ARVE HENRIKSEN cartography ****
01. Poverty and its Opposite (Henriksen, Bang, Kleive), 02. Before and Afterlife (Sylvian, Henriksen, Bang), 03. Migration (Henriksen, Bang), 04. From Birth (Henriksen, Bang, Kleive), 05. Ouija (Henriksen, Bang, Honoré), 06. Recording Angel (Henriksen, Bang), 07. Assembly (Henriksen, Bang, Honoré), 08. Loved one (Henriksen, Bang), 09. The unremarkable Child, 10. Famine´s Ghost, Part one (Henriksen, Bang, Honoré, Brooks), 11. Part two (Henriksen, Bang, Kleive, Storløkken), 11. Thermal (Sylvian, Henriksen, Bang, Kleive, Aarset), 12. Sorrow and its Opposite (Arntsen, Skeie)
Arve Henriksen - tp, voc, field recording; Jan Bang - sampling, beats, progr; Audun Kleive - dr, perc; Helge Sunde - arr, progr; Eivind Aarset - g, Lars Danielsson - b, Stale Storløkken, Erik Honoré - synth, samples, Arnaud Mercier, Vytas Sondeckis - treatments, Trio Mediaeval, Vérene Andronikof, Anna Maria Friman, David Sylvian - voc
rec 2005 ff
ECM 2086 1780116; LC-Nr 02516
Die Entwicklung des Jazz und seiner Anverwandten ist immer auch Entwicklung & Variation von Instrumentaltechniken. ãAm Ende“ wirken diese Prozesse auf die Ästhetik des Jazz zurück, indem Protagonisten mittels neuer, ungewohnter Handgriffe Klänge ihren Instrumenten entlocken, die man vorher nicht für möglich hielt.
Der Norweger Arve Henriksen ist das jüngste Paradebeispiel in dieser langen Reihe. Und es ist ein besonders frappierendes Beispiel insoweit, als Henriksen den Ausdruck seines Instrumentes geradezu umgepolt hat: die Trompete verliert in seinen Händen und vor allem an seinen Lippen alles Schmetternde und Schneidende, sie hört geradezu auf, ein Blechblasinstrument zu sein und flüchtet sich in einen warmen, zarten Klang, dessen Schwingungsverhalten dem von Holsblasinstrumenten ähnelt oder Flöten. Als Referenz wird von ihm selbst die japanische Shakuhachi-Flöte ins Spiel gebracht.
Fürwahr, eine große Errungenschaft, denn Henriksen "ersetzt" die Shakuhachi ja nicht, er erweitert und moduliert das Ausdrucksspektrum der Trompete in die so assoziierte Richtung - das Instrument "kann" jetzt einfach mehr.
Auf drei eigenen CDs konnte man seine Kunst hinlänglich bewundern veröffentlicht auf einem norwegischen Label, hinzu kommen zahlreiche Gast-Auftritte bei den Produktionen von ECM-Künstlern. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er selbst auch eine Welt-Distribution für sich einfordern würde - vorzugsweise bei ECM.
Das klingende Resultat dieses zunächst einmal nur markttechnisch wichtigen Zuges ist freilich enttäuschend: eine beispiellos bewegungsarme, lähmende Musik, der jeder Funken Humor, den man bei diesem aufgeweckten Musiker kennt, getilgt ist.
Und doch ist das alles so gewollt und keineswegs Produkt einer Eicher-isierung, wie man sie den berühmt-berüchtigten Eingriffen des Produzenten Manfred Eicher zuschreiben könnte - die Produzenten hier sind seine Freunde: Jan Bang und Erik Honoré. Verwendet wurden Live-Mitschnitte und Studioaufnahmen seit 2005.
Aber auch unter Henriksens eigenen Prämissen, dass er nicht der Idee eines "improvisierten Jazz" anhängt (hätte niemand von ihm erwartet), dass Elektronik "seit mehr als 20 Jahren Teil dessen ist, was ich tue", und dass es hier um "Improvisation und Klangskulpturen, um Dub, Remixing und Aufmerksamkeit für Ambient-Klänge" geht, ist "Cartography" auf der ganzen Linie enttäuschend. Es versinkt in Melancholie, wirkt durchgängig wie ein Requiem (wobei nur der Schlußtrack solchermaßen intendiert ist), selten nur ereignet sich ein Beat, aber auch dem ist selten ein Tempo gegönnt, das Bewegung in diese akustische Trauerweide brächte.
So möchte man sich denn doch eine "Kartographie" der von ihm genannten Genres ungern vorstellen. Man möchte vielmehr einen Buchtitel von 1985 abwandeln (Peter Moslers "Die vielen Dinge machen arm"), um das Dilemma auf den Punkt zu bringen: die vielen Klänge machen träge. Erneut bestätigt sich - und die Aufnahmen von Nils Petter Molvaer bieten hierfür das Vorgänger-Modell -, dass der Aufwand an elektronischen Klangerzeugern und elektro-akustischen Verfremdungen umgekehrt proportional auf den Fluß der Musik sich auswirkt. Die Arterien werden verstopft, alles wird angedickt, selbst mittlere Tempi sind verpönt, das tendenziell "unendliche" klangliche Potenzial schrumpft zur Monotonie.
Was den Trompeter Henriksen freilich von seinem Landsmann deutlich abhebt, ist, dass er den Modulationsreichtum seines Instrumentes nicht zum Versiegen bringt; seine eigene Ausdruckspalette ist im Gegenteil noch gewachsen - der einzige "Lichtblick" dieser Produktion.
erstellt: 07.01.09
©Michael Rüsenberg, 2009 Alle Rechte vorbehalten