In der anthropologischen Scherzkiste, aus der der Bonner Philosoph Markus Gabriel gerne (und immer auch zum Entzücken seiner Zuhörer) anschauliche Belege herausfischt, befindet sich der Satz, aus jedem Taiwanesen könne problemlos auch ein guter Bad Godesberger werden.
Die geografische Variablen mögen je nach Ort des Vortrages wechseln, die Aussage aber bleibt gleich: alle Menschen bringen bei Geburt die gleichen Voraussetzungen mit; welche Musik ihnen was sagt, bestimmt der Ort der Sozialisation.
Die Mutter des britischen Jazzpianisten Elliot Galvin wird diesen Satz freudig begrüßen, hat sie doch versucht, ihren Sprößling in früher Kindheit durch Beschallen mit Repräsentanten der europäischen Avantgarde von der auch im United Kingdom vorherrschenden temperierten Stimmung abzubringen.
Nicht mit durchschlagendem, aber doch relativen Erfolg, wie man an den Galvin-Produktionen ablesen kann.
Wäre der Pianist Geog Vogel, 33, nicht in der diatonischen Heiligenstätte Salzburg, sondern in Terra X aufgewachsen, wo niemand sich darüber aufregt, dass nicht nur 12, sondern 31 Töne in die Oktave passen, so fiele ihm, wie er selbst einräumt, das Improvisieren auf dem von ihm entwickelten Clavitone (5 Oktaven á 31 Töne) leichter.
Insofern fühlt sich die Jazzpolizei entlastet und keineswegs banausig, von den Schwierigkeiten zu sprechen, durch dieses sehr spezielle Milchglas diese Art von Jazz Avantgarde (mit David Dornig (!) an der gleichfalls 31-tönigen Gitarre und Valentin Duit am gänzlich untemperierten Schlagzeug) nachzuverfolgen.
Das melodische Material und die Rhythmen sind „überkonkret formuliert“ (Vogel), auf gut Deutsch: komponiert.
Das Clavitone begleitet ihn seit vier Jahren, das Klavier seit seiner Kindheit, insoweit bestätigt er den Eindruck des Zuhörers, dass er ihn zwei sets später, am selben Tag bei den Inntönen, zusammen mit Elias Stemeseder als den eigentlichen „Virtuosen“ erlebt habe.
Die beiden Salzburger Schulfreunde (Vogel im Foto links) spielen seit 2008 zusammen, als Duo sind sie aber kaum mehr als ein Dutzend Male aufgetreten. Was sie an zwei Bösendorfer-Flügeln veranstalten - die Jazzpolizei sammelt sich zum nächsten Urteil - enthält Momente, wo sie sich sagt: ja, deshalb hören wir Musik.
Die beiden weben einen Teppich, in dem auch Details niemals verknotet werden auf Nimmer-Wiederhören; dicht und zugleich filigran, in großer Dynamik (in des Wortes ursprünglicher Bedeutung von sehr leise bis fast sehr laut). Und immer wieder Zirkulationen, ostinati.
Wer den Fluß lesen will, erkennt Wellen mit der Aufschrift „Ligeti“, „Morton Feldman“, „George Crumb“ - vieles nicht Jazz, schon gar nicht Corea & Hancock.
Vogel spricht von einem Stück als Ligeti vermischt mit Weather Report.
Mit anderen Worten, junge Instrumental-Kollegen aus der Neuen Musik, die die komponierten Teile fraglos gut umsetzen könnten, die improvisierten schon weitaus weniger, sie würden vollends scheitern an dem, was dieses Gewebe grundiert, manchmal nur gefühlt und nicht ausgeführt: ein Groove.
In der Zugabe zeigen Vogel & Stemeseder ihre Herkunft: "I´m getting sentimental over you".
In den nächsten Tagen gehen die beiden ins Studio, um dieses Repertoire tontechnisch abzusichern, dann folgt ein neues.
Die Jazzpolizei kann beides kaum erwarten.
erstellt: 05.06.22
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