe, es ist ein Konstruktivismus, wie ihn der deutsche Jazz nicht selten erlebt, aber nie zuvor in einer so federleichten Ausführung wie hier. Vieles, das meiste, was für Root 70 gilt, taugt auch zur Beschreibung des Wogram Quartetts. Das
Cool-Element ist vielleicht weniger ausgeprägt, die stilistischen Bestandteile tendenziell eher als Kontraste angelegt. Einmal abgesehen von der puren Selbstverständlichkeit, dass ein Pianist hier den zweiten Solisten gibt (viele ostinati aber auch mitspielt) und Sieverts gelegentlich ein Cello einsetzt.

Apropos ostinato-Figuren, die Band setzt sie mit der Kraft von Handkantenschlägen ein, vorzugsweise auch gegen- und übereinander, dass einem vor Vergnügen ganz blümerant werden kann. Hören wir uns z.B. das Titelstück an, *Construction Field*, das hat Zappa-Niveau, ohne nach Zappa zu klingen. Das Stück basiert im wesentich darauf, das Quartett in wechselnde Hälften zu teilen und miteinander zu kontrastieren. Aber, diese Ordnung gilt nur bis zum 10. oder 15. Abhören, danach sind die Ohren bereit, die Rolle von Jochen Rückert zu kapieren - Wahnsinn!

©Michael Rüsenberg, 2004, Alle Rechte vorbehalten