SIDSEL ENDRESEN & STIAN WESTERHUS Didymoi Dreams ********

01. Bateau (Ellington), 02. Portrait of Mahalia Jackson, 03. Portrait of Wellman Braud, 04. The Spring, 05. Art O´clock Rock, 06. Whirlpool, 07. - 11. Goutelas Suite, 12. Bue Pepper, 13. Tina, 14. Diminuendo and Crescendo in Blue, 15. Fontainebleau Forest

Sidsel Endresen - voc, Stian Westerhus - g

rec 26.05.2011
Cargo/Rune Gramofon RCD 2131

Sidsel Endresen, so mutmaßt der britische Guardian, könne die Emotionen auch solcher Hörer bewegen, „die normalerweise flüchten vor abstrakter Improvisationsmusik und experimenteller Electronica.“
Obwohl niemand einen empirischen Beleg dafür wird erbringen können, ist was dran an diesem Satz.
Was die Endresen von vielen anderen Vokalisten ihrer Zunft unterscheidet, ist ihre Sprachnähe, genauer: ihre Semantik-Nähe. In ihrem Vortrag meint man immer auch Fetzen von Sinngebung aufzuschnappen, Bruchstücke vollständiger Sätze, die sie virtuos wie niemand sonst zerhackt. Das Gurgeln, Schreien und Röcheln ist ihre Sache weniger (obwohl, sie kann es auch, wie in „Immaculate Heart“).
Nicht zuletzt, die Sprachfetzen paaren sich häufig mit Melodiefetzen. Man möchte immerfort wissen, wie es weiter geht.
Endresen WesterhusNach einem großartigen Album mit Humcrush im letzten Jahr, nach vielen norwegischen Kollegen zuvor, ist jetzt Stian Westerhus an ihrer Seite. Und das ist schlichtweg derzeit der aufregendste Gitarrist in Europa in der riesigen Schnittmenge aus Improv, soundart, Electronica und Dark Rock.
Westerhus hat Nils Petter Molvaer auf Trab gebracht, aber sein Part hier ist viel weiträumiger: der Mann hat soviel drauf, dass, wer ihn noch nie auf der Bühne erlebt hat, zweifeln wird, hier einen Gitarristen zu hören.
Und doch ist es so, Westerhus - so wollen wir uns mal aus dem Fenster lehnen - steht derzeit auch weltweit konkurrenzlos da, wenn es darum geht, von den sechs Saiten aus eine kaum sichtbare Flotte aus elektro-akustischen Manipulateuren zu befehligen, in der Fachsprache auch „Tretminen“ genannt, weil die Teilchen meist auf kleinen Flächen montiert sind und sich per Fußschalter ein- und ausschalten lassen.
Nichts gegen die, die in ihrer Improvisationskunst auf das Manuelle sich beschränken, die das zum Klingen bringen, was man auf der Bühne sieht. Aber bitte auch alles für die, die die neuzeitlichen Geräte musikalisch-dramaturgisch einzusetzen wissen. Unter diesen steht der Norweger Westerhus ganz obenan. Er gebietet über unfassbar viele Techniken, die in einem ebenso facettenreichen Musik-Drama aufgehen.
Ein Beispiel nur: wie er in „Barkis is willing“ ein wenig Gewerfeuer antippt und mehr und mehr die Technik des Tremolierens, die dahinter steht, in einer riesigen Breite entfaltet. Dazu in einer großen Dynamik, bis hinunter zu sehr leise.
Es gibt keinen Grund, dies nicht als ein sehr gelungenes Beispiel von Live-Eletronik zu verstehen.
Wie das Album mit Humcrush ist auch „Didymoi Dreams“ ein Festivalmitschnitt mit späterer Studiobearbeitung. Möglicherweise werden die - wenigen - Zuhörer bei Nattjazz in Bergen am 26.05.11 erneut überrascht sein, wenn sie dieses Album auflegen. Nicht die schlechteste Voraussetzung für ein erneutes Hörvergnügen.

erstellt: 14.08.12
©Michael Rüsenberg, 2012. Alle Rechte vorbehalten