Der Konzertsaal in der Alten Feuerwache Köln ist ein feines Parkett. Nur selten trägt es (wenn die Erinnerung nicht trügt) Jazz.
Und wenn, dann vorzugsweise von der Art, die aus dem Genre herausführt.
Die Jazzpolizei erinnert sich z.B. gerne an die ultra-leise Darbietung von Stefan Schöneggs Enso vor drei Jahren an diesem Ort.
Heuer stand quasi das andere Ende der Fahnenstange auf dem Programm: eine 14köpfige Auslegung des in dieser Hinsicht sehr variablen Projektes States Of Play von Sebastian Gramss, das zuletzt, im Januar 2024, in kleinem Format, im Loft Köln hoffnungsfroh dem anlaufenden Neuen Jahr auszurollen verhalf. Obendrein vom Bandleader/Komponisten/Bassisten Gramss als „stellenweise sehr laut“ angekündigt.
Er kann damit insbesondere einen Moment im letzten Drittel des 75minütigen Konzertes gemeint haben: während einer Passage, in der Johannes Schwarz auf dem Fagott (in Zirkularatmung!) brilliert, nimmt Paulo Álvares, 64, am Flügel Platz.
Die nun folgenden zehn Minuten heben den Abend auf eine dynamische Spitze, für die kein anderer Begriff greift als fortissimo.
Álvares spielt seinen forcierten Part vom Blatt. Was er sich interpretatorisch herausnimmt, u.a. Ellbogen-Cluster, stammt schon gestisch nicht aus dem Jazz, sondern von dort, wo der Kontarsky-Schüler herkommt: aus der Neuen Musik.
Álvares tritt ab. Gramss´ Partitur reicht den Donnerhall seiner Performance an die drei Elektroniker im Ensemble weiter.
Ob dies der Höhepunkt von 75 Minuten „Helix“ war?
Man könnte auch andere Momente in diesen Rang heben, beispielsweise den Kontext um eine Solokadenz von Valentin Garvie auf dem Flügelhorn. Der Mann aus Buenos Aires, der auch den hochmittelalterlichen Zink spielt, ist Gramss eng verbunden.
Subjektive Höhepunkte vielleicht, aber strukturell als solche gar nicht vorgesehen. Und hier zeigt sich der eminente exit from jazz von „Helix“.
Denn das Stück, so bringt es eine Mitwirkende später auf den alltagstauglichen Punkt, „führt zu Nichts“.
Für Jazzfans alter Schule dürfte das schwer zu verdauen sein. Sie finden zwar Rhythmen, aber keine Grooves, an swing gar nicht zu denken. Hot intonation haben mehrere Mitwirkende, weil sie nicht aus dem Jazz kommen, sowieso nicht drauf.
Sie brauchen sie auch nicht.
„Helix“ basiert auf einer Illusion, einer akustischen Illusion.
Der Bandleader zieht in seiner kurzen Begrüßung zur Erklärung eine visuelle Metapher heran, die Treppenbilder von M.C. Escher, die ein Auf und Ab bekanntlich nur vortäuschen.
Damit legt Gramss eine Hörfährte, die zunächst zu metaphorischen Unstimmigkeiten führt. Man sucht „Stufen“ in Melodik und Rhythmik - und findet sie auch. Aber sie erklären kaum den Höreindruck. Viel deutlicher drängt sich das Bild von „Wellen“ auf: permanent werden accelerandi und ritardandi angespült, crescendi und descrescendi, vor allem permanentes Auf und Ab in der Melodik.
Vielleicht hätte Gramss einen zweiten und dritten Satz aufwenden sollen, oder einfach aus seiner eMail-Einladung zitieren, darin verweist er auf die beiden Grundlagen seiner Konzeption (aus der Neuen Musik): den Risset-Rhythmus nach Jean-Claude Risset (1938-2016) und die Shepard-Skala nach Roger Shephard (1929-2022).
Für die poly-rhythmischen Schichtungen (häufig dominiert von 3er Metren) sei hier noch ein Zitat aus drummerforum herangezogen:
„Die Illusion besteht darin, dass man sich meist auf den lautesten Groove konzentriert, da die Grooves allerdings ihre Lautstärke kontinuierlich ändern, wird das menschliche Gehirn quasi ausgetrickst, und es entsteht die Illusion, dass der Groove immer schneller wird (oder langsamer).“
Gramss´ “Helix“ ist eine Premiere, ein Experiment. Das Modell von Risset, so erfahren wir am Folgetag von Gramss, sei eines, „das bisher noch nie mit ´echten Musikern“´ realisiert wurde — abgesehen von einigen einfachen, programmierten Computerversion gibt es da nichts.….“
Immer häufiger bedienen sich JazzkomponistInnen Techniken der Neuen Musik. Dass ihre Werke dadurch zu letzterer werden, wird nicht angestrebt. Mitunter sind die verwendeten Mittel (darüber feixt der frühere Rektor der Musikhochschule Köln, der Saxophonist Joachim Ullrich, gerne) auch schon 80 Jahre alt.
Gramss´ Referenzen mithin sind deutlich jünger. Obwohl er JazzmusikerInnen beteiligt (Philip Zoubek und Christian Lorenzen, keyb, Kathrin Pechlof, harp, Lotte Anker, ss/ts, Christian Ramond, b, Thomas Sauerborn, dr, Valentin Garvie, brass), ist der Einsatz von deren vorgeblich primärem Element, die Improvisation, marginal; an die 80, 90 Prozent kommen vom Blatt.
„Helix“ ist ein stilistischer Hybrid; das Räsonnieren darüber, wo es denn hingehört, zählt mit zu seinen Reizen.
Mit Hilfe der Institutionentheorie (weil in der Jazzszene diskutiert und von einem Jazzpublikum besucht) könnte man das Stück, für´s Erste, halt dem „Jazz“ zuschlagen. Es sorgt dort fraglos für Bereicherung (und seines experimentellen Charakters wegen möglicherweise auch darüber hinaus).
Das heisst nicht, dass es durchweg gelungen schien. Die instrumentale Balance war nicht immer ausgewogen: die beiden PerkussionistInnen zu laut, die beiden Bassisten unterbelichtet.
In den ersten beiden von ca. sechs Sektionen war die Jazzpolizei noch entfernt von dem Urteil, das sich schlussendlich in überzeugtem Applaus äußerte. Vielleicht auch weil sie eingangs zu sehr beschäftigt war, die Escher-Illusion abzustreifen.
erstellt: 21.09.24
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