Brad Mehldau in Köln

Die Philharmonie Köln unter Corona-Bedingungen:
nur ein Viertel der rund tausend Plätze dürfen besetzt werden; jeder Besucher hat neben sich drei freie Plätze, die unmittelbaren Reihen davor und dahinter bleiben unbesetzt.
Die Nachfrage nach Brad Mehldau in der Philharmonie Köln überstieg die Zahl 250, also wurden zwei Veranstaltungen angesetzt (17.30 und 20 Uhr).
Partner hatten Glück, wenn sie in Rufweite platziert sich wiederfanden (der meinen wurde durch die Zufallsregie der beste Sitz im ganzen Haus zugeteilt.)
Aber, summieren sich solcherart isolierte Personen zu einem Publikum? Können so verstreute Seelen noch gemeinschaftlich hören?
Sie alle beugen sich dem philharmonischen Reglement: kein Beifall zwischen den Stücken, mag da unten auch ein renommierter Jazzpianist locken.
Und auch der kennt die Sitten des Hauses: tiefe Verbeugung vor dem Auditorium,
ein paar artige Worte im Bühnen-Deutsch, eine Agogik und Gestik am Flügel, die denen seiner klassischen Kollegen in nichts nachsteht.
Ohnehin bestätigt er kammermusikalische Erwartungen. Mehldau kündigt Stücke aus seiner Corona-bedingten „Suite April 2020“ an, die ist Schumann und Brahms häufig nahe, die linke Blues-Hand von „In the Kitchen“ taucht erst später auf.
Als die Zuhörer erkennen, dass sie jetzt dürfen, nach zwei, drei Stücken, türmt sich zu aller Überraschung eine Beifallkulisse auf, als wäre das Haus rappelvoll.
Brad Mehldau Phil

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Bestandteile von „Suite April 2020“, das muss man wohl sagen, sind für einen Pianisten dieses Ranges unterkomplex.
Der Hinweis auf den Entstehungszeitraum, die ersten Wochen des Corona-Lockdowns in den Niederlanden, schützen sie vor Kritik. Das waren halt seine Impressionen.
Dass sich in ihnen jazzmäßig wenig ereignet, wird unterstützt durch den Umstand, dass Mehldau sie alle „vom Blatt“ spielt. Das muss man sich nicht wortwörtlich vorstellen, denn mag die Musik auch am 19. Jahrhundert sich orientieren, seine eigenen Notenvorlagen liest der Künstler von einem iPad ab.
Als er das Gerät nach 35 Minuten ausschaltet und ankündigt, er habe in den vergangenen Monaten auch die Beatles studiert, kommt der Pianist Mehldau, wie ihn so viele schätzen, sehr viel deutlicher zum Vorschein.
In „I´m the Walrus“, dem Auftakt von zehn Beatles-covers, bringt er zum ersten Mal den vollen Tonumfang seines Instruments zum Klingen.
Die Auswahl ist sehr speziell.
„Your Mother should know“, „I saw her standing there“, „She said, she said“ oder auch „Maxwell Silverhammer“ (ein Stück, das die meisten der Beatles gehasst haben sollen) - Brad Mehldau dreht, wendet, knetet die Vorlagen, springt in den bekannten Mustern, verrätselt sie und landet immer wieder dort, wo die Partikel im kollektiven Gedächtnis verankert sind.
Absolut delikat, wie er in „If I needed someone“ in der linken Hand ein ostinato mitwandern lässt, das das Original selbstverständlich nicht kennt.
Höhepunkt der Schluß: „Golden Slumber“, als „Lullaby“ angekündigt, aber aufgeschaukelt bis in die hämmernden staccato Akkordketten, wie sie für Brad Mehldau, den improvisierenden Pianisten, typisch sind.
Es ist 21.22 Uhr, die im Programmheft notierte Konzertdauer ist bereits um 7 Minuten überschritten.
Brad Mehldau bedankt und verabschiedet sich formvollendet. Kehrt zurück für zwei Zugaben, einmal Beatles, einmal David Bowie („Life on Mars“).
Die Jazzpolizei wird diese beiden nie auf einer Linie sehen.

erstellt: 25.10.20
©Michael Rüsenberg, 2020. Alle Rechte vorbehalten