DAVID BINNEY Bastion of Sanity ********

1. Lester left Town (Wayne Shorter), 2. Try (Binney). 3. Plan, 4. Bastion of Sanity, 5. Last Minute, 6. Heaven (Duke Ellington), 7. Gesturecalm (Binney), 8. Right before, 9. PF

David Binney
- as, Chris Potter - ts, Jacob Sacks - p, Thomas Morgan - b, Dan Weiss - dr

rec 28.04.2004

HarmoniaMundi/Criss Cross CRISS 1261 CD

Die gemeine Jazzkritik weiss wenig von
David Binney, 43. Sein Werk, zugegeben, liegt eher verstreut vor: abgesehen von seinen Sideman-Diensten bei Uri Caine, Matthew Garrison oder Chris Potter ist vom ersten Impuls "Point Game" (1989), einem MBase-Hammer, bis zu dieser Produktion (seine nächste mit Bill Frisell und Craig Taborn ist bereits aufgenommen) ein knappes Dutzend Alben auf ein halbes Dutzend Labels verteilt. Das erleichtert den Überblick nicht gerade.
Er lohnt sich aber, er verspricht eine grosse Ernte. Denn obgleich Binney schwerlich auf einen "Stil" abonniert ist, folgt er nicht dem Vielfalts-Gebot, das streckenweise geradezu in ein -
Dogma ausgeartet ist. Binney vertritt Jazz als Jazz. Er zeigt, dass die Entwicklung dieser Musik keineswegs abgeschlossen ist, dass sie sich nicht immer mit externen Anleihen aufladen muss, um ästhetischen Wandel zu signalisieren.
Binney´s Mittel sind allesamt aus der Jazz-Tradition wohlvertraut.
Seine Vorliebe, einen Tenoristen neben sich zu dulden (hier erneut den Monster-Saxophonisten
Chris Potter, dessen Handwerk das seine übersteigt), kann man zurückdatieren bis zu den Tagen von Ornette Coleman und Dewey Redman. Seine Vorliebe für "episodische Formen" der Komposition zielt klar auf Wayne Shorter, und in der Tat hat er hier in "Plan" das Shorter-Modell "Nefertiti" abgewandelt: nichts ist improvisiert, das Ensemble folgt Note für Note der Komposition, allenfalls dem Schlagzeuger sind Variationen erlaubt. Wie bei "Nefertiti" ist das Resultat umwerfend, und man fragt sich, warum es nicht häufiger praktiziert wird.
Clou des Ganzen: David Binney klingt niemals nach Wayne Shorter. Damit ist nicht die Binse gemeint, dass er halt einen anderen Saxophontypen bedient, sondern dass er sich in seinen langen Formen anderer Mittel bedient. Seine Melodik folgt ganz anderen Linien, vor allem scheut Binney die Wiederholung nicht, wofür wir im Jazz die schönen Begriffe ostinato, lieber noch
riff oder vamp einbringen.
David Binney ist ein riff-Künstler par excellence. Manche seiner eindringlichen Wiederholungen haben was von den Hup-Motiven
Ornette Coleman´s, klingen aber denn doch wieder anders.
Last not least, David Binney hat es mit ungeraden Metren. Die sind hier eher versteckt, denn "Bastion of Sanity" ist sein jazz-nahestes Album.
Es startet mit "Lester left town" von
Wayne Shorter, eine gute-Laune-Musik, 1959 für Art Blakey geschrieben. Und dann folgt eine Strecke von Stücken, die sich aufreihen, als wären sie Teile einer grossen Suite: "Try", Jazzrock von grosser Dynamik (Achtung: heisst nichts weiter als dass laute Stellen ganz leisen folgen), die beiden Saxophonisten über einem heissen vamp. Dann "Plan", die erwähnte "Nefertiti"-Paraphase. "Bastion of Sanity", riff am Schluss, suggestives Hupmotiv der beiden Saxophone. "Last Minute" schliesst an, als wäre es die Coda! Der Energie-Level sinkt mitnichten, nun im Verein mit Jacob Sacks hupen die beiden Saxophonisten einfach weiter. Warum in die Ferne schweifen, das Gute liegt so nahe, Herrschaften, hat die Wiederholung kleiner Teile eine Wirkung! "Manchmal schreibe ich sehr komplexe Stücke, dies gehört nicht dazu" (Binney), ab dafür mit dr-solo gegen riff - noch so ein Bringer aus Dr. Binneys Zauberkiste.
Und dann das Schlussstück! "PF" sitzt im A-Teil auf einer Mischung aus
House- und drum´n´bass-patterns (alle Hand-gemacht), "den B-Teil könnte man mit verzerrten Gitarren spielen und nach Nirvana klingen lassen" (Binney). Der Bandleader nimmt später den A-Teil als Folie für ein eruptives Solo bis hinein in das shouting eines Kenny Garrett, über B pustet er sich aus. Und dann tut Jacob Sacks ein Nämliches, ein Twen wie die beiden aus der Rhythmusgruppe, mit denen Binney eineinhalb Jahre lang in der "55 Bar" in Greenwich Village gespielt hat, jeden Dienstag. Sacks setzt mit Kraft & Ökonomie Akkorde a la McCoy Tyner ein und lässt Pausen, in denen Dan Weiss das Motiv bis auf eine Cymbal-Figur zergleissen lässt.
Kurzes Schluss-Thema. Ende einer fabelhaften Produktion.
jazz as jazz. Viele werden nicht davon erfahren, insbesondere jene, die gerne mit dem Stinke-Zitat von Frank Zappa die Luft verpesten.

erstellt: 25.03.05

©Michael Rüsenberg, 2005, Nachdruck verboten