NILS WOGRAM ROOT 70 Listen to your Woman *********

01. Rusty Bagpipe Boogie (Chisholm), 02. One for George (Wogram), 03. Listen to your Woman, 04. How Play Blues (Penman), 05. Homeland´s Sky (Wogram), 06. Twenty Four, 07. Hot Summer Blues, 08. Behind the Heart Beat, 09. Erectile Dysfunction (Jochen Rückert), 10. Precision (Wogram), 11. Melancholia

Nils Wogram - tb, mel, overtone-singing; Hayden Chisholm - as, mel, overtone-singing; Jochen Rückert - dr, Matt Penman - b

rec. 01/2010
Nwog Records 001; LC-Nr 12366

Läßt sich eine schönere Premiere denken?
Im Jubliäumsjahr seiner Combo (2000-2010) veröffentlicht Nils Wogram, der bis dato verstreut publiziert hat, das fünfte Album von Root 70 als erstes auf dem eigenen Label.
(Der Ausrutscher „Heaps Dub“, 2005 mit Burnt Friedman, wird hier nicht mitgezählt.)
Dass es sich nach „On 52nd and 1/4 Street“ (2007) um das zweite Album mit dem Untertitel „conceptional works“ handelt, bedarf der Erläuterung. Man könnte meinen, dieses Ensemble, dessen Konzept gut wäre für die eine oder andere Diplom-Arbeit, traue sich selbst nicht über den Weg. Nein, es gibt sich jeweils einen thematischen Rahmen, es zügelt sich selbst, um die Fantasie-Reserven nicht zu verausgaben.
Thema des letzten Albums war die Vierteltontechnik, angewandt auf einen Fundus, der so klang, als sei er aus dem Bebop überliefert.
Von dort führt eine kleine Brücke hierher, zum Thema „Blues“ dieser Produktion: track 6, „Twenty Four“, teilt den Tonraum nicht in 12, sondern in 24 Schritte, vulgo im Vierteltonabstand zueinander.
Die Hinterpfotzigkeit hat damit noch kein Ende: das Stück kommt so bieder daher, als ließe es sich umstandlos mitpfeifen, Haden Chisholm flötet sein Altsaxophon wiederum wie ein mikrotonaler Paul Desmond, man swingt fröhlich in Trio-Besetzung - und nur während der wirklich letzten 16 Takte beteiligt sich auch der Schlagzeuger an dem Spiel, Jochen Rückert.
Wie gesagt, den konzeptionellen Rahmen dieser Produktion stellt der Blues, und in mindestens 7 der 11 Stücke lassen sich Blues-Formen klar destillieren, aber schon im Titel sind sozusagen die falschen Fährten angedeutet, von denen es hier nur so wimmelt.
„Listen to your Woman“. Kein authentischer Blues-Barde würde sich eine solche Zeile genehmigen, eine solche Perspektive mag sich hier und da im afro-amerikanischen Geschlechterverhältnis hinter  den Gardinen ergeben, nach außen aber darf es allenfalls heißen: „Listen to me, baby!“
Also, Blues mag draufstehen - aber es ist meist mehr drin. Nehmen wir das Stück mit dem unverfänglichen Titel „Hot Summer Blues“. Es beginnt mit einem Duo aus multiphonics, Oberton-Spielereien von der Posaune und „mongolischem“ Gesang von Hayden Chisholm. Der Baß gibt eine Blues-Form vor, aber die beiden Bläser spielen ein ... Balkan-Thema über abgedrehten Takt-Wechseln. Im zweiten Teil ihrer abwechselnden Soli jagen sie kurzzeitig im vierfachen Tempo und kehren zurück, um das Thema in den gegenteiligen Modus zu führen, es zu dehnen.
„Behind the Heart Beat“ ist ein gemütlicher Reggae-Blues, mit gelegentlicher Melodica-Stimmführung und hand-gespielten Dub-Effekten. In „Erectile Dysfunction“ hängt der Blues-Bezug nur noch lose an den Baß-Saiten, und wir müssen den - exzellenten - liner notes von Ahmet Shabo vertrauen, dass das Ganze im 21/8-Takt abläuft. Denkbar, denn geschrieben hat es der Schlagzeuger.
Ein permanentes groove-switching dann auch in „Precision“; eine größere Abhandlung würde es erfordern zu notieren, was hier formal alles abgeht, inklusive des traditionellen tradin fours, also des Solistenwechsels alle vier Takte.
Das ist ja das Trickreiche, das Frappierende dieser Combo gerade in ihren letzten Jahren: die Jazz-Tradition ist vorhanden, sie ist Folie, sie ist Hintergrund (ganz wie man will), aber sie wird durchsiebt mit zeitgenössischen Techniken und Auffassungen.
Und das auf einem Niveau, das trans-atlantisch nur als „absolut Augenhöhe“ bezeichnet werden kann. Die Amerikaner müssten dieses Trojanische Pferd des Jazz nur einladen: es würde die Verhältnissse ganz anders zu Tanzen bringen als alle Esbjörn Svenssons zusammen!

erstellt: 17.08.10

©Michael Rüsenberg, 2010, Alle Rechte vorbehalten