What you have missed: An Evening with Branford Marsalis, Philharmonie Essen

Ob man mit diesem Abend wirklich was verpasst hätte?
Wir waren zu dritt in Essen. Das Votum fiel 2:(1) aus. Pro.
„(1)“ ist keineswegs als negatives Urteil zu verstehen. Es war ein guter Abend mit einer tollen Band - einer toll eingespielten Band, um genauer zu sein.
Das Branford Marsalis Quartet spielt in dieser Besetzung seit März 2009, seit Justin Faulkner den Drummerposten von Jeff „Tain“ Watts übernommen hat.
Die Band betritt die Bühne im Gestus einer Selbstgewissheit, nach dem Motto „Uns kann nichts mehr umhauen“. 

Und der Widerspruch zu diesem Eindruck stellt sich sogleich ein, wenn Branford Marsalis kleinste Bewegungen von Joey Calderazzo mit einem Lächeln quittiert. Da muss, unbemerkt von uns, etwas Neues passiert sein; etwas, was nur die beiden teilen. Wir kriegen nur die Reaktion mit, show-style.
Und Branford Marsalis ist ein Showman, manche seiner Gesten, manche seiner Einwürfe in die Soli seiner Begleiter, haben etwas von der Praxis der Nightclubs.
Was dieses Quartett grundlegend von fast allen modernen Jazz-Ensembles unterscheidet: es negiert das ewige Schisma der Gattung in einen modernen und einen vor-modernen Teil.
Branford Marsalis stammt aus New Orleans. Und der spielt auch New Orleans Jazz, er zitiert ihn nicht nur. Früh schon hört man ein Stück im two Beat-Rhythmus, später auch stride piano vom (exzellenten) Joey Calderazzo.
Das alles, so der subjektive Eindruck, vorgetragen im Gestus von betonter Selbstgewissheit, ja Selbstgefälligkeit und nicht in der Haltung, die jazzmen so lieben: „gleich könnte etwas passieren!“
Branford Marsalis Essen 1Und dann passiert auch wirklich was (oder hat man nur den Eindruck davon?)
Die Band schüttelt Metrum und Tonalität ab und spielt…Free Jazz! (wie in „Dance of the Evil Toys“ vom Bassisten Eric Revis, 2018). Man befürchtet, das gut-bürgerliche Publikum in der Philharmonie Essen (großer Frauenanteil!) ginge verloren. Aber nein, es ist genau so begeistert wie davor und danach.
Der Grund dafür ist unschwer in Justin Faulkner zu erkennen: er agiert in einer Physikalität sondergleichen, die körperliche Anstrengung und ihr künstlerischer Ertrag springen einen förmlich an. Und er lacht obendrein!
Faulkner hat ein Faible für die snare drum. Er liebt sie so sehr, dass er noch ein zweites Exemplar zur Seite hat (was er seltener anschlägt).
Bei aller Expressivität und stupendem Handwerk, sein Held ist Art Blakey. Wäre jener unsterblich und hätte sich den Entwicklungen anpassen können, er könnte als Faulkner senior duchgehen. Und so bleibt auch das Frei-Metrische von Faulkner irjenswie Daddy Blakey verhaftet.
Was das Rhythmische angeht; die Band weitet den headroom noch jedes Balladen-rubato durch mächtiges crescendo bis kurz unter die Decke - nimmt urplötzlich jedwede Dynamik raus und haucht das Thema zum Abschluss.
Das kann nur, wer große Erfahrung miteinander hat. Ob die Band aber wirklich nach neuen Erfahrungen dürstet, das lässt dieser Abend in Essen offen. Die Tür zur heute angesagen Rhythmik, den metrischen Vieldeutigkeiten zum Beispiel, die ließ sie verschlossen.

erstellt: 12.04.22
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