BECKERHOFF, BERGER, ULRICH Cinema **
01. Ouagadougou (Beckerhoff, Berger Ulrich), 02. Ballroom affair, 03. Night race, 04. Aqua dolce, 05. What about..., 06. Soldier of desire, 07. Eboo, 08. Mumbai girl talk, 09. Odyssey, 10. Bye, bye gentle drama
Uli Beckerhoff - tp, flh, picc-tp, Michael Berger - p, keyb, electr, Stefan Ulrich - dr, electr
rec. ?/2011
Berthold Records; LC-Nr 27984
Welchen Zweck erfüllen eigentlich liner notes?
Früher, als man im Handel CDs - und erst recht LPs - noch in die Hand nehmen, öffnen und inspizieren konnte, da mögen sie irjenswie zur Kaufentscheidung beigetragen haben. Es gab (und gibt euch heute noch) Covertexte, die den Hörer trotz ihres eindeutig werbenden Charakters gut informieren.
Die meisten aber waren (und sich auch heute) überzogene Huldigungen von Journalisten für ihre Instrumente spielenden Freunde, Empfehlungen von prominenten Lehrern für ihre Schüler oder sonstwie missratene Versuche von Musikern, das eigene Tun mit verbalen Volten hoch zu jazzen.
Bloß, heute wo man die Verpackung erst nach dem Kauf öffnen darf, laufen diese Text völlig ins Leere. Von dem erfolgreichen Versuch, einen Tonträger zurückzugeben, weil die liner notes völlig daneben langen, hat man noch nichts gehört.
Im vorliegenden Fall möchte man genau das tun. Wie selten zuvor bezeichnet der Covertext einen gänzlich anderen Inhalt als den, der dazu erklingt.
Autor ist ein renommierter Mann, der englische Jazzhistoriker Prof. Stuart Nicholson. Derzeit schreibt er an einem neuen Essay-Band, der 2013 erscheinen soll. Man muß dem Vorgänger „Is Jazz dead?“ (2005) nicht in der Kernthese zustimmen (der Jazz habe in Europa eine neue Heimat gefunden), um den Rechercheaufwand zu wertschätzen und auch die Sprache von Nicholson zu goutieren.
Den Auftakt macht er hier in schönster Jazz-Ideologie, nämlich mit dem frommen Selbstbetrug des Genres: „Wahrscheinlich mehr als jeder andere Beruf beruht die Karriere eines Jazzmusikers auf Wandel.“ Mit dem zweiten Satz verbeugt er sich - wie zu erwarten - vor seinem Auftraggeber, und zwar mit einer Aussage, die es leicht mit jedem afrikanischen Preisgesang aufnehmen kann:
„Man muss nur einmal die Aufnahmen von Uli Beckerhoff in den Blick nehmen, um eine Vorstellung davon zu bekommen (von jenem Wandel; Anm. JNE); während seiner langen und beeindruckenden Karriere war Wandel das Leitmotif (in der englischen Adaption des deutschen Wortes mit f; Anm: JNE), welches seine (Beckerhoffs) musikalischen Perspektiven bestimmte.“
Dann beschwört Nicholson in dramatischen Worten das rapide Tempo des technologischen Wandels - sowie, dass der Jazz darauf eine Antwort finden müsse. „Aber, wie?“ Nun, die rhetorische Antwort darauf lautet: dieses Album hier, „Cinema“; es sei „offen für neue Ideen und signifikante neue Ansätze“, schlicht „unmissverständlich von heute“.
Wer zu diesem Zeitpunkt noch nix von "Cinema" gehört hat, legt jetzt schleunigst die CD auf. Die meisten anderen, die längst über einen Höreindruck verfügen, dürften an eine Verwechslung glauben. Ist hier irrtümlich ein Text über norwegische Musiker zum Abdruck gekommen, mit denen Stuart Nicholson bekanntlich vertraut ist? Meint er vielleicht Nils Petter Molvaer oder Arve Henriksen?
Ich glaube, wir müssen unserem guten Freund Stuart eine LP von Brüninghaus/Stockhausen/Studer kopieren, „Continuum“ (1984) - Beckerhoff, Berger & Ulrich sind bald 30 Jahre später keinen Ton weiter, verfolgen aber ein ähnliches Jazzrock-Konzept.
Wir könnten auch „Kino“ (1987) von Eroc und Hans Reichel obendrauf packen; hat zwar weniger mit Jazz zu tun, folgt aber thematisch einer verwandten Idee, und war technologisch seinerzeit state of the art.
Im Gegensatz zu BBU waren jene Unternehmen wirklich vom Einsatz der Technologien ihrer Zeit geprägt (vulgo: von analogem Aufwand gegenüber dem schnellen digitalen Zugriff heute).
Heute wird auf jedem Album von Heiner Goebbels mehr und künstlerisch gezielter Technologie eingesetzt, und wer nach deren geradezu virtuosen Einsatz zur Improvisation sucht, kommt an Jason Lindner (Proverb Trio) nicht vorbei.
erstellt: 25.10.12
©Michael Rüsenberg, 2012. Alle Rechte vorbehalten