SEPIASONIC sepiasonic *******

01. Sorbet (Puntin), 02. Tagelang nichts (Puntin, T: Naef), 03. Smiling at you (Insa Rudolph), 04. Nocturne  (Puntin), 05. 3rds Circle (Efert), 06. Mitternacht (Puntin, T: Naef), 07. Lost & Found, 08. Changing Places (Rohrer, T: Rudolph), 09. Beijing Boulevard (Puntin), 10. Reflections on Nita, 11. Nita (Rudolph), 12. Paris (Puntin, T: Rudolph), 13. Smiling Circus (Rudolph, Puntin), 14. Fliegen (Puntin)

Claudio Puntin - cl, bcl, cbcl, keyb, toys, Insa Rudolph - voc, toys, Samuel Rohrer - dr, electronics, Kim Efert - g, electronics, toys, Liz Hirst - bfl, fl, Daniel Agi - fl, altofl, Daniel Manrique-Smith - fl, altofl, Jörg Brinkmann - vc, electronics, Jeff Denson - b (9,12), Flavio Puntin - fl, altofl, bfl (12)

rec. (?)
Ajurnamusic AM 704/14, LC 12366


Das Ensemble empfängt Journalisten und auch die, die sich auf seiner Webseite umtun, mit diesem Satz: „Das (...) Album ist Zeugnis einer langen und konsequenten musikalischen Widmung die der Grundidee folgt, die Musik von Theorien, Stilen und Epochen loszulösen, um einzig ihre Gefühle übrig zu lassen.“
Mhm.
Der Satz von Daniel M. Feige (aus seiner „Philosophie des Jazz“, 2014), wonach „die Meinungen von Produzenten oder Rezipienten nicht prinzipiell schon eine Autorität (haben), da deren Meinungen ja auch unbegründet oder einseitig sein könnten...“, dieser Satz beweist hier seine Alltagstauglichkeit.
Wer ihn im Kopf hat, kann einen solchen Schmarrn nicht einfach überspringen. Da geben gestandene Musiker wie Claudio Puntin und Samuel Rohrer als Konzept aus, sich von musikalischen Überlegungen gelöst und nur noch „ihre“ Gefühle übrig gelassen zu haben.
Wir wollen unterstellen, dass sie damit ihre eigenen meinen und nicht auch noch der Musik Gefühle zu eigen machen wollen.
Demnach wäre also das, was wir hören, der reine Ausdruck der Gefühle der ausführenden 6 Musiker und 2 Musikerinnen des Ensembles plus Gäste - willkommen im 19. Jahrhundert!
Im Ernst, man muss die Mitglieder von sepiasonic vor ihren verbalen Turnübungen in Schutz nehmen, man muss ihre künstlerische Substanz strikt davon scheiden - denn sie ist beträchtlich.
cover-sepiasonicSchon der Auftakt, der ungemein einnimmt für dieses Projekt, wimmelt nur so vor kompositorischen und arrangier-technischen Überlungen: ein Geflecht aus Baßklarinette und Flöten (wann hat es im Jazz eine solche Ansammlung von Flöten gegeben?), nach zweieinhalb Minuten grundiert und sequenziert von einem Baß (der keiner ist, sondern vermutlich das Cello) und einer drum´n´bass-Figur des Schlagzeugs. Noch dazu im 5/4 Takt!
Was noch viel mehr verblüfft: die „britische“ Anmutung. Das Hauptostinato könnte man mühelos der Canterbury-Szene zuordnen.
Und weiter geht´s: das track 2 eröffnende Flöten-Minimalmuster könnte man bei Michael Nyman vermuten, dem sich anschließenden Rock-Gitarren-Drum-Pattern muss man erst mal auf die Schliche kommen. Es läuft über 14 Takte, wovon die ersten 10 in 8/8, die letzten vier in 7/8 ausgeführt werden.
Na gut, es gibt einen deutschen Text, eine wunderbar fließende Passage von Cello-Piccati (Jörg Brinkmann ist in großer Form) und Puntin´s Klarinette, und Insa Rudolph´s „Smiling at you“, nun in Englisch, schlingert von anfänglich „afrikanischen“ 6/8 in deren Pop-Lesart, und wieder zurück.
Aber, „Nocturne“, wenn es sich entfalttet hat, könnte man für eines der „lost tapes“ von National Health halten, insbesondere durch die Themenführung mit Flöten und weiblicher Stimme.
Obacht, das sind Assoziationen des Rezensenten, sie müssen nicht mit den Intentionen der Ausführenden identisch sein. Möglich, dass hier ein ähnlicher Fall vorliegt wie bei Kit Downes, bei dem Ältere Anklänge an National Health oder Hatfield & The North zu hören meinten - die jener aber gar nicht kannte.
Es sind Hilfen, um das Vergnügen an dieser Musik sprachlich zum Ausdruck zu bringen, das Vergnügen an ihrer Kunstfertigkeit und Leichtigkeit, wie sie selten ist für ein Ensemble aus deutschen und Schweizer Musiker.
Es fließt, fließt, fließt wie in Kim Efert´s Terzenzirkel („3rds Circle“) oder in Samuel Rohrer´s Postrock „Changing Places“.
Die Elektronik ist „verwaschen“ integriert, sie wirkt beiläufig und nicht bleischwer/bemüht wie in Puntin´s anderen Projekten dieses Jahres, Ambiq oder im Duo mit Rohrer beim Festival Schaffhausen 2014.
Ein Grund mag sein, dass dieses Projekt mit seinen klaren Referenzen zu Rock und Pop (bis hin zu TripHop) völlig anders eingenordet ist, was große Ambition und ausschweifende Improvisation ausschließt. Dazu gehört wohl auch die Einbindung der Gruppe in funktionale Kontexte, wie Hörspielmusik für Daniel Kehlmann oder Filmmusik für Kit Hung („Beijing Boulevard“ ist der Titelsong daraus).
Wenn man denn Verwandtschaften finden will (die „britischen“ Assoziationen erklären vieles ja nicht), dann in einer gewissen Entfernung Schneeweiß & Rosenrot.
Beide sind gelungene Adaptionen von Popmusik durch Jazzmusiker. Mit viel Kalkül.

erstellt: 15.08.14
©Michael Rüsenberg, 2014. Alle Rechte vorbehalten